OGH 10ObS101/20f

OGH10ObS101/20f13.10.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Nicolai Wohlmuth (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei C*, vertreten durch Dr. Georg Zimmer, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, 1080 Wien, Josefstädter Straße 80, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 6. Mai 2020, GZ 12 Rs 30/20 y‑27, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E129801

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin arbeitet seit 1994 als Lehrerin und arbeitete seit 2014 an einer Volksschule im Land S*. Einmal jährlich macht das Lehrpersonal der Volksschule (insgesamt zwölf Lehrerinnen) gemeinsam einen Ausflug. Dieser wird von der Direktorin oder – in deren Auftrag – von einer Lehrkraft organisiert.

[2] Von 22. 9. 2017 bis 24. 9. 2017 sollte dieser Ausflug nach der Vorgabe der Direktorin auf eine Hütte gehen, die der Familie jener Lehrkraft der Volksschule gehört, die von der Direktorin mit der Organisation des Ausflugs betraut wurde. Bereits im Jahr zuvor fand – auch unter Teilnahme der Klägerin – der gemeinsame Ausflug des Lehrpersonals der Volksschule in diese Hütte statt. Der Zweck des Ausflugs waren die Förderung der Teamentwicklung und die Pflege der Betriebsgemeinschaft. Der Direktorin war sehr wichtig, dass alle Lehrerinnen und Lehrer am Ausflug teilnahmen. Wer sich entschuldigte, musste dies begründen. Die Direktorin bewilligte als Schulleiterin den gemeinsamen Ausflug. Beim Land wurde ein Kostenzuschuss beantragt. Das Land bewilligt auch eine Kostenrückerstattung, jedoch nur in geringer Höhe.

[3] Acht von zwölf Lehrerinnen und Lehrern nahmen am Ausflug teil. Auch die Direktorin sollte teilnehmen, musste aber aus dienstlichen Gründen kurzfristig absagen. Für den Ausflug war ein gemeinsames Programm geplant, nämlich Wandern bzw „Schwammerlsuchen“. Nach der Wanderung am 23. 9. 2017, einem Samstag, wurde gemeinsam in der Hütte gekocht und gegessen. Danach saßen die Lehrerinnen und Lehrer noch bis etwa 23:30 Uhr zusammen, ehe sie zu Bett gingen.

[4] Die Klägerin schlief in einem Schlafzimmer im ersten Stock der Hütte. Dieser war über eine schmale Holzstiege erreichbar. Gegen 2:00 Uhr früh am 24. 9. 2017 erwachte die Klägerin und verließ das Schlafzimmer. Sodann stürzte die Klägerin die Holzstiege hinunter und zog sich sehr schwere Verletzungen zu. Es steht nicht fest, aus welchem Anlass die Klägerin aufwachte und das Schlafzimmer verließ. Es steht nicht fest, dass sich der Unfall ereignete, als die Klägerin am Weg zur Toilette war. Die Klägerin war nicht alkoholisiert.

[5] Mit Bescheid vom 8. 1. 2018 lehnte die beklagte (nunmehrige) BVAEB die Anerkennung des Unfalls vom 24. 9. 2017 als Dienstunfall im Sinn des § 90 B‑KUVG sowie die Gewährung von Leistungen gemäß §§ 88 ff B‑KUVG ab. Der Ausflug sei keine versicherte betriebliche Gemeinschaftsveranstaltung gewesen. Der Unfall der Klägerin habe sich aus Anlass einer nicht versicherten eigenwirtschaftlichen Tätigkeit ereignet.

[6] Das Erstgericht gab der Klage statt. Es sprach der Klägerin für die Folgen der durch den Dienstunfall vom 24. 9. 2017 erlittenen Gesundheitsstörungen eine Versehrtenrente im Ausmaß von 100 % samt Zusatzrente ab dem 1. 4. 2018 zu. Der gemeinsame Ausflug von zwei Dritteln der Lehrerinnen und Lehrer der Volksschule sei eine betriebliche Gemeinschaftsveranstaltung gewesen. Die Klägerin sei während des Betriebsausflugs einem erhöhten, aus der dienstlichen Sphäre stammenden Risiko ausgesetzt gewesen, sodass ihre eigenwirtschaftliche Tätigkeit unter dem Schutz der Unfallversicherung stehe.

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. Es bejahte – ebenso wie das Erstgericht – das Vorliegen einer betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung. Auch während einer solchen stünden jedoch eigenwirtschaftliche Tätigkeiten nur dann unter Versicherungsschutz, wenn sie der Verrichtung lebensnotwendiger persönlicher Bedürfnisse dienten. Der Beweis dafür sei der Klägerin jedoch nicht gelungen. Die Erfüllung persönlicher Bedürfnisse anderer Art genüge für die Bejahung des Versicherungsschutzes nicht.

[8] In ihrer außerordentlichen Revision zeigt die Klägerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf:

Rechtliche Beurteilung

[9] Ein Arbeitsunfall liegt gemäß § 175 Abs 1 ASVG dann vor, wenn sich der Unfall im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignet hat (RIS‑Justiz RS0084229 [T1]). Die Beurteilung einer sachlichen Verknüpfung zwischen einem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Sie stellt nur dann eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung dar, wenn eine zu korrigierende Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts vorliegt, was hier nicht der Fall ist.

[10] Diese Grundsätze gelten auch für einen Arbeitsunfall, der sich im Zuge einer betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung ereignet. Betriebliche Gemeinschaftsveranstaltungen können grundsätzlich unter Versicherungsschutz stehen (RS0084560). Bei einer betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung muss es sich nach der Rechtsprechung um eine vom Dienstgeber organisierte und finanzierte Veranstaltung handeln, sie muss allen oder zumindest Gruppen von Betriebsangehörigen offen stehen und sie muss dem Zweck der Förderung der Verbundenheit mit dem Unternehmen bzw der Dienstnehmer untereinander dienen (RS0084544; RS0084632). Der Versicherungsschutz bei betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltungen wurzelt im betrieblichen Interesse an der Pflege der Verbundenheit zwischen dem Dienstgeber und der Dienstnehmerschaft des Unternehmens (10 ObS 151/15a SSV‑NF 30/20). Betriebliche Gemeinschaftsveranstaltungen mögen zwar im Allgemeinen nicht länger als einen Tag dauern (R. Müller in SV‑Komm [222. Lfg] § 175 ASVG Rz 62), sie können im Einzelfall jedoch auch länger als einen Tag dauern und grundsätzlich– wie hier – auch an arbeitsfreien Tagen stattfinden (10 ObS 54/12g SSV‑NF 26/35).

[11] Eine nähere Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Ausflug, an dem die Klägerin zum Unfallszeitpunkt teilnahm, (noch) als betriebliche Gemeinschaftsveranstaltung anzusehen war, kann im vorliegenden Fall unterbleiben, weil das Berufungsgericht in vertretbarer Weise das Vorliegen eines Dienstunfalls im konkreten Fall verneint hat.

[12] Denn auch bei einer betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung besteht der Unfallversicherungsschutz nicht in jedem Fall durchgehend vom Beginn bis zum Ende der Veranstaltung, sondern erstreckt sich nur auf Tätigkeiten, die mit dieser unmittelbar zusammenhängen und nur insoweit, als die Teilnahme an ihr ein Ausfluss der Ausübung der Erwerbstätigkeit ist (10 ObS 2123/96w mwH; R. Müller in SV‑Komm § 175 Rz 69). Auch unter der Annahme, dass sich der Unfall der Klägerin während einer geschützten betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung ereignet hätte, war er Folge einer in der Privatsphäre der Klägerin wurzelnden Kausalkette, sodass kein Versicherungsschutz besteht (R. Müller in SV‑Komm [222. Lfg] Vor §§ 174–177 Rz 23 und 43). Denn die Ursache des Unfalls lag in einem Verhalten der Klägerin, das mit dem gemeinsamen Ausflug der Lehrerinnen und Lehrer in keinem Zusammenhang stand.

[13] In ihrer außerordentlichen Revision führt die Klägerin aus, dass bereits das „Nehmen der Schlafstatt“, der Gang zur Toilette und das Bedürfnis, frische Luft infolge eines Schwindelgefühls „zu schnappen“, lebenswichtige Bedürfnisse darstellten, die infolge der außergewöhnlichen Gegebenheiten in der Hütte – insbesondere der Steilheit der schmalen Treppe, an deren oberen Ende sich ein Balken befunden habe, unter dem man sich bücken hätte müssen – unter dem Schutz der Unfallversicherung stünden.

[14] Vergleichbar zur Rechtsprechung zu Dienstreisen kann auch bei einer mehrtägigen betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung die Verrichtung eines lebensnotwendigen Bedürfnisses unter den besonderen Umständen der Übernachtung an einem fremden Ort allenfalls unter dem Schutz der Unfallversicherung stehen (so für Dienstreisen RS0084588). Abgesehen davon, dass auch das Schlafen grundsätzlich dem überwiegend persönlichen, unversicherten Lebensbereich angehört (mit Ausschluss des hier gar nicht behaupteten Falls, dass es auf eine große Anstrengung durch vorausgegangene Arbeit oder sonstige betriebliche Gründe zurückgegangen ist: RS0084355), hat die Klägerin keinen Unfall im Zusammenhang mit dem von ihr geltend gemachten „Nehmen der Schlafstatt“ erlitten, sondern erst, nachdem sie diese verlassen hatte. Weiters hat die Klägerin ihr zunächst erstattetes Vorbringen, dass sie nach dem Erwachen die Toilette aufsuchen wollte, ausdrücklich nicht aufrecht erhalten (ON 6), sodass auf ihre diesbezüglich nun wieder gegenteiligen Ausführungen in der Revision nicht Bedacht genommen werden darf. Dass die Klägerin „frische Luft“ schnappen wollte, weil ihr schwindlig geworden sei, steht ebenfalls nicht fest.

[15] Die Beweispflicht der Klägerin umfasst nach den allgemeinen Regeln über die Beweislast auch den ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Tätigkeit. Diese Feststellung fällt in den Tatsachenbereich (10 ObS 281/97i SSV‑NF 11/123). Wie es zum Sturz der Klägerin über die Treppe kam, steht hier nicht fest. Mit ihren Ausführungen, dass der Versicherungsschutz aufgrund der von ihr erlittenen besonders schweren Verletzungen und der Bewusstlosigkeit bejaht werden müsse, macht die Klägerin eine Beweislasterleichterung geltend.

[16] Zwar ist die Frage, ob in einem konkreten Fall ein Tatbestand vorliegt, der nach den Regeln des Anscheinsbeweises eine Verschiebung des Beweisthemas und der Beweislast zulässt, eine revisible Rechtsfrage (RS0022624; RS0022549). Der Lösung dieser Frage kommt allerdings im Hinblick auf die Vielzahl denkbarer Fälle und die jeweils maßgeblichen Umstände des Einzelfalls keine erhebliche Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zu (RS0022624 [T4, T5]; RS0022549 [T3]). Die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises beruht darauf, dass bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher Ablauf und nicht ein atypischer gegeben ist (RS0040266 uva). Im vorliegenden Fall steht nicht fest, wie es zum Sturz der Klägerin über die Treppe kam. Die Klägerin übte vor dem Sturz keine Tätigkeit im Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung – hier mit der (allenfalls) unter Versicherungsschutz stehenden betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung – aus, der Anscheinsbeweis ist daher nicht zulässig (10 ObS 125/04m). Der Anscheinsbeweis darf nicht dazu dienen, Lücken der Beweisführung durch bloße Vermutungen auszufüllen (RS0040287). Einen Grundsatz, dass im Zweifel zu Gunsten des Versicherten zu entscheiden ist, gibt es nicht (RS0110571 [T4]).

[17] Die von der Revisionswerberin beantragte mündliche Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil der Oberste Gerichtshof im Revisionsverfahren nur über Rechtsfragen zu entscheiden hat. Beweisaufnahmen und Beweisergänzungen werden von der Revisionswerberin gar nicht beantragt und sind auch vor dem Obersten Gerichtshof nicht durchzuführen (RS0043689).

Stichworte