OGH 10ObS141/19m

OGH10ObS141/19m19.11.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Josef Putz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*****, Deutschland, vertreten durch Mag. Manfred Kantner, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Oberösterreichische Gebietskrankenkasse, 4021 Linz, Gruberstraße 77, vertreten durch Dr. Haymo Modelhart, Dr. Elisabeth Humer‑Rieger und Mag. Katrin Riesenhuber, Rechtsanwälte in Linz, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 29. August 2019, GZ 23 Rs 11/19t‑19, womit das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 12. Dezember 2018, GZ 76 Cgs 108/18a‑6, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00141.19M.1119.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Die Klägerin beantragte am 21. 3. 2016 anlässlich der Geburt ihrer Tochter am 30. 1. 2016 das pauschale Kinderbetreuungsgeld ab der Geburt bis zur höchstmöglichen Bezugsdauer in der Variante 30+6 in Höhe von 14,53 EUR täglich. Sie ist unselbständig in Deutschland beschäftigt, der Vater des Kindes ist in Österreich erwerbstätig. Die Familie ist in Deutschland wohnhaft. Die Klägerin hat von Jänner 2016 bis Jänner 2018 mit ihrer Arbeitgeberin einen Karenzurlaub vereinbart.

Die Klägerin bezog deutsches Elterngeld als Basiselterngeld vom 1. bis zum 12. Lebensmonat des Kindes in Höhe von insgesamt 7.982,36 EUR. Weiters bezog sie deutsches Betreuungsgeld in Höhe von insgesamt 3.300 EUR (150 EUR monatlich).

Mit Bescheid vom 24. 8. 2018 sprach die beklagte Gebietskrankenkasse aus, dass die Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld vom 2. 4. 2016 bis 31. 12. 2017 in Höhe von 3,36 EUR täglich zu Unrecht bezogen worden sei. Die Zuerkennung der Leistung in diesem Zeitraum werde in Höhe von 2,12 EUR täglich widerrufen. Die Ausgleichszahlung für diesen Zeitraum gebühre nur in Höhe von täglich 1,24 EUR. Die Klägerin sei zur Rückzahlung der Ausgleichszahlung im Teilbetrag von 1.094,28 EUR (639 Tage à 2,12 EUR täglich = 1.354,68 EUR abzüglich eines bereits durchgeführten Einbehalts von 260,40 EUR) innerhalb von vier Wochen verpflichtet.

In ihrer Klage begehrt die Klägerin die Feststellung, dass der Bezug der Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld nicht zu Unrecht erfolgt sei, der Bezug nicht zu widerrufen sei und sie nicht zur Rückzahlung des Betrags von 1.094,28 EUR verpflichtet sei. Weiters begehrt sie, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, den bereits einbehaltenen Betrag an Ausgleichszahlung in Höhe von 260,40 EUR binnen 14 Tagen zu zahlen.

Das Erstgericht gab der Klage statt.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und ließ die Revision nicht zu. Das österreichische Kinderbetreuungsgeld sei eine Familienleistung iSd Art 1 lit z VO (EG) 883/2004. Die Koordination habe daher nach den Art 67 bis 68 der Verordnung zu erfolgen. Die vom Erstgericht angewendete Prioritätsregel des Art 68 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 führe aufgrund des Wohnorts des Kindes in Deutschland dazu, dass Deutschland vorrangig und Österreich nachrangig leistungszuständig sei. Dass der Klägerin nur ein subsidiärer Anspruch auf (österreichisches) Kinderbetreuungsgeld zukomme, werde in der Berufung nicht in Frage gestellt. Auch im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 seien im Sinn der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union(Rs C‑347/12, Wiering), nur gleichartige Leistungen anzurechnen. Das deutsche Betreuungsgeld und das österreichische Kinderbetreuungsgeld seien nicht gleichartig, weil sie einander nach den Anspruchsvoraussetzungen und ihrer jeweiligen Zielrichtung nicht entsprächen. Das deutsche Betreuungsgeld werde – anders als das österreichische Kinderbetreuungsgeld – nur unter der Voraussetzung gewährt, dass der Elternteil für das betreute Kind keine dauerhaft durch öffentliche Sach- und Personalkostenzuschüsse geförderte Kinderbetreuung in Anspruch nehme (10 ObS 149/17k). Wenngleich die Entscheidung 10 Ob 149/17k zum Bezug von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld ergangen sei, hätten die darin getroffenen Aussagen zur Gleichartigkeit auch für das pauschale Kinderbetreuungsgeld Gültigkeit. An dem Erfordernis der Gleichartigkeit könne auch die mit 1. 3. 2017 in Kraft getretene geänderte Fassung des § 6 Abs 3 KBGG (BGBl I 2016/53) nichts ändern, wonach nun die Anrechnung sämtlicher (nicht nur gleichartiger) ausländischer Familienleistungen angeordnet werde. Weil es sich bei dieser Bestimmung um eine international umfassend ausgestaltete Antikumulierungsregel handle, von der alle Familienleistungen aus EU-Mitgliedstaaten betroffen seien, sei sie unionsrechtskonform auszulegen. Widerspreche sie aber – wie hier – der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (zuletzt in der Rs C‑347/12, Wiering), werde sie von dieser überlagert und habe im Sinn des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts vom nationalen Gericht unangewendet zu bleiben.

In ihrer außerordentlichen Revision bekämpft die beklagte Partei – mit fast deckungsgleicher Argumentation wie die in der Entscheidung 10 ObS 149/17k beklagte Partei – die Verneinung der Gleichartigkeit von österreichischem (pauschalem) Kinderbetreuungsgeld und deutschem Betreuungsgeld und dessen Nichtanrechnung. Da die Entscheidung 10 ObS 149/17k nur die Gleichartigkeit von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld und deutschem Betreuungsgeld verneine, fehle zu der Frage, ob die in dieser Entscheidung getroffenen Aussagen auch auf das pauschale Kinderbetreuungsgeld zutreffen, oberstgerichtliche Rechtsprechung. Bei der Prüfung der Gleichartigkeit sei kein strenger Maßstab anzulegen, um dem Ziel und Zweck der Verordnung (EG) 883/2004 zu entsprechen, Doppelleistungen zu verhindern. Das pauschale Kinderbetreuungsgeld und das deutsche Betreuungsgeld würden denselben Zweck erfüllen, nämlich die Erziehung des Kindes zu vergüten und Nachteile zu mindern, die durch den Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit entstehen. Auch das österreichische Kinderbetreuungsgeld diene dazu, staatliche Betreuungseinrichtungen zu entlasten. In der deutschen Vollzugspraxis werde von der Vergleichbarkeit beider Leistungen ausgegangen, indem im Fall der subsidiären Zuständigkeit Deutschlands das österreichische Kinderbetreuungsgeld bei der Berechnung der Ausgleichszahlung zum Betreuungsgeld angerechnet werde. Überdies sei § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 auf den vorliegenden Fall bereits anwendbar und führe dazu, dass nicht mehr auf die Gleichartigkeit ausländischer Familienleistungen abzustellen sei.

Rechtliche Beurteilung

Mit diesen Ausführungen wird keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt. Der Oberste Gerichtshof erachtet vielmehr die Begründung des Berufungsgerichts für zutreffend, sodass auf deren Richtigkeit verwiesen werden kann (§ 510 Abs 3 ZPO).

Den Revisionsausführungen ist noch Folgendes entgegenzuhalten:

1. Durch die VO (EG) 883/2004 trat in Bezug auf das Erfordernis der Gleichartigkeit anzurechnender Familienleistungen im Vergleich zur VO (EWG) 1408/71 keine Änderung ein. Dies ergibt sich schon aus der auch in der VO (EG) 883/2004 enthaltenen allgemeinen Antikumulierungsregelung des Art 10 VO (EG) 883/2004, die die Rechtslage nach Art 12 VO (EWG) 1408/71 unverändert fortsetzt ( Schuler in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 7 Art 10 VO [EG] 883/2004 Rz 1). Die Neuregelung der Familienleistungen in Art 1 lit z VO (EG) 883/2004 verfolgt lediglich die Absicht, diese in ihrer Gesamtheit zu regeln (EuGH 27. 2. 2014, C‑32/13, Würker , Rz 48; Kahil‑Wolff in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 7 Art 1 VO [EG] 883/2004 Rz 41; 10 ObS 146/16t SSV‑NF 31/2). Wie der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 146/16t SSV‑NF 31/2, ausführlich begründet hat, ergibt sich auch aus der Entscheidung des EuGH vom 8. 5. 2014, Rs C‑347/12, Wiering , nichts anderes. Wenngleich diese Entscheidung noch zum Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 ergangen ist, bezieht sie sich allgemein auf Familienleistungen und fordert als Voraussetzung für deren Anrechnung Gleichartigkeit. Dass es – soweit es um die Berechnung des Unterschiedsbetrags nach Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 geht – zu einem Systemwandel gekommen wäre und in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des EuGH sämtliche (und nicht nur gleichartige) Familienleistungen angerechnet werden sollten, ist weder aus der in Art 1 lit z der VO (EG) 883/2004 enthaltenen Begriffsdefinition noch aus der allgemeinen Antikumulierungsregel des Art 10 VO 883/2004 noch aus Art 68 der VO (EG) 883/2004 abzuleiten ( Sonntag , Unions-, verfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG‑Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 f; Spiegel in Spiegel , Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [56. Lfg] Art 1 VO [EG] 883/2004 Rz 76/1).

2.1 Die Ruhensbestimmung des § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53, die in Abänderung der Vorgängerbestimmung nun eine Anrechnung sämtlicher (und nicht nur gleichartiger) Leistungen vorsieht, ist mit 1. 3. 2017 in Kraft getreten (§ 50 Abs 15 KBGG) und gilt für Bezugszeiträume ab 1. 3. 2017 (1110 BlgNR 25. GP  13). Sie ist daher im vorliegenden Fall für die nach diesem Datum liegenden Bezugszeiträume der erbrachten Ausgleichs-zahlung zum österreichischen Kinderbetreuungsgeld bereits anwendbar.

2.2 In der jüngst ergangenen Entscheidung 10 ObS 110/19b wurde § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 im Hinblick auf die auch im Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004 weiterhin maßgebliche Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Rs C‑347/12, Wiering) insoweit als unionsrechtswidrig erachtet, als die Bestimmung nicht auf die Vergleichbarkeit der Familienleistungen abstellt. Im Hinblick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist daher bei Errechnung der Ausgleichszahlung (des Unterschiedsbetrags) weiterhin die Vergleichbarkeit von Familienleistungen zu berücksichtigen.

3.1 Für die Gleichartigkeit von Familienleistungen ist Voraussetzung, dass sie einander in Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen (RS0122907).

3.2 Dem Einwand, dass kaum jemals Familienleistungen zweier Mitgliedstaaten einander entsprechen werden, hat der EuGH Rechnung getragen, indem er es als ausreichend erachtet, wenn die Leistungen unabhängig von den besonderen Eigenheiten der Rechtsvorschriften der verschiedenen Mitgliedstaaten in wesentlichen Merkmalen (Sinn und Zweck, Voraussetzungen für die Gewährung und Leistungsberechnung) übereinstimmen (Rs C‑347/12, Wiering, Rz 54). Dass die Berechnungsgrundlagen und die Voraussetzungen völlig gleich sein müssen, wird demnach nicht gefordert (EuGH C‑102/91, Knoch, Rz 42).

4. Das österreichische Kinderbetreuungsgeld und das deutsche Betreuungsgeld unterscheiden sich in den Anspruchsvoraussetzungen sowie in der Zielrichtung deutlich voneinander (10 ObS 149/17k):

4.1 Nach § 4a Abs 1 Z 2 iVm § 1 Abs 4 Z 4 Bundeselterngeld- und Elternteilzeitgesetz (BEEG) idF des Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes (Betreuungsgeldgesetz) gebührte allen Eltern in Deutschland unabhängig von einer vorangegangenen oder während des Bezugszeitraums ausgeübten Erwerbstätigkeit und der Höhe ihrer (vorangegangenen) Einkünfte ein pauschales Betreuungsgeld für jedes Kind in Höhe von 150 EUR pro Monat. Anspruchsvoraussetzung ist, dass sie für das betreute Kind keine dauerhaft durch öffentliche Sach- und Personalkostenzuschüsse geförderte Kinderbetreuung in Anspruch nehmen. Eltern, die eine derartige Kinderbetreuung in Anspruch nehmen, profitieren im Gegensatz zu jenen Eltern, die dies nicht tun und alternative Betreuungsmodelle wählen, (indirekt) von einer nicht unbeträchtlichen öffentlichen Förderung, was der deutsche Gesetzgeber durch das Betreuungsgeld zu Gunsten der anderen Elterngruppe ausgleichen wollte (vgl BVerfG 21. 7. 2015, BvF 2/13).

4.2 Wie bereits in der Entscheidung 10 ObS 149/17k ausgeführt wurde, hängt das deutsche Betreuungsgeld im Gegensatz zum österreichischen Kinderbetreuungsgeld von der Nichtinanspruchnahme öffentlich geförderter Betreuungseinrichtungen ab; ein Erwerbseinkommen und dessen Höhe sind irrelevant. Demgegenüber besteht eine wesentliche Voraussetzung für das Kinderbetreuungsgeld darin, dass bestimmte Einkommensgrenzen (für das pauschale Kinderbetreuungsgeld § 2 Abs 1 Z 3 KBGG, für das einkommensabhängige § 24 Abs 1 Z 4 KBGG) nicht überschritten werden. Einen Ausgleich für den Verzicht auf ein Erwerbseinkommen kann das Betreuungsgeld aufgrund seiner geringen Höhe nicht leisten. Das Kinderbetreuungsgeld ist auch in der Pauschalvariante wesentlich höher (nunmehr § 3 Abs 1, § 5 Abs 1 KBGG) und soll in seiner (teilweisen) Einkommensersatzfunktion Eltern ermöglichen, sich unter Verzicht auf eine (Voll‑)Erwerbstätigkeit der Betreuung ihres Kleinkindes zu widmen.

4.3 Mit diesen Ausführungen wird nicht nur auf das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld, sondern ausdrücklich auch auf das pauschale Kinderbetreuungsgeld Bezug genommen. Auch dieses wird bei der Gleichartigkeitsprüfung miteinbezogen und im Hinblick auf dessen Einkommensersatzfunktion beim betreuenden Elternteil als nicht gleichartig angesehen.

4.4 Die Entscheidung 10 ObS 149/17k hat im Schrifttum keine Kritik erfahren. Neue Argumente, die ein Abgehen von der in dieser Entscheidung vertretenen Rechtsansicht rechtfertigen könnten, werden in der Revision nicht aufgezeigt. Allein das Revisionsvorbringen, im deutschen Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend als der für Familienleistungen zuständigen Verwaltungsbehörde werde der Rechtsstandpunkt eingenommen, im Fall nachrangiger Zuständigkeit Deutschlands sei bei Berechnung der Ausgleichszahlung zum Betreuungsgeld das österreichische Kinderbetreuungsgeld einzurechnen, vermag zu keiner anderen Beurteilung zu führen.

5. Die Anregung der Revisionswerberin, ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zur Klärung des Erfordernisses der Gleichartigkeit der anzurechnenden Familienleistungen auch im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004, eventualiter zur Gleichartigkeit des deutschen Betreuungsgeldes und des österreichischen Kinderbetreuungsgeldes zu richten, ist aufgrund der obigen Erwägungen nicht aufzugreifen.

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