OGH 7Ob170/17a

OGH7Ob170/17a29.11.2017

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und durch die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen R* U*, geboren am * 2011, *, Mutter: Mag. O* S*, vertreten durch Mag. Robert Pöschl, Rechtsanwalt in Graz, Vater: M* U*, vertreten durch Stingl & Dieter Rechtsanwälte OG in Graz, weitere Verfahrenspartei: Land Steiermark als Kinder‑ und Jugendhilfeträger (Stadt Graz, Amt für Jugend und Familie, Kinder‑ und Jugendhilfe/Recht, 8010 Graz, Kaiserfeldgasse 25), wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 28. August 2017, GZ 2 R 195/17m, 2 R 196/17h‑74, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts Graz‑Ost vom 7. Juli 2017, GZ 221 Ps 9/17m‑48, und vom 13. Juli 2017, GZ 221 Ps 9/17m‑55, bestätigt wurden, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E120377

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

Die Minderjährige ist die uneheliche Tochter der Mag. O* S* und des M* U*. Die Minderjährige und ihre Mutter sind deutsche Staatsbürger. Die Obsorge kommt der Mutter alleine zu. Die Eltern haben im Jahr 2016 ihre Beziehung beendet.

Mit dem am 27. 9. 2016 eingelangten Antrag begehrte der Vater einerseits die gemeinsame Obsorge mit der Begründung, dass die Minderjährige sich über weite Strecken bei ihm aufhalte, die Mutter hingegen ein sehr unstetes Leben führe und mehrfach den Wunsch geäußert habe, nach Deutschland, Kroatien oder Serbien auszuwandern, andererseits die Regelung seines Kontaktrechts.

Die Mutter sprach sich gegen die gemeinsame Obsorge aus und wendete ein, dass der Vater mehrfach gegen sie und im August 2016 im alkoholisierten Zustand auch gegen die Minderjährige tätlich geworden sei. Der Vater wolle sich offensichtlich nur von seiner gegenüber der Minderjährigen bestehenden Unterhaltsverpflichtung befreien.

Im Rahmen der Verhandlung vom 15. 2. 2017 schlossen die Eltern eine Kontaktrechtsvereinbarung.

Mit dem am 2. 3. 2017 eingelangten Antrag begehrte der Kinder‑ und Jugendhilfeträger, der Mutter die Obsorge zu entziehen und diese ihm zu übertragen. Die Familie sei bereits seit dem Jahr 2012 amtsbekannt. Damals sei eine Meldung bezüglich einer möglichen Gefährdung der minderjährigen J* (Halbschwester der minderjährigen R*) eingegangen, welche sich aber nicht bestätigt habe. Im Jahr 2015 habe die minderjährige J* angegeben, von der Mutter und dem Vater der minderjährigen R* geschlagen worden zu sein; nach einer dreimonatigen Abklärung hätten sich aber auch hiefür keine Anhaltspunkte ergeben, sondern habe die Minderjährige alle Anschuldigungen wieder zurückgezogen. Insgesamt würden die körperlichen und psychischen Misshandlungen durch die Mutter sowie deren sozial und emotional vernachlässigendes Erziehungsverhalten eine eindeutige Gefährdung für die künftige Entwicklung des Kindes darstellen.

Mit dem am 23. 3. 2017 eingelangten Antrag begehrte der Vater für den Fall, dass der Mutter die Obsorge entzogen werde, ihm die alleinige Obsorge zu übertragen. Die Minderjährige sei in seinem Familienverband gut eingebunden und verfüge in seinen Räumlichkeiten über ein eigenes Zimmer. Seine Eltern, die im selben Haus wohnhaft seien, könnten auch bei der Betreuung des Kindes unterstützen.

Mit Schreiben vom 4. 4. 2017 stimmte die Mutter dem Antrag des Vaters auf Festlegung der gemeinsamen Obsorge zu.

Mit Antrag vom 27. 6. 2017 begehrte der Vater, der Mutter zu untersagen, mit der Minderjährigen das österreichische Staatsgebiet zu verlassen. Aufgrund des Inhalts des Sachverständigengutachtens, wonach die Übertragung der Obsorge an den Vater empfohlen werde, bestehe die Gefahr, dass die Mutter die Minderjährige aus Österreich (allenfalls nach Serbien) zu verbringen beabsichtige, um sich dem gegenständlichen Verfahren zu entziehen.

Die Mutter sprach sich dagegen aus.

In einer Äußerung vom 30. 6. 2017 brachte der Kinder‑ und Jugendhilfeträger vor, dass es dem Wohl der Minderjährigen eher entsprechen würde, wenn sie in einer geeigneten Pflegefamilie – mit regelmäßigen Kontakten zu beiden Elternteilen – untergebracht werden würde. Es habe bereits in der Vergangenheit massive Konflikte zwischen den Eltern gegeben, und eine Übertragung der Obsorge an den Vater würde dies noch verstärken. Es stelle sich auch die Frage, ob der Vater in der Lage sei, die Minderjährige vor diesen Konflikten zu schützen und an einer Kontaktregelung auch wirklich festzuhalten.

Mit Beschluss vom 7. 7. 2017 trug das Erstgericht der Mutter auf, den Reisepass der Minderjährigen dem Gericht bis spätestens 10. 7. 2017 zu übermitteln, weiters verbot es die Ausreise mit der Minderjährigen und erkannte dem Beschluss gemäß § 44 AußStrG die vorläufige Vollstreckbarkeit zu. Es habe sich herausgestellt, dass die Mutter während des laufenden Obsorgeverfahrens die Minderjährige nach Serbien gebracht und dort alleine bei einer Cousine zurückgelassen habe; zudem habe sie gegen den früheren gerichtlichen Auftrag den Reisepass des Kindes nicht an das Gericht übermittelt, sodass zu befürchten sei, dass sie neuerlich eine Verbringung des Kindes ins Ausland plane.

Mit Beschluss vom 13. 7. 2017 entzog das Erstgericht der Mutter die Obsorge und übertrug diese dem Vater (Punkt 1.), erteilte dem Vater den Auftrag, die Unterstützungsmaßnahmen durch den Kinder‑ und Jugendhilfeträger anzunehmen und mit diesem zu kooperieren (Punkt 2.) und erkannte dem Beschluss gemäß § 44 AußStrG vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu (Punkt 3.). Durch die weitere Ausübung der Obsorge seitens der Mutter sei das Wohl der Minderjährigen gefährdet, weshalb der Mutter die Obsorge zu entziehen gewesen sei. Die Übertragung der Obsorge an den Vater entspreche dem Wohl der Minderjährigen am besten und sei einer Fremdpflege vorzuziehen.

Den gegen diese Beschlüsse von der Mutter erhobenen Rekursen gab das Rekursgericht nicht Folge. Ausgehend davon, dass die Mutter die Minderjährige während des laufenden Obsorgeverfahrens nach Serbien gebracht und dort alleine bei einer Cousine zurückgelassen habe und von ihr ein allfälliger Umzug ins Ausland immer wieder angedacht werde, lägen ausreichend objektive Anhaltspunkte für eine geplante Mitnahme des Kindes ins Ausland vor.

Bei der Minderjährigen lägen Auffälligkeiten im Bindungsverhalten vor, die im Zusammenhang mit der bisherigen Betreuungssituation und dem eingeschränkten Fürsorgeverhalten der Eltern, im Speziellen dem der Mutter zu verstehen seien. Die Ursachen hiefür lägen unter anderem im Wechsel der Bezugspersonen und in der mangelnden Stabilität in den Lebens‑ und Betreuungsbedingungen. Bei der Mutter bestünden Einschränkungen in der Erziehungsfähigkeit, deutliche Einschränkungen und Defizite in der Feinfühligkeit bzw im Fürsorgeverhalten, der Empathiefähigkeit und Aufmerksamkeit gegenüber den kindlichen Bedürfnissen sowie im elterlichen Lenkungsverhalten und eine deutlich eingeschränkte Problemeinsicht. Ein ausreichender emotionaler Halt und Schutz sowie eine kindgerechte Tagesstruktur könne von der Mutter nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden. Auch die Kooperationsbereitschaft und die Hilfeakzeptanz der Mutter seien eingeschränkt. Die weitere Obsorgeausübung durch die Mutter würde zu einer nachhaltigen Gefährdung des Wohls der Minderjährigen führen.

Da auch bei einer gemeinsamen Obsorge durch die Eltern das Kindeswohl nicht ausreichend sichergestellt werden könne, sei die Obsorge an den Vater – verbunden mit dem Auftrag, die Unterstützungsmaßnahmen durch den Kinder- und Jugendhilfeträger anzunehmen und mit diesem zu kooperieren – zu übertragen.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Revisionsrekurs der Mutter mit einem Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Vater begehrt in der ihm freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm keine Folge zu geben.

Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger beteiligte sich am Revisionsrekursverfahren nicht.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Die von den Vorinstanzen implizit bejahte (und ungerügt gebliebene) internationale Zuständigkeit Österreichs und Maßgeblichkeit österreichischen Rechts folgt aus Art 8 Abs 1 Brüssel IIa‑VO iVm Art 1 Abs 1 lit b und Art 15 Abs 1 KSÜ (vgl RIS‑Justiz RS0127234 [T1]; 4 Ob 150/16m).

Zum Ausreiseverbot:

1.1 Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG (hier Z 4 und 5) setzen (nur) die Erforderlichkeit ihrer Anordnung „zur Sicherung des Kindeswohls“, aber keine Kindeswohlgefährdung im Sinn des § 181 Abs 1 ABGB voraus. Das Gericht darf das Ausreiseverbot nur bei objektiven Anhaltspunkten für eine geplante Mitnahme des Kindes ins Ausland durch den Elternteil und nach Prüfung der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme anordnen. Der Eingriff in das Privatleben der betreffenden Person darf– insbesondere im Hinblick auf Art 8 Abs 1 EMRK – nicht unverhältnismäßig zu der damit beabsichtigten Förderung der Kinderinteressen sein. Es kommt nicht darauf an, dass diese Maßnahme die ultima ratio darstellt, die erst nach Ausschöpfung anderer Maßnahmen zulässig wäre (6 Ob 160/14v).

1.2 Ob diese Voraussetzungen vorliegen, kann derzeit nicht beurteilt werden. Richtig ist, dass die Mutter während des anhängigen Obsorgeverfahrens die Minderjährige nach Serbien brachte und dort bei Verwandten ließ. Das Erstgericht hat sich aber bisher mit den Einwänden der Mutter nicht befasst, dass es sich bei diesem Auslandsaufenthalt um einen geplanten Urlaub handelte, sie die Minderjährige ohnedies nach Aufforderung unverzüglich nach Österreich zurück brachte und sie – wenn auch einige Tage verspätet – den Reisepass ihrer Tochter dem Gericht übergab.

Erst nach Prüfung auch dieser Behauptungen der Mutter wird beurteilt werden können, ob ausreichend konkrete Anhaltspunkte für eine geplante Verbringung der Minderjährigen ins Ausland vorliegen.

Zur Obsorge:

2.1 Gefährden die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes, so hat das Gericht nach § 181 Abs 1 ABGB, von wem immer es angerufen wird, die zur Sicherung des Wohls des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen, insbesondere darf das Gericht die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise entziehen. § 181 ABGB idF KindNamRÄG 2013 blieb inhaltlich gegenüber § 176 ABGB in der Fassung vor dem KindNamRÄG 2013 unverändert (RIS‑Justiz RS0047841 [T22]). Unter dem Begriff der Gefährdung des Kindeswohls ist nicht geradezu ein Missbrauch der elterlichen Befugnisse zu verstehen. Es genügt, dass die elterlichen Pflichten (objektiv) nicht erfüllt oder (subjektiv) gröblich vernachlässigt worden sind oder die Eltern durch ihr Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährden (RIS‑Justiz RS0048633). Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist ausschließlich dessen Wohl maßgebend, wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind (RIS‑Justiz RS0048632). Eine Änderung der Obsorgeverhältnisse darf nur als äußerste Notmaßnahme unter Anlegung eines strengen Maßstabs und nur insoweit angeordnet werden, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung notwendig ist (RIS‑Justiz RS0047841 [T21]). Die Entziehung der Obsorge setzt eine offenkundige Gefährdung des Kindeswohls und die Notwendigkeit der Änderung des bestehenden Zustands voraus (RIS‑Justiz RS0085168).

2.2 Die Vorinstanzen begründen die ihrer Entscheidung zugrunde gelegte – der rechtlichen Beurteilung zuzuordnende – Annahme einer konkreten Gefährdung des Wohls der Minderjährigen im Fall des Verbleibs bei der Mutter mit Erziehungs‑ und Betreuungsmängeln. In den Feststellungen wird dabei ganz allgemein auf Einschränkungen der Mutter hinsichtlich der Erziehungsfähigkeit, des Fürsorgeverhaltens, der Feinfühligkeit, der Empathiefähigkeit, der Aufmerksamkeit gegenüber dem kindlichen Befinden und der Problemeinsicht hingewiesen, ohne festzustellen, ob und wie sich dieses Verhalten auf die Betreuung oder Erziehung auswirkt. Insbesondere im Zusammenhang mit der vorgeworfenen Betreuung durch wechselnde Bezugspersonen steht weder fest aus welchem Grund, durch welche Bezugspersonen und in welcher Häufigkeit eine solche erfolgte. Keine Feststellungen finden sich zu dem im Raum stehenden Verdacht der Misshandlung. Ebenso blieb offen, wie sich allfällige Auffälligkeiten im Bindungsverhalten der Minderjährigen äußern, zumal doch – festgestelltermaßen – gleichzeitig keine Hinweise auf signifikante Belastungen bestehen.

Hier wird zwar dem Gutachten der Sachverständigen breiter Raum gegeben, nach deren Einschätzung ein Belassen des Kindes bei der Mutter kindeswohlgefährdend wäre, die getroffenen Feststellungen bieten aber weder im Einzelnen noch insgesamt eine in rechtlicher Hinsicht verlässlich überprüfbare Sachverhaltsgrundlage. Unbeachtet blieb beispielsweise auch, dass die genannten – nicht näher konkretisierten – Auffälligkeiten im Bindungsverhalten auf die Mängel nicht nur der Mutter sondern auch des Vaters zurückgeführt wurden. Ungeklärt ist der auch gegenüber dem Vater erhobene Vorwurf der Misshandlungen und die Feststellung des eingeschränkten Fürsorgeverhaltens (ohne weitere Spezifizierung).

2.3 Es ist daher zusammenzufassen, dass die von den Vorinstanzen zugrunde gelegte Gefährdung des Kindeswohls bei Verbleib der Minderjährigen bei der Mutter, die als ultima ratio den Entzug der Minderjährigen aus der Obsorge der Mutter und die Übertragung auf den Vater rechtfertigt, nicht auf ausreichender Klärung und umfassender Feststellungsgrundlage beruht und daher nicht nachvollziehbar ist.

3. In diesem Sinn erweist sich das nach § 13 Abs 1 und 2 AußStrG zu führende Verfahren unumgänglich als ergänzungsbedürftig, zumal sich das Erstgericht mit dem eingeholten Sachverständigengutachten begnügte und die Personen, die Wahrnehmungen zur konkreten Lebenssituation gemacht haben, bisher nicht vernommen wurden.

4. Der Vollständigkeit halber wird auch darauf hingewiesen, dass der Vater vorrangig die gemeinsame Obsorge beantragte, wozu die Mutter ihre Zustimmung erteilte. Nur hilfsweise, nämlich für den Fall, dass der Mutter über den Antrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers die Obsorge entzogen würde, stellte er den Antrag, ihm die Obsorge zur Gänze zu übertragen. Eine spruchgemäße Entscheidung erfolgte aber weder über den Hauptantrag des Vaters, noch über den Antrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers.

5. Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

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