OGH 1Ob189/18b

OGH1Ob189/18b21.11.2018

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj C*, geboren * 2013, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter C*, vertreten durch Mag. Egon Lechner, Rechtsanwalt in Münster, gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 24. August 2018, GZ 53 R 29/18f‑73, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Zell am Ziller vom 14. Dezember 2017, GZ 1 Ps 40/15f‑43, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E123617

 

Spruch:

Aus Anlass des Revisionsrekurses werden die Beschlüsse der Vorinstanzen über die Entziehung und Übertragung der Obsorge aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

C*, geboren * 1987 ist die Mutter von insgesamt sieben Kindern. Ihre vier ältesten (geboren im April 2008, Mai 2009, Juli 2010 und Jänner 2012) entstammen einer im Herbst 2014 geschiedenen Ehe und sind seit dem Jahr 2014 in einem SOS‑Kinderdorf untergebracht.

Am * 2013 brachte die Mutter ihren (vom vorliegenden Verfahren betroffenen) Sohn C* zur Welt, dessen Vater keinen Kontakt zu ihm pflegt. Der derzeitige Lebensgefährte der Mutter ist der Vater der beiden jüngsten Kinder (geboren 2015 und 2017). Die Mutter wohnt gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten und diesen drei Kindern sowie der mütterlichen Großmutter in einer Wohnung.

Am 3. April 2017 beantragte die zuständige Bezirkshauptmannschaft, Kinder- und Jugendhilfe (kurz: der KJHT), gemäß § 181 ABGB die Obsorge- und Erziehungsfähigkeit der Eltern zu überprüfen sowie „die Familie“ zur Annahme der ambulanten Betreuung durch eine vom KJHT als geeignet angesehene Person, im Ausmaß von mindestens zwei Kontakten pro Woche, als Unterstützung für die Familie und zur Kontrolle, ob das Kindeswohl bis zur Klärung der Obsorge- und Erziehungsfähigkeit gewährleistet sei, zu verpflichten. Weiters wurde die Erstellung eines psychologischen Gutachtens über die Mutter und ihren Lebensgefährten sowie die Großmutter, die ebenfalls Betreuungsaufgaben wahrnehme, sowie die Vornahme einer entwicklungsdiagnostischen Einschätzung der Kinder beantragt.

Die Mutter sprach sich gegen die angestrebte ambulante Betreuung aus. Sie sei sehr gut imstande, die Kinder ohne Unterstützung großzuziehen.

Mit (rechtskräftigem) Beschluss vom 10. Mai 2017 verpflichtete das Erstgericht die Mutter, eine ambulante Betreuung im Ausmaß von mindestens zwei Kontakten pro Woche als Unterstützung für die Familie und zur Kontrolle, ob das Kindeswohl bis zur Klärung der Obsorge- und Erziehungsfähigkeit gewährleistet sei, anzunehmen. Das fortgesetzte Verfahren bestand im Wesentlichen in der Einholung eines psychologischen Gutachtens über die Mutter und deren Lebensgefährten sowie die Großmutter, das auch eine entwicklungspsychologische Einschätzung der im Haushalt lebenden Kinder enthalten sollte, und dessen Erörterung in der Tagsatzung am 13. November 2017, zu der die Großmutter nicht geladen war und die Mutter unentschuldigt nicht erschien. Nach knapper Einvernahme des Lebensgefährten der Mutter und nachdem der Vater von C* einer Ladung keine Folge leistete, entzog das Erstgericht mit dem in diesem Verfahren angefochtenen Beschluss der Mutter die Obsorge (auch) für C* und übertrug sie auf den KJHT. Das psychologische Gutachten habe eindeutig ergeben, dass das Wohl der Kinder bei ihrem Verbleib bei der Mutter, ihrem Lebensgefährten und der Großmutter gefährdet sei. Es gebe kein gelinderes Mittel als die Fremdunterbringung und damit des Obsorgeentzugs. Nach den Ergebnissen des Verfahrens komme auch eine Übertragung der Obsorge an den Vater oder die Großmutter nicht in Betracht; andere geeignete Personen seien nicht bekannt.

Zum Rekurs der Mutter (und ihres Lebensgefährten) erstattete der KJHT eine Beantwortung, in der – wie auch in dessen Antrag vom 1. März 2018 – behauptet wurde, dass sich nach Ansicht des KJHT die Betreuungssituation der Kinder extrem verschlechtert habe, dass der Lebensgefährte der Mutter nicht mehr in der Lage sei, mit den Betreuern normal zu kommunizieren und dass die Kinder instrumentalisiert würden. Die Tagsatzung vom 6. März 2018 endete mit einer „Vereinbarung“ zwischen dem Lebensgefährten der Mutter (diese erschien neuerlich nicht) und dem KJHT über die möglichst reibungslose Abwicklung der mit Beschluss vom 10. Mai 2017 angeordneten Betreuung.

Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Rekursgericht dem Rekurs der Mutter nicht Folge. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil die Entscheidung von den Umständen des Einzelfalls abhänge.

Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter, der nur einen Aufhebungsantrag enthält.

Rechtliche Beurteilung

Den Entscheidungen und dem Verfahren der Vorinstanzen haftet der Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG an, der im Revisionsrekursverfahren – analog § 55 Abs 3 AußStrG – von Amts wegen wahrzunehmen ist.

1. Gemäß § 181 Abs 1 ABGB hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Das Erstgericht hat sich zur Entziehung der Obsorge und deren Übertragung an den KJHT entschieden, ohne dass ein Antrag der nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB dazu legitimierten Personen vorgelegen wäre, schritt also von Amts wegen ein.

2. Eine Parteistellung im Obsorgeverfahren kann sich auch – losgelöst von der Antragslegitimation nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB – daraus ergeben, dass die gerichtliche Entscheidung im Sinn des § 2 Abs 1 Z 3 AußStrG unmittelbar in die rechtlich geschützte Stellung einer Person eingreift. Eine solche Rechtsposition verschafft § 178 ABGB den (bisher nicht obsorgeberechtigten) Elternteilen, den Großeltern und den Pflegeeltern. § 178 ABGB normiert nämlich im Falle der Verhinderung eines allein obsorgeberechtigten Elternteils die Übertragung der Obsorge an den anderen Elternteil, die Großeltern (den Großelternteil) oder die Pflegeeltern (den Pflegeelternteil). Eltern, Großeltern und Pflegeeltern haben nach § 178 ABGB Vorrang vor Dritten (RIS‑Justiz RS0123509 [T1]). Nur wenn weder Eltern noch Großeltern oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut sind oder betraut werden können, ist eine andere geeignete Person mit der Obsorge zu betrauen (§ 204 ABGB). Die Übertragung der Obsorge an den KJHT kann dabei wiederum nur das letzte Mittel zur Hintanhaltung einer Gefährdung des Kindeswohls sein. Das Gericht hat die Obsorge dem KJHT nur dann zu übertragen, wenn sich dafür Verwandte oder andere nahestehende oder sonst besonders geeignete Personen nicht finden (§ 209 ABGB).

3. Konsequenz der in § 178 ABGB normierten materiellen Rechtsposition der Eltern, Großeltern und Pflegeeltern ist deren Parteistellung im Verfahren. Soll die Obsorge dem bisher allein obsorgeberechtigten Elternteil entzogen und einer anderen Person übertragen werden, hat der andere Elternteil jedenfalls, also unabhängig von einer Antragstellung Parteistellung. Stellt sich heraus, dass beide Elternteile nicht imstande sind, die Obsorge zum Wohl des Kindes auszuüben, also eine dritte Person (dann aber vorrangig die Großeltern) damit betraut werden müsste, kommt eine Parteienstellung der Großeltern in Betracht (6 Ob 178/06d; G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 2 Rz 108). Das materielle Recht schützt die Stellung letzterer also (erst), wenn nicht der andere Elternteil betraut wird oder auch dieser verhindert ist (5 Ob 68/15h mwN).

4. Entsprechend der dargestellten Rechtslage kommt dem leiblichen Vater von C* Parteistellung zu. Dieser wurde vom Erstgericht ua aufgefordert, binnen 14 Tagen einen Antrag auf Übertragung der Obsorge zu stellen, ansonst werde angenommen, dass er die Übertragung der Obsorge für den Fall, dass sie der Kindesmutter entzogen werden sollte, nicht anstrebt bzw darauf verzichtet. Nach dem Akteninhalt reagierte der Vater darauf nicht. Einer Ladung des Erstgerichts leistete er keine Folge. In der Ladung wurde er darauf hingewiesen, dass im Falle eines unentschuldigten Nichterscheinens angenommen werde, dass er die Obsorge nicht übernehmen wolle und einer Obsorgeübertragung auf den KJHT zustimme.

5. Mit Rücksicht auf die von den Vorinstanzen demnach offenbar angenommene Unfähigkeit bzw den Unwillen des Vaters zur Übernahme der Obsorge für seinen Sohn hätte auch die Parteistellung der hierfür in Frage kommenden mütterlichen (und im gemeinsamen Haushalt mit der Mutter, ihrem Lebensgefährten und den drei Kindern lebenden) Großmutter beachtet werden müssen. Ungeachtet dessen wurde sie in diesem Obsorgestreit nach der Aktenlage weder zur Verhandlung geladen noch wurden ihr die Verfahrensergebnisse oder die Beschlüsse der Vorinstanzen zugestellt. Darin liegt die Verletzung des ihr nach § 15 AußStrG zu gewährenden rechtlichen Gehörs (5 Ob 68/15h).

6. Angesichts des möglichen Eingriffs in ihre Rechtsposition nach § 178 ABGB käme in diesem Obsorgeverfahren unter Umständen auch noch anderen Großelternteilen (sowohl auf Seiten der Mutter als auch auf Seiten des Vaters) Parteistellung zu, sodass auch deren Gehörverletzung nicht ausgeschlossen werden kann (vgl wieder 5 Ob 68/15h).

7. Die Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs zwingt zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im außerstreitigen Verfahren zwar nur dann von Amts wegen wahrzunehmen, wenn die Gehörverletzung Einfluss auf die Richtigkeit der Entscheidung haben konnte (RIS‑Justiz RS0120213; RS0119971). Gemäß § 58 Abs 1 und 3 AußStrG ist vor der Entscheidung auf Aufhebung und Zurückverweisung der Außerstreitsache an eine Vorinstanz also grundsätzlich zu prüfen, ob nicht eine Bestätigung selbst aufgrund der Angaben im Rechtsmittelverfahren oder eine Abänderung ohne weitere Erhebungen möglich ist. Hier waren die mütterliche Großmutter und allfällige weitere Großelternteile mangels Beteiligung am bisher durchgeführten Verfahren zu einem diesbezüglichen Vorbringen aber gar nicht in der Lage. Die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs muss daher im Revisionsrekursverfahren zur Aufhebung führen (5 Ob 68/15h mwN). Eine Sanierung durch Zustellung lediglich des rekursgerichtlichen Beschlusses im Sinn des Vorrangs der Sacherledigung (vgl RIS‑Justiz RS0123128) kommt hier nicht in Betracht, weil die Gehörverletzung mit der Notwendigkeit einer Verfahrensergänzung einhergeht (5 Ob 68/15h; vgl G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 58 Rz 24). Mit den vorhandenen Feststellungen, die sich jedenfalls zur mütterlichen Großmutter nur auf (aus dem Gutachten übernommene) bloße Vermutungen beschränken, kann im Hinblick auf die aufgezeigte Subsidiarität der Betrauung des KJHT, aber auch abgesehen davon nicht das Auslangen gefunden werden.

8.1. Die Obsorgeentscheidung ist zukunftsbezogene Rechtsgestaltung und nur dann sachgerecht, wenn sie auf aktueller und ausreichender Sachverhaltsgrundlage beruht (vgl RIS‑Justiz RS0048632 [T4]). Dem werden die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen nicht gerecht. Es steht lediglich fest, dass C* „erkennbar sprachliche und soziale“ Entwicklungsverzögerungen aufwies. Worin diese (insbesondere die sozialen) Entwicklungsverzögerungen konkret bestanden haben sollen und ob diese auf Erziehungsdefizite zurückzuführen waren, ist aber unklar und auch keineswegs offenkundig, zumal sich aus dem – im angefochtenen Beschluss streckenweise wiedergegebenen – Antrag des KJHT ergibt, dass C* nach Ansicht der Leiterin des Kindergartens (bezogen auf Ende Februar 2017) einen (sprachlichen) Entwicklungsschub gemacht habe. Der angefochtene Beschluss enthält sonst keinerlei aussagekräftige Hinweise auf die Entwicklung des Kindes und die Auswirkungen der festgestellten Defizite der Mutter (ua verminderter Intelligenzquotient; eingeschränkte Diskretionsfähigkeit; fehlender Leidensdruck; Schuldbewusstsein und „Krankheitseinsicht“; fehlende Kooperationsbereitschaft mit der Kinder- und Jugendhilfe; fehlende kognitive und emotionale Ressourcen) auf diese Entwicklung.

8.2. Die Entscheidung des Erstgerichts lässt auch die notwendigen Feststellungen zur konkreten Betreuungssituation des Kindes vermissen. So bleibt unklar, ob und in welchem Umfang er derzeit außer Haus, durch die Mutter und/oder ihren Lebensgefährten bzw durch die Großmutter betreut wird. Laut dem Befund des Sachverständigen sei geplant gewesen, dass C* ab September 2017 bis 16 Uhr im Kindergarten sei. Ob dies tatsächlich verwirklicht wurde, wurde nicht festgestellt.

8.3. Einer Präzisierung bedarf die Sachverhalts-grundlage auch zur Weigerung/Behinderung der Annahme der Betreuung durch den KJHT und deren konkrete Auswirkungen auf das Kindeswohl, wurde dies doch als zentrales Argument für dessen Gefährdung herangezogen. Dazu ist auf mehrere– auch nach der erstgerichtlichen Entscheidung erstattete – Mitteilungen des KJHT zu verweisen, in denen ein– zweifellos kindeswohlgefährdendes – Verhalten des Lebensgefährten der Mutter (das diese möglicherweise toleriert) nicht nur im Zusammenhang mit der rechtskräftig angeordneten Betreuung behauptet wird. Dazu werden im fortgesetzten Verfahren entsprechende Beweise aufzunehmen und Feststellungen zu treffen sein.

8.4. Obwohl es hier um eine Änderung der Obsorge geht, fehlen die erforderlichen Feststellungen zu einer Zukunftsprognose über eine erhebliche Förderung des Kindeswohls und die zwangsläufig belastenden Auswirkungen dieser Maßnahme auf das Kindeswohl zur Gänze (RIS-Justiz RS0048632 [T2, T6, T17]); es ist auch unerörtert geblieben, wo und wie die Kinder fremduntergebracht werden sollen. In diesem Sinn ist das Verfahren ebenfalls ergänzungsbedürftig.

8.5. Zu den angesprochenen Themen, aber auch zu den konkreten Erziehungs-, Versorgungs- und/oder Betreuungsdefiziten (außerhalb allfälliger Kinderkrippenzeiten) werden daher klare und präzise Feststellungen zu treffen sein. Dabei werden wegen des Gebots des (aktuellen) Kindeswohls angesichts der seit der Befundaufnahme durch den Sachverständigen (Juni und Juli 2017) verstrichenen Zeit von fast eineinhalb Jahren die derzeitigen Umstände maßgebend sein. Die bisherige Vorgangsweise, sich im Wesentlichen mit dem eingeholten Sachverständigen-Gutachten zu begnügen, ohne auch jene Personen, die Wahrnehmungen zu konkreten Missständen und zur konkreten Lebenssituation gemacht haben, zu befragen, ist mit den Verfahrensgeboten des § 13 Abs 1 und 2 AußStrG nicht zu vereinbaren (vgl 5 Ob 63/13w; 7 Ob 170/17a).

9. Abschließend ist noch Folgendes klarzustellen: Falls das fortgesetzte Verfahren ergeben sollte, dass bei C* wegen Mängeln der Betreuung im Haushalt der Mutter (sei es durch sie selbst, ihren Lebensgefährten oder die Großmutter) erhebliche Entwicklungsdefizite oder andere Beeinträchtigungen bestehen, aber trotzdem die rechtskräftig angeordnete Betreuung und Unterstützung durch den KJHT verweigert wird, wird das Erstgericht – nach zumindestens teilweiser Aktualisierung der Entscheidungsgrundlage – auch abzuwägen haben, ob Anlass für eine vorläufige Maßnahme iSd § 107 Abs 2 AußStrG besteht.

10. Die Revisionsrekurswerberin wird auf diese Entscheidung verwiesen.

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