OGH 2Ob72/20g

OGH2Ob72/20g17.9.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei DI U***** G*****, vertreten durch Beck & Dörnhöfer & Partner Rechtsanwälte OG in Eisenstadt, gegen die beklagte Partei U*****, vertreten durch Dr. Robert Starzer, Rechtsanwalt in Wien, wegen 36.269,31 EUR sA und Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse 37.580,12 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 20. Februar 2020, GZ 14 R 140/19i-39, mit welchem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 30. August 2019, GZ 65 Cg 16/18b‑32, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00072.20G.0917.000

 

Spruch:

 

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird, dies mit der Maßgabe, dass beim Ausspruch über das Zurechtbestehen der Klageforderung die Bezugnahme auf das Feststellungsbegehren entfällt.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 8.131,94 EUR bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin 2.861 EUR Pauschalgebühr, 878,49 EUR Umsatzsteuer) zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Am 28. März 2017 ereignete sich in Wien ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker eines Motorrollers und der Lenker eines bei der Beklagten haftpflichtversicherten Polizeifahrzeugs beteiligt waren. Der Kläger näherte sich am rechten Fahrstreifen seiner dreispurigen Fahrbahnhälfte einer ampelgeregelten Kreuzung. „Während“ dieser Annäherung schaltete die Ampel für den rechten und mittleren Fahrstreifen auf grün, jene für den Linksabbiegestreifen blieb rot. Trotz des Grünlichts fuhren die Fahrzeuge am mittleren Fahrstreifen nicht in die Kreuzung ein; gleiches galt für eine Straßenbahn, deren Gleiskörper zwischen den Fahrbahnhälften lag. Die Straßenbahn stand am Schutzweg im Kreuzungsbereich. Der Kläger fuhr auf seinem rechten (freien) Fahrstreifen in die Kreuzung ein. Dort kollidierte er mit dem Polizeifahrzeug, das auf einer Einsatzfahrt mit Blaulicht, aber ohne Betätigung des Folgetonhorns aus der Gegenrichtung kommend trotz Rotlichts links abbog.

[2] Der Lenker des Polizeifahrzeugs hatte im Abbiegevorgang keine Sicht auf den rechten Fahrstreifen der Gegenfahrbahn, er bemerkte den Roller des Klägers erst bei der Kollision. Den Unfall hätte er durch ein Vortasten in den Kreuzungsbereich vermeiden können. Der Kläger konnte das Abbiegen des Polizeifahrzeugs wegen der am mittleren und am linken Fahrstreifen angehaltenen Fahrzeuge und wegen der Straßenbahn ebenfalls nicht erkennen. Als er das Polizeifahrzeug wahrnahm, reagierte er prompt.

[3] Der Kläger wurde bei dem Unfall schwer verletzt (Gehirnerschütterung, Bruch des rechten Schlüsselbeins, der dritten und vierten linken Rippe, des ersten rechten Mittelhandknochens und des rechten Kahnbeins, knöcherne Absprengung am rechten Hakenbein, Bruch des oberen und unteren linken Schambeinasts, Bruch der seitlichen Masse des linken Kreuzbeins, multiple Hautabschürfungen und Prellungen). Der Schlüsselbeinbruch ist nicht verheilt, eine Heilung ist auch nicht zu erwarten. Dadurch ist die Belastbarkeit der rechten Schulter herabgesetzt; es liegt eine Dauerinvalidität von 10 % des Armwerts der Gliedertaxe der AUVB vor. Der Versuch einer operativen Versorgung wäre medizinisch riskant und hätte einen unsicheren Ausgang. Der Kläger kann aufgrund seiner Verletzungen nicht mehr Sport betreiben, getraut sich nicht mehr Motorrad zu fahren und kann eine von ihm betriebene Landwirtschaft nicht mehr selbst bewirtschaften. Er litt fünf Tage schwere, zehn Tage mittelschwere und 50 Tage leichte Schmerzen; in Zukunft sind – bei einer Lebenserwartung von noch 35 Jahren – pro Jahr fünf bis sieben Tage leichte Schmerzen zu erwarten. Weitere Schäden von 269,31 EUR sind unstrittig.

[4] Der Kläger begehrt 36.269,31 EUR samt Zinsen und die Feststellung der Haftung der Beklagten für seine zukünftigen Schäden, dies begrenzt mit der Versicherungssumme. Den Lenker des Polizeifahrzeugs treffe das Alleinverschulden, weil er sich nicht versichert habe, dass ein gefahrloses Abbiegen möglich sei. Er selbst habe aufgrund des Grünlichts in die Kreuzung einfahren dürfen. Aufgrund seiner Verletzungen sei ein Schmerzengeld von 36.000 EUR angemessen, dies aufgegliedert in 25.000 EUR für die erlittenen und vorhersehbaren zukünftigen Schmerzen und 11.000 EUR für die „psychische Unbill“.

[5] Die Beklagte bestreitet Grund und Höhe des Anspruchs und wendet hilfsweise eine der Höhe nach unstrittige Gegenforderung von 11.890,92 EUR ein. Der Lenker des Polizeifahrzeugs habe beim Abbiegen das Folgetonhorn betätigt und den Gegenverkehr beachtet; der Kläger sei an einer am rechten Fahrstreifen stehenden Kolonne rechts vorbeigefahren und habe den Vorrang des für ihn wahrnehmbaren Polizeifahrzeugs missachtet. Das Schmerzengeldbegehren sei überhöht.

[6] Das Erstgericht sprach aus, dass die Klageforderung mit dem begehrten Betrag und „mit dem Feststellungsbegehren“ zu Recht bestehe, während die Gegenforderung nicht zu Recht bestehe. Auf dieser Grundlage gab es dem Zahlungs- und dem Feststellungsbegehren zur Gänze statt. Das Alleinverschulden am Unfall treffe den Lenker des Polizeifahrzeugs, weil er ohne Sicht auf den rechten Fahrstreifen der Gegenfahrbahn abgebogen und das Folgetonhorn nicht betätigt habe. Aufgrund der vom Kläger erlittenen Verletzungen sei ein Schmerzengeld von 25.000 EUR für die erlittenen Schmerzen und 11.000 EUR für das erlittene und zu erwartende psychische Unbill angemessen.

[7] Das Berufungsgericht stellte fest, dass die Klageforderung mit 7.134,65 EUR und die Gegenforderung mit 5.945,46 EUR zu Recht bestehe und verpflichtete die Beklagte daher zur Zahlung von 1.189,19 EUR samt Zinsen. Weiters stellte es fest, dass die Beklagte zur Hälfte für die zukünftigen Schäden des Klägers hafte. Die Mehrbegehren wies es jeweils ab, die ordentliche Revision ließ es mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zu.

[8] Zwar habe der Lenker des Polizeifahrzeugs gegen § 26 Abs 3 StVO verstoßen. Den Kläger treffe aber ein gleichteiliges Mitverschulden. Die Fahrzeuge am mittleren Fahrstreifen hätten trotz des schon während ihrer Annäherung an die Kreuzung aufleuchtenden Grünlichts vor der Kreuzung angehalten, zudem sei auch die Straßenbahn in der Kreuzung gestanden. Angesichts dieser verdächtigen Verkehrslage hätte auch der Kläger vor der Kreuzung anhalten müssen. Beim Schmerzengeld habe das Erstgericht zu Unrecht zwischen physischen Schmerzen und psychischer Unbill differenziert; es habe auch insofern eine Globalbemessung zu erfolgen. Angesichts von obergerichtlichen Entscheidungen zu vergleichbaren Verletzungsbildern sei ein Schmerzengeld von (ungekürzt) 14.000 EUR angemessen.

[9] In seiner außerordentliche Revision beantragt der Kläger die Wiederherstellung des Ersturteils. Er müsse sich kein Mitverschulden zurechnen lassen, weil ausgehend von den Feststellungen des Erstgerichts keine verdächtige Verkehrslage bestanden habe. Die festgestellten Schmerzperioden und die Dauerfolgen rechtfertigten das von ihm begehrte Schmerzengeld.

[10] Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, das Rechtsmittel des Klägers zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben. Die Annahme eines Mitverschuldens sei durch die Entscheidung 2 Ob 20/13z gedeckt; das Schmerzengeld habe das Berufungsgericht in nicht korrekturbedürftiger Weise bemessen.

[11] Die außerordentliche Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht die Beweislastverteilung in Bezug auf das Mitverschulden nicht ausreichend beachtet hat. Sie ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[12] 1. Das Verschulden des Lenkers des Polizeifahrzeugs ist im Revisionsverfahren nicht mehr strittig.  Ausgehend von den Feststellungen des Erstgerichts trifft den Kläger kein Mitverschulden.

[13] 1.1. Die Beweislast für Tatumstände, aus denen ein Mitverschulden des Geschädigten abgeleitet werden kann, trifft den Haftpflichtigen (RS0022560; vgl auch RS0027310); verbleibende Unklarheiten gehen zu seinen Lasten (RS0022560 [T8]); bei mehreren möglichen Verläufen ist daher der für den Geschädigten günstigste der Entscheidung zugrunde zu legen (2 Ob 116/17y).

[14] 1.2. Im vorliegenden Fall lässt sich aus den Feststellungen nicht ableiten, wie lange die Fahrzeuge am mittleren Fahrstreifen tatsächlich – für den Kläger erkennbar – trotz Grünlichts im Stillstand gewesen waren. Denn es steht nur fest, dass die Ampel „während“ der Annäherung des Klägers an die Kreuzung von Rot- auf Grünlicht schaltete. Damit ist auch denkbar, dass das Umschalten von Gelb- auf Grünlicht erst unmittelbar vor dem Einfahren in die Kreuzung erfolgte. Dann wäre aber der Umstand, dass sich die Fahrzeuge auf dem mittleren Fahrstreifen noch im Stillstand befanden, ohne weiteres dadurch zu erklären gewesen, dass auch für diese Fahrzeuge erst unmittelbar zuvor das Grünlicht aufgeleuchtet hatte. Bei der Straßenbahn steht nicht fest, dass sie – wiederum für den Kläger wahrnehmbar – angefahren wäre und dann wieder angehalten hätte. Damit konnte der Kläger in der für ihn günstigsten Variante annehmen, dass sie sich schon während der Rotphase an dieser Position befunden hatte und von dort wegen des erst unmittelbar zuvor aufgeleuchteten Grünlichts noch nicht angefahren war.

[15] 1.3. In der für den Kläger günstigsten Variante war daher die Verkehrslage für ihn nicht verdächtig. Damit fehlt eine Grundlage für die Annahme von Mitverschulden. Vielmehr entspricht diese Variante im Kern dem Sachverhalt, der der Entscheidung 2 Ob 30/93 zugrunde lag. Dort nahm der Senat zwar ebenfalls ein Mitverschulden des Klägers an, begründete dies aber ausschließlich mit einer – hier nicht vorliegenden – Reaktionsverspätung. Die in der Revisionsbeantwortung genannte Entscheidung 2 Ob 20/13z ist mit dieser Auffassung vereinbar: Denn dort stand fest, dass sich der Kläger der Ampel bereits bei Grünlicht angenähert hatte; da trotzdem alle anderen Fahrzeuge stillstanden, musste er die Verkehrslage tatsächlich als verdächtig ansehen.

[16] 2. Im konkreten Fall ist ein Schmerzengeld von 36.000 EUR angemessen.

[17] 2.1. Beim Schmerzengeld handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung um eine Globalentschädigung. Bei der Ausmessung ist das Begehren nicht in einzelne bestimmte Verletzungen oder Folgeerscheinungen zuzuordnende Teilbeträge zu zerlegen (2 Ob 218/17y; RS0031191). Eine ziffernmäßig getrennte Bemessung kommt auch bei seelischen und körperlichen Schmerzen nicht in Betracht (2 Ob 186/03x; 2 Ob 218/17y). Vielmehr ist der Gesamtkomplex der Schmerzempfindung unter Bedachtnahme auf die Dauer und Intensität der Schmerzen, die Schwere der Verletzung und das Maß der psychischen und physischen Beeinträchtigung des Gesundheitszustands zu berücksichtigen (RS0031040). Dabei sind auch Sorgen des Verletzten um spätere Komplikationen, das Bewusstsein eines Dauerschadens und die damit verbundene seelische Belastung, mögliche Beziehungsprobleme sowie entgangene und künftig entgehende Lebensfreude zu berücksichtigen (2 Ob 143/18w; RS0031054 mwN).

[18] 3. Im vorliegenden Fall rechtfertigen die Verletzungen des Klägers (Gehirnerschütterung, multiple Knochenbrüche, Abschürfungen und Prellungen), die aus diesem Grund erlittenen und noch zu erwartenden Schmerzen sowie die Dauerfolgen, die zu einer Einschränkung der Lebensführung und damit einem Verlust an Lebensfreude führen, das begehrte Schmerzengeld von 36.000 EUR (vgl 2 Ob 58/85: ebenfalls multiple Knochenbrüche mit ähnlichen Schmerzperioden und Dauerfolgen, Zuspruch [valorisiert zum Schluss der Verhandlung im vorliegenden Verfahren] 35.750 EUR).

[19] 4. Aus diesen Gründen hat die außerordentliche Revision Erfolg. Das stattgebende Urteil des Erstgerichts ist wiederherzustellen, wobei im Ausspruch über das Zurechtbestehen der Klageforderung die irrige Bezugnahme auf das Feststellungsbegehren, über das ohnehin gesondert entschieden wurde, zu entfallen hat.

[20] 5. Die Wiederherstellung des Ersturteils erfasst auch dessen Kostenentscheidung. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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