OGH 10ObS1/20z

OGH10ObS1/20z26.5.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Josef Putz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*****, Deutschland, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Thurnher Wittwer Pfefferkorn & Partner Rechtsanwälte GmbH in Dornbirn, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 20. November 2019, GZ 23 Rs 52/19 x‑17, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00001.20Z.0526.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Die Bezeichnung der ursprünglich beklagten Vorarlberger Gebietskrankenkasse war gemäß § 23 Abs 1 und § 538t Abs 1 ASVG von Amts wegen auf Österreichische Gesundheitskasse zu berichtigen.

Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf Ausgleichszahlung zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante 365 Tage für den Zeitraum von 3. 7. 2017 bis 2. 7. 2018 in Höhe von 12,63 EUR täglich aus Anlass der Geburt ihrer Tochter am 3. 7. 2017. Strittig ist die Anrechnung des der Klägerin zuerkannten bayerischen Familiengeldes nach dem Bayerischen Familiengeldgesetz vom 24. 7. 2018, GVBl S 613, 622, BayRS 2170‑7‑A, geändert durch Art 10 des Gesetzes vom 24. 5. 2019, GVBl S 266 (in der Folge: BayFamGG, abrufbar über: https://www.gesetze‑bayern.de).

Die Klägerin, ihr Ehegatte und die gemeinsame Tochter sind deutsche Staatsbürger, leben in Deutschland und haben dort den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen. Der Ehegatte der Klägerin ist in Deutschland als Lehrer beschäftigt. Die Klägerin war bereits vor der Geburt ihrer Tochter und ist weiterhin bei einem österreichischen Arbeitgeber beschäftigt.

Die Klägerin bezog aus Anlass der Geburt der Tochter in Deutschland Elterngeld in Höhe von 3.975 EUR, ihr Ehegatte Elterngeld in Höhe von 3.780 EUR. Der Klägerin wurde für ihre Tochter bayerisches Familiengeld in Höhe von 250 EUR monatlich für den Zeitraum vom 15. bis zum 36. Lebensmonat (3. 9. 2018 bis 2. 7. 2020) zuerkannt.

Unstrittig gebührt der Klägerin das pauschale Kinderbetreuungsgeld als Ausgleichszahlung in Höhe von 12,63 EUR täglich für den Fall, dass das bayerische Familiengeld nicht anzurechnen ist.

Das Erstgericht sprach der Klägerin das pauschale Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 3. 7. 2017 bis 2. 7. 2018 in Höhe von 12,63 EUR täglich zu. Das bayerische Familiengeld sei keine dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung, weshalb es nicht anzurechnen sei.

Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten erhobenen Berufung nicht Folge. § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 sei unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass nur gleichartige ausländische Familienleistungen aus Mitgliedstaaten der Union oder EWR‑Vertragsstaaten angerechnet werden dürfen. Gleichartigkeit verlange nach der vom Berufungsgericht ausführlich zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union insbesondere Übereinstimmung der Leistungen bei Sinn und Zweck, Berechnungsgrundlage und Gewährungsvoraussetzungen (vgl nur EuGH C‑347/12 , Wiering, Rn 54 ff mwH). Das bayerische Familiengeld unterscheide sich in wesentlichen dieser Aspekte vom pauschalen Kinderbetreuungsgeld:

a) Das bayerische Familiengeld gebühre gemäß Art 2 Nr 1 und Art 3 BayFamGG unabhängig vom Erwerbseinkommen, während das österreichische – auch pauschale – Kinderbetreuungsgeld einkommensabhängig ist. Bei Überschreiten der Zuverdienstgrenze gebühre kein Kinderbetreuungsgeld.

b) Das bayerische Familiengeld habe, anders als das österreichische pauschale Kinderbetreuungsgeld, nach der ausdrücklichen Anordnung des Art 1 Satz 3 BayFamGG keine Einkommensfunktion und diene nicht der Existenzsicherung. Es betrage gemäß Art 3 BayFamGG monatlich 250 EUR, sodass das österreichische pauschale Kinderbetreuungsgeld deutlich höher sei.

c) Das bayerische Familiengeld solle gemäß Art 1 Satz 2 BayFamGG den Eltern den nötigen Gestaltungsspielraum verschaffen, frühe Erziehung und Bildung der Kinder einschließlich gesundheitsfördernder Maßnahmen zu ermöglichen, zu fördern und insbesondere auch entsprechend qualitativ zu gestalten. Der Anspruch auf diese Leistung verlange gemäß Art 2 BayFamGG die Erziehung des Kindes durch den Anspruchsberechtigten selbst und die Sorge für eine „förderliche frühkindliche Betreuung des Kindes“. Demgegenüber diene das pauschale Kinderbetreuungsgeld nicht gesundheitsförderlichen Maßnahmen für das Kind, sondern der finanziellen Unterstützung der Eltern während der Betreuung des Kindes in den ersten drei Lebensjahren im Sinn einer Anerkennung und (teilweisen) Abgeltung der Betreuungsleistung.

d) Anspruchsberechtigt könnten nach Art 2 Nr 3 BayFamGG auch andere Personen als die Eltern sein, wie zB Verwandte bis zum dritten Grad oder auch Lebenspartner, wenn diese Personen die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen und die Eltern wegen einer schweren Krankheit, Schwerbehinderung oder Tod ihr Kind nicht selbst erziehen können. Das österreichische Kinderbetreuungsgeld stehe hingegen nur den in § 2 Abs 1 KBGG genannten Personen zu.

Das bayerische Familiengeld unterscheide sich vom österreichischen pauschalen Kinderbetreuungsgeld daher in der Unabhängigkeit vom Erwerbseinkommen, in der fehlenden Einkommensersatzfunktion, in der Verpflichtung zur Förderung frühkindlicher Betreuung und Gesundheitsförderung des Kindes sowie im wesentlich weiter reichenden Kreis der anspruchsberechtigten Personen. Das bayerische Familiengeld sei daher keine vergleichbare (gleichartige) Leistung zum österreichischen pauschalen Kinderbetreuungsgeld.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision an den Obersten Gerichtshof ließ das Berufungsgericht wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zu.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten, mit der sie erkennbar die Abweisung des Klagebegehrens beantragt.

Die Revisionswerberin zeigt keine Korrekturbedürftigkeit dieser Entscheidung auf:

1. Die Revisionswerberin hält ihren Standpunkt aufrecht, dass es für Geburten ab dem 1. 3. 2017 gemäß § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 für die Beurteilung der Anrechenbarkeit einer ausländischen Familienleistung auf das Kinderbetreuungsgeld nicht mehr auf die Vergleichbarkeit dieser Leistung ankomme. Dem ist bereits das Berufungsgericht unter Hinweis auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 10 ObS 110/19b entgegengetreten. Danach gilt das Erfordernis des Vorliegens von Leistungen gleicher Art (Art 10 VO [EG] 883/2004) auch im Anwendungsbereich des § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 (so auch 10 ObS 108/19h; 10 ObS 141/19m; RS0125752 [T3]). Auf diese jüngste Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs geht die Revisionswerberin nicht ein, sodass es keiner weiteren Auseinandersetzung mit dieser Frage bedarf.

2. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist es Sache des nationalen Gerichts zu prüfen, ob das bayerische Familiengeld als Leistung gleicher Art wie das österreichische pauschale Kinderbetreuungsgeld angesehen werden kann und ob es daher bei der Berechnung des der Klägerin geschuldeten Unterschiedsbetrags berücksichtigt werden darf (EuGH C‑347/12 , Wiering, Rn 62 mwH). Diese Frage lässt sich im vorliegenden Fall nach den eindeutigen Bestimmungen des bayerischen Familiengeldgesetzes und des österreichischen Kinderbetreuungsgeldgesetzes beurteilen, sodass allein der Umstand, dass Rechtsprechung dazu fehlt, noch nicht das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO begründet (RS0042656).

3. In der nahezu zeitgleich zur Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen Entscheidung 10 ObS 141/19m verneinte der Oberste Gerichtshof die Vergleichbarkeit des Betreuungsgeldes nach dem deutschen Bundeselterngeld‑ und Elternteilzeitgesetz (BEEG) idF des Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes (Betreuungsgeldgesetz) und des österreichischen pauschalen Kinderbetreuungsgeldes. Wesentlich ist daraus hervorzuheben, dass auch für das deutsche Betreuungsgeld ein Erwerbseinkommen und dessen Höhe irrelevant sind, während eine wesentliche Voraussetzung für das Kinderbetreuungsgeld darin liegt, dass bestimmte Einkommensgrenzen (für das pauschale Kinderbetreuungsgeld gemäß § 2 Abs 1 Z 3 KBGG) nicht überschritten werden. Das deutsche Betreuungsgeld kann aufgrund seiner geringen Höhe keinen Ausgleich für den Verzicht auf ein Erwerbseinkommen leisten. Das Kinderbetreuungsgeld ist auch in der Pauschalvariante wesentlich höher (nunmehr §§ 3 Abs 1, 5 Abs 1 KBGG) und soll in seiner (teilweisen) Einkommensersatzfunktion Eltern ermöglichen, sich unter Verzicht auf eine (Voll‑)Erwerbstätigkeit der Betreuung ihres Kleinkindes zu widmen.

4. Für den vorliegenden Fall ergibt sich:

4.1 Wenn die Beklagte argumentiert, dass das Kinderbetreuungsgeld auch von Menschen ohne Erwerbseinkommen bezogen werden kann, übergeht sie, dass das pauschale Kinderbetreuungsgeld – anders als das bayerische Familiengeld – während des Bezugs nur eine geringe Erwerbstätigkeit erlaubt, um die Betreuung des Kindes während der ersten drei Lebensjahre weitgehend zu sichern. Daher ist das pauschale Kinderbetreuungsgeld selbst in seiner längsten Bezugsdauer (§ 5 KBGG) mit rund 440 EUR monatlich (Tagsatz von 14,53 EUR) fast doppelt so hoch wie das bayerische Familiengeld. Aus der unterschiedlichen Höhe der Leistungen ergibt sich entgegen den Ausführungen in der außerordentliche Revision sehr wohl ein deutlicher Hinweis auf den unterschiedlichen Zweck des bayerischen Familiengeldes und des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes.

4.2 Dem Argument der Beklagten, dass auch das bayerische Familiengeld existenzsichernd sei, ist der Wortlaut des Art 1 Satz 3 und 4 BayFamGG entgegenzuhalten: „Das Familiengeld dient damit nicht der Existenzsicherung. Es soll auf existenzsichernde Sozialleistungen nicht angerechnet werden.“ Genau aus diesem Grund hat der Gesetzgeber des Freistaats Bayern den Zweck des Familiengeldes in Art 2 Nr 3 BayFamGG mit Art 10 des bayerischen Haushaltsgesetzes 2019/2020 vom 24. 5. 2019 (GVBl S 266; BayRS 630‑2‑22‑F, abrufbar über: https://gesetze‑bayern.de) dahin festgelegt, dass nur Anspruch hat, wer für eine „förderliche frühkindliche Betreuung des Kindes sorgt“ (näher dazu Dose in Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrechtlichen Praxis10 [2019] § 1 Rn 119a). Der Umstand, dass das bayerische Familiengeld ab dem dritten und jedem weiteren Kind in Höhe von 300 EUR monatlich gezahlt wird (Art 3 Nr 1 Satz 1 BayFamGG) ändert daran nichts.

4.3 Dass umgekehrt dem österreichischen pauschalen Kinderbetreuungsgeld existenzsichernder Charakter zukommt, ergibt sich etwa auch aus § 10 Abs 1 Z 7 und Abs 5 letzter Satz StbG. Danach gilt – als Voraussetzung für die Verleihung der Staatsbürgerschaft – der Lebensunterhalt einer/s Fremden in den letzten geltend gemachten sechs Monaten unmittelbar vor dem Antragszeitpunkt auch dann als hinreichend gesichert, wenn in diesem Zeitraum Kinderbetreuungsgeld nach dem KBGG bezogen wurde. Schließlich ist Kinderbetreuungsgeld – anders als das bayerische Familiengeld – auch als Einkommen auf Leistungen der Mindestsicherung (Sozialhilfe) anzurechnen (vgl § 4 Abs 1 Z 5 der Oberösterreichischen SozialhilfeV 1998, oö LGBl 1998/118). Auch die Kostenersatzregelung des § 24a Wiener Mindestsicherungsgesetz (WMG, Wr LGBl 2011/02 idgF) erwähnt ausdrücklich Leistungen nach dem KBGG.

4.4 Auch mit dem Argument, die Definition der Betreuung dürfe keine Rolle spielen, zeigt die Beklagte keine Korrekturbedürftigkeit der Entscheidung des Berufungsgerichts auf. Das bayerische Familiengeld dient – anders als das Kinderbetreuungsgeld – nicht der (teilweisen) Abgeltung bloß allgemeiner, auch außerhäuslicher Betreuungsleistungen für das Kind. Das bayerische Familiengeld darf nur beziehen, wer für eine förderliche frühkindliche Betreuung des Kindes sorgt (Art 2 Nr 1 Z 3 BayFamGG). Der Charakter der über eine Betreuung hinausgehenden frühkindlichen Förderung des Kindes, die durch das bayerische Familiengeld ermöglicht werden soll, wird dadurch verstärkt, dass diese Leistung gerade nicht im ersten (besonders betreuungsintensiven) Lebensjahr des Kindes geleistet wird, sondern gemäß Art 3 Nr 3 BayFamGG erst in der Zeit vom ersten Tag des 13. Lebensmonats bis zur Vollendung des 36. Lebensmonats des Kindes bezogen werden kann.

4.5 Aus der Entscheidung 10 ObS 27/08f (DRdA 2010/24, 310 [Spiegel] = SSV‑NF 22/65) ist für den Standpunkt der Revisionswerberin nichts zu gewinnen. Einerseits fehlten im damaligen Fall noch Feststellungen, sodass die Frage, ob insbesondere das (damalige) deutsche Bundes‑ und Landeserziehungsgeld gleichartige Leistungen zum österreichischen Kinderbetreuungsgeld seien, letztlich offen blieb. Andererseits ist im vorliegenden Fall nicht die Vergleichbarkeit dieser Leistungen zu beurteilen. Bayerisches Familiengeld ist eine „Weiterentwicklung“ des bayerischen Landeserziehungsgeldes (Art 1 Satz 1 BayFamGG). Es gebührt Eltern als „Anerkennung ihrer Erziehungsleistung“ (Art 1 Satz 1 BayFamGG). Auch aus dieser programmatischen Bestimmung wird deutlich, dass das bayerische Familiengeld anders als das österreichische pauschale Kinderbetreuungsgeld gerade nicht den Zweck hat, (ganz allgemein) familiäre oder außerhäusliche Betreuungsleistungen (zumindest teilweise) abzugelten, sondern „qualitativ“ die frühe Erziehung und Bildung der Kinder sowie ihre Gesundheit (nur) durch den das Kind selbst erziehenden Anspruchsberechtigten zu fördern (Art 1 Satz 2 BayFamGG).

5. Wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung ist daher die außerordentliche Revision der beklagten Partei zurückzuweisen.

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