OGH 10ObS75/20g

OGH10ObS75/20g28.7.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Angela Taschek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei B*, vertreten durch Dr. Alexandra Sedelmayer‑Pammesberger, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65–67, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. April 2020, GZ 7 Rs 96/19 t‑14, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E129150

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der Kläger stammt ursprünglich aus Ägypten und war ab 13. 10. 2017 (wieder) bei der J* GmbH als Mietwagenfahrer beschäftigt. Am 16. 10. 2017 fuhr er mit dem Nachtzug um 19:23 Uhr von Wien nach Mailand, wo er gegen 9:10 Uhr am folgenden Tag ankam. Er begab sich zu einem Parkplatz, wo ein Mietwagen parkte und fuhr mit diesem zu einer Tankstelle, um ihn zu reinigen und zu betanken. In der Folge übergab er dieses Mietauto einer Kundin in einem Hotel. Im Anschluss daran begab sich der Kläger zum Hauptbahnhof Mailand. Er hatte noch kein Rückfahrticket und erkundigte sich um ca 14:00 Uhr am Hauptbahnhof nach dem nächsten Zug nach Wien. Er erhielt die Auskunft, dass der nächste direkte Zug erst um 19:00 Uhr fahre. Frühere Zugverbindungen wären mit einem Umsteigen verbunden gewesen. Dies wollte der Kläger nicht, weil er bereits die Nacht vorher im Zug verbracht hatte und sich bei einer direkten Verbindung nach Wien besser ausruhen und eventuell schlafen hätte können. Der Kläger wollte bis zur Abfahrt des Zuges um 19:00 Uhr etwas essen, weil er an diesem Tag noch nichts gegessen hatte. Er rief einen Freund an, der ihm ein Restaurant in einer Entfernung von ca 2 Kilometern vom Hauptbahnhof empfahl, weil der Besitzer des Lokals ebenfalls arabisch spreche. Der Kläger fuhr vom Hauptbahnhof mit der Straßenbahn einige Stationen dorthin, stieg aus und wurde um ca 14:30 Uhr auf einem Schutzweg von einem Auto erfasst und verletzt. Am Hauptbahnhof Mailand gibt es ausreichend Versorgungsmöglichkeiten, um Speisen zu kaufen bzw in einem Lokal zu essen. Der Kläger hatte im Jahr 2015 eine Magenbypassoperation und soll seither nur gekochte und fettarme Speisen zu sich nehmen.

Die Vorinstanzen verneinten das Vorliegen eines Arbeitsunfalls.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision des Klägers zeigt keine Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf.

Ein Arbeitsunfall liegt gemäß § 175 Abs 1 ASVG dann vor, wenn sich der Unfall im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignet hat (RS0084229 [T1]). Die Beurteilung einer sachlichen Verknüpfung zwischen einem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Sie stellt nur dann eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung dar, wenn eine zu korrigierende Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts vorliegt, was hier nicht der Fall ist.

Dienstreisen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie in unmittelbarem Dienstinteresse unternommen werden. Es ist aber durchaus möglich, dass eine Dienstreise mit privaten Interessen verknüpft wird, sodass im Einzelfall genau zu prüfen ist, ob im Zeitpunkt des Unfallgeschehens tatsächlich der ursächliche Zusammenhang mit der dienstlichen Tätigkeit gewahrt ist. Dabei ist zu beachten, dass auf einer Dienstreise der Aufenthalt in einem fremden Ort auch außerhalb der Dienstzeit nicht in demselben Maße von rein eigenwirtschaftlichen Belangen beeinflusst ist wie derjenige am Wohnort. Auch wenn nicht die gesamte Dauer einer Dienstreise oder Dienstzuteilung als Dienst aufgefasst werden kann, ist ein innerer Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis auch außerhalb der eigentlichen dienstlichen Tätigkeit im Allgemeinen eher anzuerkennen als am Wohn‑ oder Dienstort. Der Versicherungsschutz während einer Dienstreise kann sich daher auch auf solche Tätigkeiten erstrecken, die sonst dem privaten Bereich zuzuordnen sind. Der Versicherungsschutz entfällt aber jedenfalls dann, wenn sich der Reisende rein persönlichen, von der dienstlichen Tätigkeit und den Besonderheiten des auswärtigen Aufenthalts nicht mehr wesentlich beeinflussten Belangen widmet (10 ObS 151/15a SSV‑NF 30/20 mwH; RS0084819).

Die zur Befriedigung der lebensnotwendigen Bedürfnisse zählende Nahrungsaufnahme ist im Allgemeinen eine zumindest überwiegend dem privaten, unversicherten Lebensbereich zuzurechnende Tätigkeit (RS0084679). Sie steht als Maßnahme zur Erhaltung der körperlichen und geistigen dienstlichen Leistungsfähigkeit auch während einer Dienstreise in der Regel nicht unter Versicherungsschutz (RS0084963 [T2]; 10 ObS 129/09g SSV‑NF 23/82). Die Nahrungsaufnahme steht auf Dienstreisen nur dann unter Versicherungsschutz, wenn betriebliche Umstände über das normale Maß hinaus so stark sind, dass sie eine wesentliche Bedingung für die Essenseinnahme sind, wie zB besonderer Zeitdruck, Erhaltung der Fahrtüchtigkeit eines Kraftfahrers oder durstig machende Beschäftigung (zum Fall eines Kraftfahrers vgl 10 ObS 73/93 SSV‑NF 7/45; RS0084588). Es kommt also darauf an, ob betriebliche Umstände über das normale Maß hinaus so stark sind, dass sie eine wesentliche Bedingung für die Essenseinnahme sind. Unfallversicherungsschutz besteht lediglich dann, wenn besondere Umstände gegeben sind bzw die Verhaltensweise unter erhöhter Gefahr erfolgt und sich diese Gefahr realisiert (10 ObS 97/12f SSV‑NF 26/54).

Das Berufungsgericht hat diese Rechtsprechung beachtet. Der Revisionswerber hält seiner Rechtsansicht entgegen, dass der Unfall sich nicht bei der Nahrungsaufnahme, sondern am Weg zum Restaurant ereignet habe. Aufgrund der besonderen Umstände bestehe Versicherungsschutz: Er sei – was festgestellt werden hätte müssen – auf Dienstreise und nicht ortskundig gewesen. Er habe – was ebenfalls festgestellt werden hätte müssen – die italienische Sprache nicht gesprochen und müsse Diät halten.

Das Berufungsgericht ist ohnehin vom Vorliegen einer Dienstreise ausgegangen und hat darauf hingewiesen, dass die eigentliche betriebliche Tätigkeit des Klägers auf dieser – die Überstellung eines Dienstwagens – bereits abgeschlossen war und der Kläger nicht unverzüglich heimkehrte, weil er einen direkten Zug nach Wien nehmen wollte. Auch im weitesten Sinn diente der Weg des Klägers zu dem ihm empfohlenen Restaurant daher nicht mehr den eigentlichen Zwecken der Dienstreise. Darüber hinaus war der Unfall des Klägers nicht auf ortsbedingte und nicht alltägliche atypische Gefahren (zB extrem vernachlässigte Sanitärräume oder frisch gewachste oder defekte Treppen in einem Hotel) zurückzuführen, die sich von der auch sonst gegebenen Alltagsgefahr privater Verrichtungen an selbst gewählten Orten deutlich abheben würden (R. Müller in SV‑Komm [222. Lfg] § 175 ASVG Rz 56). Insbesondere stand der Kläger nicht unter einem (besonderen, betrieblich bedingten) Zeitdruck. Auch die behauptete fehlende Ortskenntnis, die fehlende Kenntnis der italienischen Sprache und die Notwendigkeit der Einhaltung einer Diät stellen keine betrieblichen Umstände dar, die eine wesentliche Bedingung für die Essenseinnahme gewesen wären. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass für den vom Kläger erlittenen Unfall kein Versicherungsschutz besteht, ist vor diesem konkreten Hintergrund nicht korrekturbedürftig.

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