OGH 5Ob41/20w

OGH5Ob41/20w29.6.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj E*, geboren am * und der mj L*, geboren am *, derzeit in Pflege und Erziehung der Eltern M*, vertreten durch Mag. Leopold Zechner, Rechtsanwalt in Bruck an der Mur, und J*, vertreten durch Dr. Peter Zach, Rechtsanwalt in Bruck an der Mur, wegen Obsorge, über die außerordentlichen Revisionsrekurse des Vaters und der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichts Leoben als Rekursgericht vom 30. Jänner 2020, GZ 2 R 20/20w‑31, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Bruck an der Mur vom 11. November 2019, GZ 1 Ps 20/19y‑25, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E128870

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Soweit sich die Revisionsrekurse gegen die Bestätigung der Abweisung des Ablehnungsantrags richten, werden sie als unzulässig zurückgewiesen.

Im Übrigen werden die Beschlüsse der Vorinstanzen aus Anlass der Revisionsrekurse aufgehoben.

Die Rechtssache wird insoweit zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

Die derzeit vier und zwei Jahre alten Minderjährigen entstammen der Ehe ihrer Eltern, die mit ihnen im März 2017 von T* in den Bezirk B* übersiedelt sind. Der Vater ist im Privatkonkurs und nicht erwerbstätig, derzeit ist ein Verfahren zur Gewährung der Invaliditätspension anhängig. Die Mutter leidet unter Epilepsie, ist aber medikamentös so gut eingestellt, dass sie ihren letzten Anfall vor gut zwei Jahren hatte. Sie geht derzeit keiner Beschäftigung nach.

Anfang 2018 wurden beim mj E* eine Sprachentwicklungsstörung und Symptome von ADHS diagnostiziert. Es kommt bei ihm zu massiven Affektausbrüchen, bei denen er sich selbst oder auch andere gefährdet. Im Kindergarten ist er schwer integrierbar, seine motorische, kognitive und sprachliche Entwicklung ist verzögert, das Beziehungsverhalten zu den Eltern ist gestört. Er benötigt Struktur und Sicherheit sowie eine spezielle Betreuung aufgrund seiner Krankheit, was hohe Anforderungen an die erzieherische Kompetenz der Betreuungspersonen stellt.

Die mj L* hat einen angeborenen Herzfehler, der zu einer verzögerten Gewichtszunahme führt. Ihr Gesundheitszustand bedarf regelmäßiger medizinischer Kontrollen und Behandlungen, unter Umständen auch einer Operation. Auch sie ist in ihrer sprachlichen und motorischen Entwicklung verzögert und zeigt kein altersadäquates Spiel- oder Bindungsverhalten. Beide Kinder befinden sich in einer bindungssensiblen Phase und brauchen daher stabile und ihnen positiv zugewandte Bezugspersonen, die auf ihre Bedürfnisse eingehen können.

Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger beantragte, den Eltern gemäß § 181 ABGB die Obsorge zur Gänze zu entziehen und diese ihm zu übertragen. Die Eltern seien mit der Betreuung der Kinder überfordert und nicht bereit Hilfe zur adäquaten Förderung und Unterstützung der Kinder anzunehmen. Beide wiesen eine unzureichende Erziehungskompetenz, inadäquate Gefahreneinschätzungen und Bagatellisierungstendenzen sowie mangelnde Einsichts- und Kooperationsbereitschaft auf. Dies habe zu massiven Entwicklungsrückständen beider Kinder geführt, ein Verbleib bei den Eltern gefährde ihr Wohl.

Beide Eltern sprachen sich gegen die Obsorgeentziehung aus und lehnten die im erstinstanzlichen Verfahren beigezogene kinderpsychologische Sachverständige als befangen ab.

Das Erstgericht wies den Ablehnungsantrag ab, entzog beiden Eltern die Obsorge für ihre Kinder und übertrug sie an den Kinder‑ und Jugenhilfeträger. Über die eingangs wiedergegebenen Feststellungen hinaus ging es insbesondere aufgrund des kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens davon aus, dass beide Eltern in mehreren Aspekten massive Defizite aufwiesen, die das Wohl der Kinder gefährden. Ihre deutlich eingeschränkte Problemwahrnehmung und Verantwortungsübernahme wirke sich nachteilig auf die Fähigkeit zur Veränderung ihres Erziehungsverhaltens aus. Beide Eltern könnten die kindlichen Signale und Bedürfnisse nach Struktur und Halt nicht adäquat und kindgerecht wahrnehmen bzw erfüllen. Beide hätten wenig konkrete Erziehungvorstellungen und wiesen impulsive, kaum reflektierte sowie im Hinblick auf die Grunderkrankung beider Kinder deren Wohl nicht entsprechende Handlungstendenzen auf. Da die Eltern der Erziehungsaufgabe nicht gewachsen seien, was bereits zu Verhaltensauffälligkeiten und einer Störung des Bindungsverhaltens beider Kinder geführt habe, sei deren Wohl massiv gefährdet. Da die Großeltern keine geeigneten Personen seien, sei die Obsorge dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger zu übertragen.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs beider Eltern nicht Folge. Eine Befangenheit der Sachverständigen sei nicht zu erkennen. Das Verfahren sei wegen der Nichteinholung von weiteren vier Sachverständigengutachten nicht mangelhaft, weil eine exakte Diagnose der Krankheiten für die Entscheidung im Obsorgeverfahren nicht erforderlich sei. Die Feststellungsrüge sei nicht gesetzesgemäß ausgeführt. In rechtlicher Sicht teilte das Rekursgericht die Rechtsauffassung des Erstgerichts. Eine wesentliche Änderung der Tatsachengrundlage aufgrund des Verfahrens sei nicht erkennbar. Eine – zu erwartende – Verbesserung des Zustands von E* durch gezielte externe Förderung oder erhöhte Vitalität der mj L* ändere nichts an der grundsätzlichen häuslichen Problematik.

Zur Ablehnung der Sachverständigen sprach das Rekursgericht aus, dass der Revisionsrekurs jedenfalls unzulässig sei, im Übrigen ließ es ihn mangels erheblicher Rechtsfragen nicht zu.

Gegen diese Entscheidung richten sich die außerordentlichen Revisionsrekurse beider Eltern mit den Anträgen, den angefochtenen Beschluss im Sinn einer Abweisung des Antrags des Kinder- und Jugendhilfeträgers abzuändern, in eventu ihn aufzuheben.

Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger hat sich am Revisonsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revisionsrekurse sind unzulässig, soweit sie die Entscheidung über die Ablehnung der Sachverständigen betreffen, im Übrigen sind sie zulässig, weil den Entscheidungen der Vorinstanzen der Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 2 AußStrG anhaftet, der in diesem Revisionsrekursverfahren – analog § 55 Abs 3 AußStrG – von Amts wegen wahrzunehmen ist. Sie sind demgemäß insoweit auch berechtigt.

1. Nach völliger einheitlicher Rechtsprechung ist § 24 Abs 2 JN so auszulegen, dass gegen die bestätigende Entscheidung der zweiten Instanz, mit der die geltend gemachten Ablehnungsgründe inhaltlich geprüft wurden, kein weiteres Rechtsmittel zulässig ist (RIS‑Justiz RS0074402). Auch in den Sachverständige betreffenden Ablehnungssachen ist der Rechtszug in § 24 Abs 2 JN abschließend geregelt (1 Ob 162/04m; 10 ObS 91/12y; RS0016522 [T13]). Diese Grundsätze gelten auch im Verfahren außer Streitsachen (RS0074402 [T16, T18]). Soweit sich die Revisionsrekurse gegen die Bestätigung der Ablehnungsentscheidung richten, waren sie daher als absolut unzulässig zurückzuweisen.

2. Die im Revisionsrekurs der Mutter behauptete Aktenwidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens wurden geprüft, sie liegen nicht vor (§ 71 Abs 3 AußStrG).

3.1. Gemäß § 181 ABGB hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Solche Verfügungen können nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB – unter anderem – vom Kinder‑ und Jugendhilfeträger beantragt werden.

3.2. Eine Parteistellung im Obsorgeverfahren kann sich losgelöst von der Antragslegitimation nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB aber auch daraus ergeben, dass die Entscheidung im Sinn des § 2 Abs 1 Z 3 AußStrG unmittelbar in die rechtlich geschützte Stellung einer Person eingreift. Eine solche Rechtsposition verschafft § 178 ABGB dem (bisher nicht obsorgeberechtigten) Elternteil, den Großeltern und den Pflegeeltern. § 178 ABGB normiert nämlich im Fall der Verhinderung eines allein obsorgeberechtigten Elternteils die Übertragung der Obsorge an einen anderen Elternteil, die Großeltern (den Großelternteil) oder die Pflegeeltern (den Pflegeelternteil). Letzteres gilt nach § 178 Abs 1 letzter Satz ABGB auch, wenn beide Elternteile betroffen sind. Eltern, Großeltern und Pflegeeltern haben nach § 178 ABGB daher Vorrang vor Dritten (RS0123509 [T1]; 1 Ob 189/18b mwN; jüngst 5 Ob 143/19v mwN). Nur wenn weder Eltern noch Großeltern oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut sind oder betraut werden können, ist eine andere geeignete Person mit der Obsorge zu betrauen (§ 204 ABGB). Die Übertragung der Obsorge an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger kann dabei nur das letzte Mittel zur Hintanhaltung einer Gefährdung des Kindeswohls sein. Das Gericht hat die Obsorge dem Kinder- und Jugendhilfeträger nur dann zu übertragen, wenn sich dafür Verwandte oder andere nahestehende oder sonst besonders geeignete Personen nicht finden (§ 209 ABGB).

3.3. Konsequenz der in § 178 ABGB normierten materiellen Rechtsposition der Eltern, Großeltern und Pflegeeltern ist deren Parteistellung im Verfahren. Soll die Obsorge daher dem bisher allein obsorgeberechtigten Elternteil entzogen und einer anderen Person übertragen werden, hat der andere Elternteil jedenfalls Parteistellung. Stellt sich heraus, dass beide Elternteile nicht imstande sind, die Obsorge zum Wohl des Kindes auszuüben, also eine dritte Person (dann aber vorrangig die Großeltern) damit betraut werden muss, kommt den Großeltern Parteistellung zu (1 Ob 189/18b; G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG2 § 2 Rz 108). Das materielle Recht schützt die Stellung letzterer also dann, wenn nicht der andere Elternteil betraut wird oder auch dieser verhindert ist (5 Ob 68/15h mwN; 5 Ob 143/19v mwN).

3.4. Im Hinblick auf die von den Vorinstanzen verneinte Eignung beider Eltern hätten die Vorinstanzen hier die Parteistellung sämtlicher Großeltern der Kinder zu berücksichtigen gehabt. Aktenkundig ist, dass alle Großeltern noch leben, der Vater hat im Rekurs gegen die erstinstanzliche Entscheidung – wenn auch in gewissem Gegensatz zu seinem Vorbringen vor dem Erstgericht – sogar ausdrücklich darauf verwiesen, eine Obsorgeübertragung auf seine Eltern oder die Eltern der Kindesmutter wäre möglich, weil weder deren Alter noch die räumliche Entfernung gegen ihre Eignung zur Übernahme der Obsorge spreche. Weder die mütterlichen noch die väterlichen Großeltern wurden aber zur Verhandlung geladen oder ihnen die Verfahrensergebnisse oder die Beschlüsse der Vorinstanzen zugestellt. Darin ist eine Verletzung des ihnen nach § 15 AußStrG zu gewährenden rechtlichen Gehörs zu erblicken (5 Ob 68/15h; 1 Ob 189/18b; 5 Ob 143/19v).

3.5. Dieser Entzug des rechtlichen Gehörs zwingt zur Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im Außerstreitverfahren zwar nur dann von Amts wegen wahrzunehmen, wenn sie Einfluss auf die Richtigkeit der Entscheidung haben konnte (RS0119971 [T7]). Gemäß § 58 Abs 1 AußStrG ist vor der Entscheidung auf Aufhebung und Zurückverweisung der Außerstreitsache in eine der Vorinstanzen also grundsätzlich zu überprüfen, ob nicht eine Bestätigung selbst aufgrund der Angaben im Rechtsmittelverfahren oder eine Abänderung ohne weitere Erhebungen möglich ist. Hier waren aber sämtliche Großelternteile zu einem Vorbringen gar nicht in der Lage, sodass die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs im Revisionsrekursverfahren zur Aufhebung führen muss (5 Ob 68/15h mwN; 1 Ob 189/18b; 5 Ob 143/19v). Eine Sanierung durch Zustellung lediglich des rekursgerichtlichen Beschlusses im Sinn eines Vorrangs der Sacherledigung (vgl RS0123128) kommt hier nicht in Betracht, weil die Gehörverletzung mit der Notwendigkeit einer Verfahrensergänzung einhergeht (5 Ob 68/15h; 1 Ob 189/18b mwN). Mit der Rechtsausführung des Erstgerichts, die Großeltern seien aufgrund ihres Alters bzw der großen räumlichen Entfernung nicht geeignet, kann nicht das Auslangen gefunden werden.

3.6. Da die Obsorgeentscheidung zukunftsbezogene Rechtsgestaltung ist, kann sie nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf aktueller und ausreichender Sachverhaltsgrundlage beruht (RS0106312). Das gemäß § 66 Abs 2 AußStrG im Revisionsrekursverfahren an sich geltende Neuerungsverbot ist daher im Obsorgeverfahren aus Gründen des Kindeswohls insofern durchbrochen als der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, auch dann berücksichtigen müsste, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind (RS0106312 [T1]). Der Vater argumentiert im Revisionsrekurs damit, die diagnostizierte Unterernährung der mj L* sei beseitigt, die Feststellungen der Vorinstanzen daher zumindest teilweise überholt, weil die Kindeseltern alle Maßnahmen ergriffen hätten, um den besonderen Bedürfnissen der mj L* erfolgreich zu entsprechen. Auch für mj E* sollen sich entscheidende Entwicklungen im Zusammenhang mit der Diagnose einer genetischen Veränderung (Mikrodeletionssyndrom) ergeben haben. Zu beiden Behauptungen legte der Vater im Revisionsrekurs auch Urkunden vor, die jeweils von Zeitpunkten nach Beschlussfassung der Vorinstanzen stammen. Auch die Mutter verweist in ihrem Revisionsrekurs auf die Notwendigkeit einer fundierten Zukunftsprognose. Da die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit der Eltern, mit den besonderen Bedürfnissen ihrer Kinder aufgrund ihrer Grunderkrankungen adäquat umzugehen, wesentliche Argumente gegen eine ausreichende Erziehungsfähigkeit waren, wird das Erstgericht nicht nur die Großeltern dem Verfahren beizuziehen, sondern auch zu diesen Behauptungen ergänzende Feststellungen zu treffen haben. Erst dann wird eine abschließende Beurteilung der Berechtigung des Obsorgeentziehungsantrags des Kinder- und Jugendhilfeträgers möglich sein.

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