European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130408
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Die Anträge werden zurückgewiesen.
Gründe:
[1] Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (WKStA) führt(e) – soweit hier von Relevanz – zu AZ 28 St 10/19w (zuvor AZ 617 St 1/17z der Staatsanwaltschaft Wien) ein Ermittlungsverfahren gegen (ua) DI Reinhold F*, Reinhard H*, Dr. Gerlinde Ho*, DI Erwin O*, Prof. Dr. Horst S*, DI Renate W* und Dr. Stefan Z* wegen des Verbrechens des schweren Betruges nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB.
[2] Mit Beschluss vom 4. Oktober 2019, GZ 333 HR 122/17m‑527, wies das Landesgericht für Strafsachen Wien einen Einspruch der Genannten wegen Rechtsverletzung (§ 106 StPO) vom 21. Juni 2019 (ON 443) als verspätet zurück. Die Einspruchswerber hatten darin eine Verletzung in ihren Rechten auf „rechtliches Gehör“ und ein „faires Verfahren“ releviert, die sie in mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Wien vom 21. November 2018 und (in Entsprechung einer Weisung der Oberstaatsanwaltschaft Wien [ON 372]) vom 21. Dezember 2018 erfolgten Entnahmen von Aktenstücken aus den Ermittlungsakten und deren Rückstellung an das Bundesministerium für Landesverteidigung (BMLV) erblickten.
[3] Das Oberlandesgericht Wien als Rechtsmittelgericht gab der dagegen gerichteten Beschwerde (ON 532) mit Beschluss vom 11. März 2020, AZ 20 Bs 329/19g, nicht Folge. Das Beschwerdegericht schloss sich ausdrücklich den Erwägungen des Erstgerichts an (BS 3 ff), wonach der gegen die Entnahme von Dokumenten aus dem Ermittlungsakt gerichtete Einspruch zwei konkrete Zeitpunkte anspreche, zu denen die behaupteten Rechtsverletzungen gesetzt worden seien. Nur in den Entnahmen von Aktenteilen könne eine allfällige Rechtsverletzung erblickt werden, nicht jedoch in einer späteren – mit Blick auf den verbliebenen Akteninhalt vollständigen – Gewährung der Akteneinsicht. Von den Entnahmen hätten die Rechtsmittelwerber durch Akteneinsicht am 10. Jänner 2019 Kenntnis erlangt, sodass die Einspruchsfrist bereits am 21. Februar 2019 geendet habe.
[4] Gegen die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 4. Oktober 2019, GZ 333 HR 122/17m‑527, und des Oberlandesgerichts Wien vom 11. März 2020, AZ 20 Bs 329/19g, richten sich die – nicht auf ein Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gestützten – (gemeinsam ausgeführten) Anträge der genannten Beschuldigten auf Erneuerung des Strafverfahrens, mit welchen diese eine Verletzung von Art 6 Abs 3 MRK geltend machen.
Rechtliche Beurteilung
[5] Für einen – wie hier – nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag (RIS‑Justiz RS0122228), bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und Art 35 MRK sinngemäß (RIS‑Justiz RS0122737, RS0128394).
[6] Diesem Erfordernis wird entsprochen, wenn von allen zugänglichen (effektiven) Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und darüber hinaus die geltend gemachte Konventionsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (horizontale Erschöpfung; vgl RIS‑Justiz RS0122737 [T13]), soll doch dem Staat materiell Gelegenheit gegeben werden, die behauptete Rechtsverletzung zu verhindern oder zu beseitigen (Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 13 Rz 28 ff, 36 ff; Reindl-Krauskopf, WK-StPO § 363a Rz 31 ff). Wenn ein Rechtsbehelf daher nur deshalb erfolglos war, weil er nicht in der vorgeschriebenen Form eingelegt wurde, Fristversäumungen vorlagen oder andere formelle Voraussetzungen unbeachtet blieben, sind die Bedingungen des Art 35 Abs 1 MRK nicht erfüllt, sofern nicht Verfahrensvorschriften in missbräuchlicher Weise zum Nachteil des Rechtsmittelwerbers angewendet wurden (Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 13 Rz 38; Frowein/Peukert, EMRK3 Art 35 Rz 22 mwN; 14 Os 110/15f mwN).
[7] Da Erneuerungsanträge gegen Entscheidungen, die der Erneuerungswerber im Instanzenzug anfechten kann, unzulässig sind, sind die (ausdrücklich auch) gegen den erstinstanzlichen Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 4. Oktober 2019 gerichteten Anträge schon deshalb zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0122737 [T40, T41], RS0124739 [T2]).
[8] Den oben dargestellten Erfordernissen wird aber auch das gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien gerichtete Vorbringen nicht gerecht.
[9] Gemäß § 106 Abs 1 StPO steht jeder Person, die behauptet, in einem Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft in einem subjektiven Recht verletzt worden zu sein, weil ihr die Ausübung eines Rechts nach diesem Gesetz verweigert (Z 1) oder eine Ermittlungs- oder Zwangsmaßnahme unter Verletzung von Bestimmungen dieses Gesetzes angeordnet oder durchgeführt (Z 2) wurde, der an das Gericht gerichtete Einspruch wegen Rechtsverletzung zu. Nach § 106 Abs 3 zweiter Satz StPO ist im Einspruch anzuführen, auf welche Anordnung oder welchen Vorgang er sich bezieht und auf welche Weise ihm stattzugeben sei. Gemäß Abs 3 erster Satz leg cit ist der Einspruch binnen sechs Wochen ab Kenntnis der behaupteten Rechtsverletzung bei der Staatsanwaltschaft einzubringen.
[10] Weshalb – obwohl eine Rechtsverletzung durch Entnahmen von Aktenteilen am 21. November 2018 und am 21. Dezember 2018 behauptet wird, von der die Erneuerungswerber durch Akteneinsicht am 10. Jänner 2019 Kenntnis erlangt hätten – ein rechtzeitiger Einspruch vorliegen sollte, machen die Anträge nicht deutlich.
[11] Grundsätzlich kann es nicht nur auf tatsächliche Kenntnisnahme ankommen, sondern muss die rechtliche Wertung ausschlaggebend sein, ob alle Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, um mit Grund verlangen zu können. dass der Betreffende das Faktum auch bewusst zur Kenntnis nehmen kann (vgl Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 136).
[12] Die Argumentation der Erneuerungswerber, der Einspruch habe nicht die Entnahme von Aktenbestandteilen als solches kritisiert, ist angesichts der Ausführungen im angesprochenen Schriftsatz (vgl insb ON 443 S 5, 17) nicht nachvollziehbar. Gleiches gilt für die mit Spekulationen über den Inhalt dieser Schriftstücke verbundene Behauptung, erst eine am 8. Mai 2019 (in Entsprechung von Anträgen der Erneuerungswerber) erfolgte Übermittlung von drei zunächst klassifizierten, jedoch nicht entnommenen Dokumenten habe die Einspruchsfrist ausgelöst.
[13] Im Übrigen entfaltet die Begründung für die Entnahme von Aktenbestandteilen (militärische Geheimnisse) keine Bedeutung für einen allfälligen Grundrechtseingriff durch diesen Vorgang. Dass nicht entnommene Aktenbestandteile ebenfalls diesen Kriterien entsprochen hätten, kann unter dem Gedanken des Schutzes der dadurch gerade nicht verletzten Waffengleichheit gleichermaßen dahinstehen.
[14] Die Behauptung, die Entnahme von Aktenbestandteilen habe zu „einem dauerhaft rechtswidrigen Zustand“ geführt, hat fallbezogen zutreffend bereits das Landesgericht widerlegt (BS 8). Die verfehlte Argumentation der Einspruchswerber steht überdies der Fristennorm des § 106 Abs 3 erster Satz StPO unvereinbar entgegen.
[15] Dementsprechend fehlt es zufolge Versäumung der Einspruchsfrist schon an der gebotenen vertikalen Rechtswegerschöpfung (RIS-Justiz RS0122737 [T13]).
[16] Im Übrigen hat – weil Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein (Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 13 Rz 16) – ein Erneuerungsantrag deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine (vom angerufenen Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei (RIS-Justiz RS0122737 [T17]).
[17] Auch diesem Erfordernis entsprechen die vorliegenden Erneuerungsanträge (die im Wesentlichen früheres Vorbringen teilweise wortgleich wiederholen) nicht. Indem die Antragsteller nicht nachvollziehbar darstellen, weshalb sie – unter Berücksichtigung der Gesamtheit des in Rede stehenden Strafverfahrens – durch die Rückgabe klassifizierter Dokumente in einem Ermittlungsverfahren in ihren durch Art 6 MRK garantierten Verteidigungsrechten verletzt worden sein sollen (vgl aber Peukert in Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar3, Art 6 Rz 31), legen sie die Opfereigenschaft nicht deutlich und bestimmt dar.
[18] Warum die Erneuerungswerber außer H* (zu diesem unten) ungeachtet ihrer Möglichkeiten in einem (allfälligen) Haupt- und Rechtsmittelverfahren, die Beischaffung der zurückgestellten Aktenteile und Einsicht in dieselben zu begehren, Opfer im Sinn des Art 34 MRK seien, erklären die Anträge nicht (RIS-Justiz RS0122737 [T17]; vgl 13 Os 67/16a mwN, 17 Os 19/16x; zum gegenständlichen Ermittlungsverfahren auch schon 11 Os 19/19g [11 Os 20/19d], 11 Os 66/20w).
[19] Ebenso wenig legen die Anträge dar,
worin eine Verletzung der Waffengleichheit gelegen sein könnte, zumal der Staatsanwaltschaft (deren grundsätzlich ausschließliche Stoffsammlungskompetenz das Oberlandesgericht zutreffend betont [BS 6]) die von ihr entnommenen (vgl dazu RIS-Justiz RS0128957) Unterlagen ebenfalls nicht zur (weiteren) Verfügung standen,
aus welchem Grund eine sinnvolle Verteidigung verunmöglicht worden wäre (RIS-Justiz RS0132446, RS0130263) oder
welcher nachteilige Einfluss auf den Inhalt einer strafgerichtlichen Entscheidung erfolgt sein sollte (Art 35 Abs 3 lit b MRK; Reindl-Krauskopf, WK-StPO § 363a Rz 6; vgl abermals 11 Os 66/20w mwN).
[20] Weshalb durch die behauptete Verkürzung von Rechten im Ermittlungsverfahren das reklamierte Grundrechtsziel eines zur Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage führenden fairen Verfahrens endgültig vereitelt worden wäre, lassen die Erneuerungsanträge offen (vgl aber RIS‑Justiz RS0126370 [T4]). Im Dunkeln bleibt zudem, inwiefern die besonderen Umstände des gegenständlichen Sachverhalts mit den konkreten Konstellationen der ins Treffen geführten Judikate des EGMR vergleichbar sein sollten, denen im Instanzenzug bestätigte Verurteilungen der jeweiligen Beschwerdeführer (Regner vs Tschechien, Öcalan vs Türkei), ein Enteignungsverfahren (Yvon vs Frankreich) und eine Schadenersatzklage wegen Äußerungen in Zeitungsartikeln (De Haes und Gijsels vs Belgien) zugrunde lagen.
[21] Dem Vorbringen H* schließlich ist keine Grundrechtsverletzung zu entnehmen, die seine Opfereigenschaft trotz zwischenweiliger Einstellung des Verfahrens gegen ihn perpetuierte.
[22] Die Anträge waren daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bereits nach nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen.
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