OGH 5Ob143/19v

OGH5Ob143/19v27.11.2019

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj M*, geboren am *, und des mj C*, geboren am *, derzeit in Pflege und Erziehung der Pflegeeltern J* und J*, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter N*, vertreten durch Mag. Dieter Wohlmuth, Rechtsanwalt in Leibnitz, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 22. Juli 2019, GZ 2 R 148/19b‑158, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Leibnitz vom 15. Mai 2019, GZ 8 Ps 22/13m‑142, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E127105

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Aus Anlass des Revisionsrekurses werden die Beschlüsse der Vorinstanzen aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

Die derzeit sieben bzw fünf Jahre alten Minderjährigen entstammen der Anfang 2016 aufgelösten Lebensgemeinschaft ihrer Eltern. Die Obsorge kam der Mutter alleine zu. Der Vater hat keinen regelmäßigen Kontakt zu den Kindern. Bereits im Zusammenhang mit der Geburt des mj C* kam es aufgrund einer psychiatrischen Diagnose der Mutter zur Unterbringung beider Buben auf einem Krisenpflegeplatz bis November 2014. Da nach dem damals eingeholten Gutachten eine Rückführung der Kinder zur Mutter unter der Bedingung ihrer weiteren medikamentösen und fachärztlichen Unterstützung und Einsetzung umfangreicher Hilfsmaßnahmen zu befürworten war, lebten die Kinder ab November 2014 wieder bei den Eltern. Über Ersuchen des Jugendhilfeträgers wurde 2015 neuerlich ein familienpsychologisches Gutachten zur Frage eingeholt, ob der Verbleib der Kinder in der Familie deren Wohl entspricht. Bei der Mutter wurde eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typus festgestellt und ihr mit Beschluss des Pflegschaftsgerichts aufgetragen, in vierteljährlichen Abständen Kopien des Depotpasses vorzulegen, aus dem sich ergibt, dass sie ein bestimmtes Medikament in Depotform vom behandelnden Arzt für Psychiatrie alle 14 Tage erhält. Dem kam die Mutter nach, sodass auch eine neuerliche Überprüfung ihrer Erziehungsfähigkeit nach Beendigung der Beziehung zum Vater der Kinder im Juni 2016 ergab, dass die psychische Gesundheit der Mutter und die Versorgung der Kinder ausreichend stabilisiert war.

Nachdem die Mutter im Herbst 2018 aber ihre Medikamente abgesetzt hatte, erlitt sie in weiterer Folge massive Impulsdurchbrüche im Kontakt mit Kindergartenpädagogen und den Mitarbeitern der Schule, außerdem kam es zu Einschränkungen bei der Sauberkeit der Wohnung und der Körperhygiene. Aufgrund mehrerer beim Kinder‑ und Jugendhilfeträger eingelangter Gefährdungsmeldungen und des psychischen Gesundheitszustands der Mutter brachte der Kinder‑ und Jugendhilfeträger am 3. 12. 2018 die beiden Minderjährigen auf einem Krisenpflegeplatz bei den Pflegeeltern unter, die den Kindern bereits bekannt waren. Mit Beschluss vom 22. Jänner 2019 wurde diese Maßnahme vom Erstgericht für zulässig erklärt.

Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger beantragte der Mutter gemäß § 181 ABGB die Obsorge zur Gänze zu entziehen und ihm zu übertragen. Die fehlende Krankheitseinsicht und die damit verbundene Ablehnung der Medikamenteneinnahme habe zu der massiven psychischen Instabilität der Mutter mit einer hohen verbalen Impulskontrollproblematik geführt, die für die Kinder beängstigend sei. Auch die Hygiene der Mutter und der beiden Kinder sei mangelhaft, weshalb die Kinder einen verwahrlosten Eindruck hinterlassen.

Die Mutter sprach sich gegen die Obsorgeentziehung aus, der Vater beteiligte sich am Verfahren nicht.

Das Erstgericht entzog der Mutter die Obsorge im Teilbereich der Pflege und Erziehung und übertrug sie dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger. Über die eingangs wiedergegebenen Feststellungen hinaus ging es aufgrund des kinderpsychologischen Gutachtens davon aus, dass die Mutter derzeit nicht in der Lage sei, den Kindern eine stabile, strukturierte, gedeihliche und liebevoll konsequente Erziehung zu ermöglichen. Diese Einschränkung ihrer Erziehungsfähigkeit hänge mit ihrer psychischen Verfassung zusammen. Sofern diese psychische Erkrankung nicht behandelt und eine gesunde psychische Stabilität nicht erreicht werde, sei das Kindeswohl bei Rückführung der Kinder in den mütterlichen Haushalt gefährdet. Eine Fremdunterbringung kombiniert mit einem kontinuierlichen Kontaktrecht zur Mutter sei daher erforderlich.

Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs der Mutter nicht Folge. Die durch die psychische Erkrankung der Mutter hervorgerufene Instabilität und Impulsivität bewirke ihre mangelnde Erziehungsfähigkeit, sodass deren Rückführung in den mütterlichen Haushalt als kindeswohlgefährdend anzusehen sei. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht mangels erheblicher Rechtsfragen nicht zu.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter, mit dem Antrag, die Entscheidung des Rekursgerichts (allenfalls auch als nichtig) aufzuheben.

Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger beteiligte sich am Revisionsrekursverfahren nicht.

Rechtliche Beurteilung

Den Entscheidungen der Vorinstanzen haftet der Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG an, der in diesem Revisionsrekursverfahren – analog § 55 Abs 3 AußStrG – von Amts wegen wahrzunehmen ist.

1. Gemäß § 181 Abs 1 ABGB hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Solche Verfügungen können nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB – unter anderem – vom Kinder‑ und Jugendhilfeträger beantragt werden, wie dies hier der Fall war. Diesem kam überdies nach § 211 Abs 1 letzter Satz ABGB im Umfang der getroffenen Sofortmaßnahme auch die vorläufige Obsorge zu.

2. Eine Parteistellung im Obsorgeverfahren kann sich losgelöst von der Antragslegitimation nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB aber auch daraus ergeben, dass die Entscheidung im Sinn des § 2 Abs 1 Z 3 AußStrG unmittelbar in die rechtlich geschützte Stellung einer Person eingreift. Eine solche Rechtsposition verschafft § 178 ABGB den (bisher nicht obsorgeberechtigten) Elternteilen, den Großeltern und den Pflegeeltern. § 178 ABGB normiert nämlich im Fall der Verhinderung eines allein obsorgeberechtigten Elternteils die Übertragung der Obsorge an den anderen Elternteil, die Großeltern (den Großelternteil) oder die Pflegeeltern (den Pflegeelternteil). Eltern, Großeltern und Pflegeeltern haben nach § 178 ABGB Vorrang vor Dritten (RS0123509 [T1]; jüngst 1 Ob 189/18b mwN). Nur wenn weder Eltern noch Großeltern oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut sind oder betraut werden können, ist eine andere geeignete Person mit der Obsorge zu betrauen (§ 204 ABGB). Die Übertragung der Obsorge an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger kann dabei wiederum nur das letzte Mittel zur Hintanhaltung einer Gefährdung des Kindeswohls sein. Das Gericht hat die Obsorge dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger nur dann zu übertragen, wenn sich dafür Verwandte oder andere nahestehende oder sonst besonders geeignete Personen nicht finden (§ 209 ABGB).

3. Konsequenz der in § 178 ABGB normierten materiellen Rechtsposition der Eltern, Großeltern und Pflegeeltern ist deren Parteistellung im Verfahren. Soll die Obsorge dem bisher alleinobsorgeberechtigten Elternteil entzogen und einer anderen Person übertragen werden, hat der andere Elternteil jedenfalls, also unabhängig von einer Antragstellung, Parteistellung. Stellt sich heraus, dass beide Elternteile nicht imstande sind, die Obsorge zum Wohl des Kindes auszuüben, also eine dritte Person (dann aber vorrangig die Großeltern) damit betraut werden müsse, kommt eine Parteistellung der Großeltern in Betracht (6 Ob 178/06d; 1 Ob 189/18b; G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 2 Rz 108). Das materielle Recht schützt die Stellung letzterer also dann, wenn nicht der andere Elternteil betraut wird oder auch dieser verhindert ist (5 Ob 68/15h mwN).

4. Damit kommt dem leiblichen Vater der beiden Minderjährigen hier jedenfalls Parteistellung zu. Das Erstgericht hat dem Rechnung getragen, ihn zu Tagsatzungen geladen und ihm auch das kinderpsychologische Gutachten und die Entscheidung zugestellt. Überwiegend kamen die Sendungen als nicht behoben retour, der Vater beteiligte sich am Verfahren nicht. Gegenüber dem Sachverständigen teilte er am 19. 2. 2019 telefonisch mit (Gutachten ON 115, S 44 f), er könne aufgrund seiner Berufstätigkeit keine Betreuung für seine Kinder übernehmen, sei im Fall einer längerfristigen Unterbringung bei einer Pflegefamilie aber an einem Kontaktrecht etwa einmal im Monat interessiert. Die Vorinstanzen gingen offenbar aufgrund dieser Umstände davon aus, der Vater sei nicht in der Lage bzw auch unwillig die Obsorge für seine beiden Söhne im Bereich der Pflege und Erziehung zu übernehmen.

5. Im Hinblick auf die verneinte Eignung (auch) des Vaters hätten die Vorinstanzen aber die Parteistellung sämtlicher Großeltern der Kinder zu berücksichtigen gehabt. Aktenkundig ist zwar, dass die Eltern der Mutter geschieden sind, sie aber zu beiden Kontakt hielten und die mütterliche Großmutter etwa auch die Kinder fallweise betreute. Ungeachtet dessen wurden die – namentlich nicht bekannten – mütterlichen Großeltern weder zur Verhandlung geladen noch wurden ihnen die Verfahrensergebnisse oder die Beschlüsse der Vorinstanzen zugestellt, worin eine Verletzung des ihnen nach § 15 AußStrG zu gewährenden rechtlichen Gehörs liegt (5 Ob 68/15h; 1 Ob 189/18b). Auszuschließen ist eine derartige Gehörverletzung auch in Bezug auf väterliche Großeltern nicht, zu denen der bisherige Akteninhalt keine Aufschlüsse bietet.

6. Zu berücksichtigen ist weiters, dass gemäß § 184 ABGB auch Pflegeeltern, die die Pflege und Erziehung des Kindes ganz oder teilweise besorgen und zu denen eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommende Beziehung besteht oder hergestellt werden soll, in dem die Person des Kindes betreffenden Pflegschaftsverfahren das Antrags‑ und auch das Rekursrecht zusteht (RS0006506 [T2, T5]; RS0118141), und zwar auch in Verfahren, die nicht über ihren Antrag eingeleitet wurden. Auf die Art des Begründungsakts kommt es dabei nicht an, bei Vorliegen der Tatbestandsmerkmale ist die Pflegeelterneigenschaft kraft Gesetzes gegeben (8 Ob 54/11s mwN). Wenn auch Personen nicht unter den Pflegeelternbegriff fallen, die das Kind von vornherein nur vorübergehend oder ohne Eingliederung in ihren eigenen Lebenszusammenhang betreuen (wie bei der Tagesmutter, der Betreuung während urlaubsbedingter Abwesenheit, im Internat oder Heim – Hopf in KBB5 § 184 ABGB Rz 1), ist bei sogenannten „Krisenpflegeeltern“ zu unterscheiden. Besteht von vornherein die Absicht, die Kinder in einer akut gefährdeten Lebenssituation nur für einen von vornherein begrenzten Zeitraum aufzunehmen, ohne dass der Aufbau einer dauerhaften familienähnlichen Beziehung angestrebt wird, wird man nicht von einer Pflegeelternstellung im Sinn des § 184 ABGB ausgehen können (so auch Hopf aaO; 8 Ob 54/11s). Ein solcher Fall liegt nach den Feststellungen hier nicht vor: Abgesehen davon, dass die Minderjährigen mittlerweile bereits fast ein Jahr lang dauerhaft bei den Pflegeeltern leben, waren ihnen diese schon von vorhergehenden Unterbringungen als Pflegeeltern bekannt. Aus den Sachverständigengutachten ergibt sich, dass zwischen den Pflegeeltern und den Minderjährigen eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern bereits nahe kommende Beziehung entstanden ist (vgl auch 8 Ob 54/11s, wo in einem vergleichbaren Fall – psychische Erkrankung der Mutter, Unterbringung des Kindes bei Krisenpflegeeltern, bei denen es etwa ein Jahr lang aufhältig war – von einer Parteistellung der Pflegeeltern ausgegangen wurde).

7. Die Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs zwingt zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im Außerstreitverfahren zwar nur dann von Amts wegen wahrzunehmen, wenn die Gehörverletzung Einfluss auf die Richtigkeit der Entscheidung haben konnte (RS0119971 [T7]). Gemäß § 58 Abs 1 und 3 AußStrG ist vor der Entscheidung auf Aufhebung und Zurückverweisung der Außerstreitsache in eine Vorinstanz also zu überprüfen, ob nicht eine Bestätigung selbst aufgrund der Angaben im Rechtsmittelverfahren oder eine Abänderung ohne weitere Erhebungen möglich ist. Hier waren aber sämtliche Großelternteile und auch die Pflegeeltern zu einem Vorbringen gar nicht in der Lage. Die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs muss im Revisionsrekursverfahren zur Aufhebung führen (5 Ob 68/15h mwN; 1 Ob 189/18b). Eine Sanierung durch Zustellung lediglich des rekursgerichtlichen Beschlusses im Sinn des Vorrangs der Sacherledigung (vgl RS0123128) kommt hier nicht in Betracht, weil die Gehörverletzung mit der Notwendigkeit einer Verfahrensergänzung einhergeht (5 Ob 68/15h; 1 Ob 189/18b mwN). Mit der bloßen Rechtsausführung des Erstgerichts, verwandte oder andere nahestehende oder sonst besonders geeignete Personen für die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung ließen sich nicht finden, kann hier nicht das Auslangen gefunden werden.

8. Da die Obsorgeentscheidung zukunftsbezogene Rechtsgestaltung ist, kann sie nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf aktueller und ausreichender Sachverhaltsgrundlage beruht (RS0106312). Das gemäß § 66 Abs 2 AußStrG im Revisionsrekursverfahren an sich geltende Neuerungsverbot ist daher im Obsorgeverfahren aus Gründen des Kindeswohls insofern durchbrochen, als der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, auch dann berücksichtigen müsste, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind (RS0106312 [T1]). Soweit die Mutter im Revisionsrekurs mit ihrer wesentlich verbesserten psychischen Verfassung argumentiert, wird darauf im fortgesetzten Verfahren daher einzugehen sein, zumal die Mutter in den an die Erstrichterin übersendeten Mitteilungen auch behauptet, sich aktuell wieder einer Therapie ihrer psychischen Erkrankung zu unterziehen und zum Beweis dafür auch einen Therapiepass in Kopie vorgelegt hat. Da die mangelnde Krankheitseinsicht der Mutter, die damit zusammenhängende Verweigerung der empfohlenen Medikation und die dadurch bewirkte Impulsivität und Instabilität wesentliche Argumente gegen eine ausreichende Erziehungsfähigkeit der Mutter waren, wird das Erstgericht nicht nur die Großeltern und Pflegeeltern dem Verfahren beizuziehen, sondern auch zu dieser Frage ergänzende Feststellungen zu treffen haben. Erst aufgrund dessen wird eine abschließende Beurteilung der Berechtigung des Obsorgeentziehungsantrags des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers möglich sein.

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