European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130774
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 917,02 EUR (darin 152,84 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
[1] Am 24. 6. 2019 ereignete sich gegen 6:50 Uhr auf der Ellbögener Landesstraße ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Lenkerin, Halterin und Eigentümerin einesPKW Suzuki und ein Linienbus der erstbeklagten Partei, der bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversichert war, beteiligt waren. Im Unfallbereich beschreibt die dort 5,6 m breite Fahrbahn eine – aus Sicht des Busfahrers – enge Rechtskurve, in der die Fahrzeuge einander entgegen kamen. Nachdem die Klägerin zunächst angehalten hatte, entschloss sie sich, zur Einmündung eines Feldwegs zurückzufahren. Dabei bemerkte sie nicht, dass der Bus seine Fahrt fortsetzte. Durch die Rückwärtsfahrt kam der Pkw der linken Busseite näher und streifte schließlich den vorbeifahrenden Bus. Die Klägerin hätte die Kollision vermeiden können, wenn sie stehengeblieben wäre.
[2] Am Pkw entstand ein Reparaturaufwand von 7.313,54 EUR und eine merkantile Wertminderung von 840 EUR. Die Klägerin hatte unfallkausale Nebenspesen von 50 EUR. Die Reparatur des Busses kostete netto 3.648,32 EUR.
[3] Die Klägerin begehrte den Ersatz ihres Schadens von insgesamt 8.203,54 EUR sA. Sie brachte vor, aufgrund der Engstelle sei ein Passieren beider Fahrzeuge nicht möglich gewesen. Der Unfall sei auf das Alleinverschulden des Buslenkers zurückzuführen, der an ihrem Pkw vorbeifahren habe wollen und dabei mit diesem kollidiert sei.
[4] Die beklagten Parteien bestritten das Klagebegehren dem Grunde nach, stellten die Reparaturkosten, die geltend gemachte Wertminderung und die Spesen der Höhe nach außer Streit und wendeten ein, die Klägerin habe zunächst angehalten. Obwohl für eine Weiterfahrt genügend Platz gewesen sei, habe sie sich während der Vorbeifahrt des Busses dazu entschlossen, rückwärts zu fahren, um zu einer breiteren Fahrbahnstelle zu gelangen. Dabei habe sie ihr Fahrzeug in den Bus gelenkt, sodass sie das Alleinverschulden am Unfall treffe. Sie wendeten die Instandsetzungskosten des Beklagtenfahrzeugs von netto 3.648,32 EUR und die Vorhaltekosten des eingesetzten Ersatzfahrzeugs von 652,90 EUR aufrechnungsweise ein.
[5] Das Erstgericht wies die Klage ab. Indem die Klägerin mit ihrer Rückwärtsfahrt dem links vorbeifahrenden Bus näher gekommen und nach der ersten Achse angestreift sei, habe die von ihr beabsichtigte Hilfestellung den entscheidenden Umstand für diesen Unfall gebildet.
[6] Das Berufungsgericht änderte das angefochtene Urteil dahingehend ab, dass es die Klagsforderung mit 16,66 EUR sowie die eingewendete Gegenforderung als bis zur Höhe der Klagsforderung zu Recht bestehend erkannte und das Klagebegehren daher abwies. Es sprach zunächst aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.
[7] Das Berufungsgericht war der Ansicht, dass nicht nur die Klägerin ein Verschulden treffe, weil sie ihr Fahrzeug rückwärts in Bewegung gesetzt habe, obwohl der Bus bereits im unmittelbaren Nahbereich gewesen sei. Auch den Lenker des Busses treffe ein Verschulden am Zustandekommen des Unfalls, weil er angesichts der engen Fahrbahnverhältnisse eine zu hohe Fahrgeschwindigkeit eingehalten habe. Eine Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten der Klägerin sei angemessen.
[8] Die Klägerin habe unter Hinweis auf ein vorgelegtes Gutachten fiktive Reparaturkosten samt (merkantiler) Wertminderung geltend gemacht, weshalb das Erstgericht auch einen dementsprechenden (gemeint: fiktiven) Reparaturaufwand und merkantilen Minderwert festgestellt habe. Voraussetzung für einen Zuspruch fiktiver Reparaturkosten sei allerdings, dass tatsächlich eine Reparaturabsicht bestehe. Dies habe die Klägerin aber weder behauptet noch bewiesen. Auch eine merkantile Wertminderung könne nicht zuerkannt werden, da eine solche nur nach durchgeführter Reparatur eintrete. Eine objektive Wertminderung des Klagsfahrzeugs im Sinne eines Wertvergleichs zwischen beschädigtem und unbeschädigtem Zustand habe die Klägerin nicht geltend gemacht. Ihr seien jedoch unfallkausale Nebenspesen entstanden, die im Umfang von einem Drittel zu Recht bestünden. Im Ergebnis sei die Klage abzuweisen, da auch die eingewendete Gegenforderung an tatsächlich aufgewendeten Instandsetzungskosten bis zur Höhe der Klagsforderung zu Recht bestehe.
[9] Auf Antrag der Klägerin ließ das Berufungsgericht die ordentliche Revision nachträglich zu, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob vom geschädigten Kläger die Reparaturabsicht behauptet werden müsse.
Rechtliche Beurteilung
[10] Die dagegen gerichtete Revision der Klägerin ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig. Weder in der Zulassungsbegründung noch in der Revision wird eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt:
1. Wie ein bestimmtes Klagebegehren bzw das dazu erstattete Prozessvorbringen zu verstehen ist, ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig und stellt regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar, sofern das Berufungsgericht zu einem vertretbaren Auslegungsergebnis gelangt ist (RS0042828 [T25, T27]). Auch die Auslegung der Urteilsfeststellungen im Einzelfall ist – von unvertretbaren Fehlbeurteilungen abgesehen – keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO (RS0118891 [T4, T5]).
[11] Das Berufungsgericht hat unter Hinweis auf die von der Klägerin zum Beweis ihres Anspruchs vorgelegte Reparaturkostenkalkulation des von der zweitbeklagten Partei mit der Schadensbegutachtung beauftragten (Privat-)Sachverständigen, auf die auch das Erstgericht in seinen Feststellungen zum „Reparaturaufwand“ und zur „merkantilen Wertminderung“ ausdrücklich Bezug genommen hat, sowohl das Vorbringen der Klägerin als auch die Feststellungen dahin interpretiert, dass das Klagsfahrzeug bei Schluss der Verhandlung erster Instanz noch nicht repariert gewesen und eine objektive Wertminderung im Sinne der Wertdifferenz zwischen unbeschädigtem und beschädigtem Fahrzeug weder begehrt noch festgestellt worden sei. Damit hat es den ihm zukommenden Beurteilungsspielraum nicht überschritten. Im Übrigen wird nicht einmal in der Revision behauptet, eine Reparatur sei bereits erfolgt.
[12] 2. Ein Ersatz bloß „fiktiver“ Reparaturkosten steht nicht zu (2 Ob 213/19s Rz 36; 1 Ob 105/19a). Beim Deckungskapital für eine noch nicht durchgeführte Reparatur handelt es sich im Regelfall um einen zweckgebundenen Vorschuss, für den der Empfänger verrechnungspflichtig ist; einer ausdrücklichen Bezeichnung als „Vorschuss“ bedarf es nicht (1 Ob 105/19a). Der Kläger, der „fiktive Reparaturkosten“ (genauer: einen Reparaturkostenvorschuss) geltend macht, muss nicht behaupten, dass diese Kosten die objektive Wertminderung der beschädigten Sache nicht überschreiten; es genügt die Behauptung und der Beweis, dass die Reparatur durchgeführt werden wird (2 Ob 213/19s Rz 37; RS0030106). Dann können (wie auch im Fall bereits aufgewendeter Kosten; vgl RS0030487) auch wirtschaftlich vertretbare höhere Kosten verlangt werden. Im Vorbringen des Klägers zum Reparaturkostenvorschuss ist in der Regel nicht implizit auch Vorbringen zu einer objektiven Wertminderung im Sinne der Differenz des geringeren Werts der beschädigten gegenüber jenem der unbeschädigten Sache enthalten (vgl 2 Ob 213/19s Rz 37; 8 Ob 124/05a).
[13] Die Ansicht des Berufungsgerichts, mangels Behauptung der Reparaturabsicht bestehe kein Anspruch auf Zahlung eines Reparaturkostenvorschusses und auch ein Ersatz der objektiven Wertminderung scheide aus, weil die Klägerin ihr Begehren darauf nicht gestützt habe, ist durch diese Rechtsprechung gedeckt. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die beklagten Parteien die Reparaturkosten und die geltend gemachte Wertminderung (bloß) der Höhe nach außer Streit gestellt haben, weil das Bestehen oder Nichtbestehen einer Reparaturabsicht den Grund des Ersatzanspruchs betrifft (vgl 2 Ob 213/19z Rz 33 ff).
[14] 3. Das Gericht darf allerdings eine Partei in seiner Entscheidung nicht mit seiner Rechtsansicht überraschen (RIS‑Justiz RS0037300). Das gilt auch für das Berufungsgericht (RS0037300 [T38]). In einer Verfahrensrüge wegen Verletzung der Pflichten nach § 182a ZPO hat der Rechtsmittelwerber jedoch darzulegen, dass der Verfahrensfehler erheblich ist, sich also auf das Ergebnis des Verfahrens auswirken konnte. Dazu hat er jenes Vorbringen nachzuholen, das er, über die relevante Rechtsansicht informiert, erstattet hätte (RS0120056 [T7, T8]).
[15] Die Klägerin rügt, das Berufungsgericht habe sie mit seiner Rechtsansicht, wonach fiktive Reparaturkosten nur dann zuzusprechen seien, wenn der Geschädigte seine Reparaturabsicht behaupte und beweise, überrascht. Sie verweist aber lediglich darauf, dass dieser Verfahrensmangel wesentlich sei, da es (bei Erörterung) zu einem Zuspruch der geltend gemachten Reparaturkosten und auch der merkantilen Wertminderung gekommen wäre. Dass sie eine Reparatur beabsichtigt habe und dies auch vorgebracht hätte, geht aus ihrem Revisionsvorbringen hingegen nicht hervor. Damit zeigt sie die Relevanz des von ihr behaupteten Mangels jedoch nicht auf.
[16] 4. Das der allgemeinen Fahrordnung zuwiderlaufende Rückwärtsfahren erfordert besondere Vorsicht und Rücksichtnahme auf den übrigen Verkehr (RS0073932; RS0073929). Ein Verstoß gegen § 14 StVO beim Rückwärtsfahren wurde in der Rechtsprechung als ähnlich schwerwiegend wie eine Vorrangverletzung angesehen (vgl 2 Ob 127/82 ZVR 1983/229; RS0074404).
[17] Zwar blieb der genaue Unfallhergang ungeklärt. Allerdings vermochte das Erstgericht – wenngleich disloziert – festzustellen, dass das Rückwärtsfahrmanöver der Klägerin für den Unfall entscheidend war. Hätte sie das Vorbeifahren des Busses abgewartet, wäre es nicht zur Kollision gekommen. Dem festgestellten Fehlverhalten des Buslenkers hat das Berufungsgericht ohnehin Rechnung getragen.
[18] 5. Das Ausmaß eines Mitverschuldens des Geschädigten kann wegen seiner Einzelfallbezogenheit nicht als erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO gewertet werden (RS0087606). Ob die Verschuldensteilung angemessen ist, ist eine bloße Ermessensentscheidung, bei der im Allgemeinen eine erhebliche Rechtsfrage nicht zu lösen ist (RS0087606 [T2]).
[19] Die vom Berufungsgericht als angemessen erachtete Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten der Klägerin hält sich angesichts der Umstände des konkreten Einzelfalls im Rahmen des ihm zur Verfügung stehenden Ermessensspielraums.
[20] 6. Da es somit der Lösung von Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht bedarf, ist die Revision zurückzuweisen.
[21] 7. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Die beklagten Parteien haben in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.
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