OGH 6Ob89/19k

OGH6Ob89/19k23.5.2019

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers R*, vertreten durch Mag. Andrea Steindl, Rechtsanwältin in Grieskirchen, als Verfahrenshelferin gegen die Antragsgegnerin M*, vertreten durch Mag. Stefan Weidinger, Rechtsanwalt in Scharnstein, als Verfahrenshelfer, wegen Rückführung der Minderjährigen Z*, geboren am *, über den Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts Wels als Rekursgericht vom 27. März 2019, GZ 21 R 62/19w‑25, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Wels vom 18. Februar 2019, GZ 30 Ps 20/19b‑13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E125250

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

Die Ehe der Eltern wurde mit Urteil des Bezirksgerichts Wloclawek vom 7. 10. 2014 durch Scheidung ohne Schuldausspruch aufgelöst. Die Punkte 2. und 3. dieses Scheidungsurteils lauten wie folgt:

„2. die Ausübung der elterlichen Sorge für das minderjährige Kind der Parteien, Z*, geboren am * in R*, wird den beiden Parteien übertragen, wobei der Aufenthalt des Kindes am jeweiligen Wohnort der Beklagten M* bestimmt wird.

3. Es wird entschieden, dass der Ort und die Zeit der Kontakte des Klägers R* mit dem minderjährigen Kind der Parteien von den Parteien vereinbart werden.“

Bis zur Verbringung der Minderjährigen nach Österreich hatte der Vater laufend Kontakt mit der Minderjährigen und übte die Obsorge bis zur Verbringung tatsächlich aus. Im September 2018 übersiedelte die Mutter mit der Minderjährigen nach Österreich.

Das Erstgericht verpflichtete die Mutter zur Rückführung der Minderjährigen nach Polen. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Die Verletzung des Mitsorgerechts sei stets als widerrechtlich im Sinn von Art 3 HKÜ zu werten, wenn dem Inhaber des alleinigen Aufenthaltsbestimmungsrechts nicht ausdrücklich der Umzug mit dem Kind ins Ausland gestattet worden ist.

Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil das Rekursgericht von der Rechtsansicht des Obersten Gerichtshofs abgewichen sein könnte.

Rechtliche Beurteilung

Hierzu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Der Revisionsrekurs ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig; er ist aber nicht berechtigt.

1.1. Zweck des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, BGBl 1988/512, ist es, die ursprünglichen tatsächlichen Verhältnisse wiederherzustellen, um zu gewährleisten, „dass das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht auf persönlichen Verkehr in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird“ (Art 1 HKÜ). Das Übereinkommen soll verhindern, dass für das Kind im Zufluchtsland eine Aufenthaltszuständigkeit begründet wird, die eine Abänderung der Obsorgeregelung im Herkunftsland ermöglicht (RS0109515). Es strebt die Wiederherstellung der ursprünglichen Tatsachenverhältnisse nach einem unter Ausblendung von Rechtsfragen durchgeführten Schnellverfahren an (RS0074532).

1.2. Sachliche Anwendungsvoraussetzung für das HKÜ ist die „Entführung“, das ist das „widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten“ des Kindes außerhalb des Herkunftslands (6 Ob 73/12x mwN). Gemäß Art 3 HKÜ gilt das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes als widerrechtlich, wenn

a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Herkunftsstaats zusteht, und

b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

1.3. Die in dieser Bestimmung angeführten Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (RS0106624). Nach Art 3 HKÜ ist nur die Frage, welcher Person das Sorgerecht zusteht, nach dem Recht des Staates zu beurteilen, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht aber auch die Frage, ob das Verbringen oder Zurückhalten in Verletzung dieses Sorgerechts als widerrechtlich anzusehen ist (RS0119948 [T5]). Diese Beurteilung ist im Entführungsstaat autonom vorzunehmen (RS0119948 [T3]). Es handelt sich um eine zweistufige Prüfung, bei der im ersten Schritt nach dem über Art 3 lit a HKÜ ermittelten Recht zu prüfen ist, ob und mit welchem Inhalt ein Sorgerecht besteht und im zweiten Schritt, ob es sich dabei um ein Sorgerecht iSd Art 5 lit a HKÜ handelt (Nademleinsky/Neumayr in Internationales Familienrecht² Rz 09.12 ff).

1.4. Im Zusammenhang mit der Kindesentführung steht das Aufenthaltsbestimmungsrecht im Vordergrund. Schloss das (hier nach polnischem Recht zu beurteilende) Mitobsorgerecht des Vaters daher nicht auch die Befugnis ein, den Aufenthaltsort des Kindes mitzubestimmen, dann kann es durch die Wahl eines ihm nicht genehmen Aufenthaltsorts des Kindes durch die Mutter nicht (iSd HKÜ) verletzt werden (RS0112167; Nademleinsky in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, HKÜ Art 5, Rz 1).

2.1. In der Entscheidung 1 Ob 167/08b sprach der Oberste Gerichtshof aus, es sei entscheidungswesentlich, ob dem Vater infolge des behördlichen Entzugs der Obhut auch das Recht zur (Mit‑)Bestimmung des Aufenthaltsorts der Kinder entzogen wurde oder dieses Recht weiterhin als Teil des Sorgerechts bei ihm verblieben ist. In diesem Fall ergab sich aber aus dem anwendbaren Schweizerischen Recht, dass die behördliche Übertragung der alleinigen Obsorge auf einen Elternteil auch zur Folge hat, dass diesem unabhängig vom Einverständnis des anderen Elternteils das Recht zusteht, über den Ort der Unterbringung des Kindes zu entscheiden. Damit stellte die Übertragung der Obhut auf die Mutter eine „ausdrückliche, anderslautende Anordnung“ dar, mit der das Aufenthaltsbestimmungsrecht des nicht obhutsberechtigten Vaters nach Maßgabe des Art 5 lit a HKÜ aufgehoben und nunmehr allein der Mutter zugewiesen wurde.

2.2. Die Entscheidung 6 Ob 143/18z betraf einen Fall, in dem das ungarische Pflegschaftsamt die Wohnanschrift der Mutter als langfristigen, ausländischen Aufenthaltsort des Kindes bestimmt hatte. Der erkennende Senat sprach aus, dass die Festlegung des Aufenthaltsorts des Kindes am Wohnort der Mutter durch die ausländische Behörde der Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechts an die Mutter gleichzuhalten ist. Diesfalls ist der Aufenthalt des Kindes an diesem Ort (ab Rechtswirksamkeit dieser Entscheidungen der ungarischen Behörden) rechtmäßig und damit eine Verletzung des Sorgerechts des Vaters im Sinne des Art 3 HKÜ nicht mehr möglich.

3.1. Nach Nademleinsky (EF‑Z 2009/62 = Glosse zu 1 Ob 167/08b) dürfe nicht übersehen werden, dass Art 3 lit a HKÜ im Normalfall an die Obsorge und nicht an das Aufenthaltsbestimmungsrecht anknüpfe, weshalb Kindesentführung schon auch dann vorliege, wenn das Kind einem Elternteil entzogen wird, der zwar nicht über den Aufenthalt des Kindes, aber beispielsweise über andere Aspekte der Obsorge (mit‑)entscheiden kann. Sinn des HKÜ sei dem entsprechend (auch) zu gewährleisten, dass das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht auf persönlichen Verkehr in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird (Art 1 HKÜ).

3.2. Die deutsche Literatur ist uneinheitlich. Nach Pape (Internationale Kindesentführung 55 ff) komme dem Aufenthaltsbestimmungsrecht im HKÜ zwar eine besondere Bedeutung zu, weshalb dann, wenn im Vorfeld einer Entführung ausdrücklich über diesen Teilbereich des Sorgerechts eine Bestimmung getroffen worden sei, grundsätzlich kein widerrechtliches Verhalten vorliegen könne, allerdings sollten die Grenzen dort gezogen werden, wo das Sorgerecht des anderen Elternteils durch den Wegzug zu stark beeinträchtigt wird. Es müsse gewährleistet sein, dass trotz des Umzugs des Kindes das Sorgerecht des zurückbleibenden Elternteils noch immer ausgeübt werden könne.

3.3. Nach Hausmann (Internationales und Europäisches Familienrecht² Rz 97 f zu Art 3 HKÜ mwN) spreche vieles dafür, die Verletzung des Mitsorgerechts stets als widerrechtlich im Sinn von Art 3 HKÜ zu werten, wenn dem Inhaber des alleinigen Aufenthaltsbestimmungsrechts nicht ausdrücklich der Umzug mit dem Kind ins Ausland gestattet worden ist. Dieser Ansicht schloss sich das Rekursgericht an.

3.4. Vereinzelt haben deutsche Gerichte entschieden, dass auch der Elternteil, der das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht hat, das ansonsten bestehende Mitsorgerecht des anderen verletze, wenn er durch Verbringen des Kindes in ein fernes Land das Besuchsrecht des anderen praktisch unmöglich mache (vgl die Judikaturnachweise bei Heiderhoff in MünchKomm BGB KindEntfÜbk Art 3 FN 15).

4.1. Das anwendbare ausländische Recht ist nach § 4 IPRG grundsätzlich von Amts wegen zu ermitteln. Der erkennende Senat hat allerdings ausgesprochen, dass das Verfahren nach dem HKÜ ein Eilverfahren ist, weshalb der Antragsteller dem Gericht die rechtlichen Grundlagen seines Anspruchs, und zwar auch das anzuwendende ausländische Recht, zu bescheinigen hat (6 Ob 143/18z). Die Entscheidung betraf die – im konkreten Fall unterbliebene – Bescheinigung, dass der Kindesvater ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des ausländischen Pflegschaftsgerichts erhoben hatte und diesem aufschiebende Wirkung zukam. Die dem Antragsteller obliegende Bescheinigungspflicht schließt jedoch die amtswegige Berücksichtigung leicht zugänglicher Erkenntnisquellen wie insbesondere der im Rahmen des Europäischen Justiziellen Netzwerks zur Verfügung gestellten Informationen nicht aus.

4.2. Nach den in der EJN Datenbank (https://e‑justice.europa.eu/content_lawful_removal_of_the_child ‑289-pl-de.do?init=true&member=1) enthaltenen Informationen wird nach polnischem Recht die elterliche Verantwortung von beiden Eltern gemeinsam ausgeübt. Nach Art 97 Abs 2 des Familien- und Vormundschaftsgesetzbuchs darf ein Elternteil ein Kind nur dann ohne Einwilligung des anderen Elternteils ins Ausland verbringen, wenn […] d) die Rechte und Pflichten der Eltern gegenüber dem Kind aufgrund eines Gerichtsurteils über die Scheidung (Artikel 58 Absätze 1 und 1a Familien- und Vormundschaftsgesetzbuch), [...] geändert worden sind. [...] In diesen Fällen kann das Gericht die Ausübung der elterlichen Verantwortung einem Elternteil übertragen und bestimmte Rechte und Pflichten des anderen Elternteils gegenüber dem Kind beschränken. Wenn ein Scheidungsgericht die Ausübung der elterlichen Verantwortung einem Elternteil überträgt und die elterliche Verantwortung des anderen Elternteils beschränkt, wird diesem die elterliche Verantwortung für das Kind zwar nicht ganz entzogen, aber er kann seine Rechte und Pflichten nur insoweit wahrnehmen, wie das Gericht es zulässt. Wenn das Gericht dem anderen Elternteil kein Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind einräumt, entscheidet der Elternteil, dem die elterliche Verantwortung übertragen wurde, grundsätzlich allein über den Aufenthalt des Kindes.

4.3. Die Einwilligung des anderen Elternteils ist unter anderem dann erforderlich, wenn seine elterliche Verantwortung, nicht aber sein Aufenthaltsbestimmungsrecht eingeschränkt worden ist. Die polnische Rechtsprechung geht in diesem Punkt sogar noch weiter. Wie der Oberste Gerichtshof (Sąd Najwyższy) in seiner Entscheidung vom 10. November 1971 in der Sache III CZP 69/71 ausgeführt hat, sollte ein Elternteil, der berechtigt ist, ein Kind an seinem Aufenthaltsort unterzubringen, das Recht haben, über einen Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes mit zu entscheiden, wenn ihn dieser Wechsel daran hindern würde, weiterhin Umgang mit seinem Kind zu haben. Danach kann dieser Elternteil, auch wenn das Gericht beispielsweise in einem Scheidungsverfahren dem anderen Elternteil kein Mitspracherecht über den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes eingeräumt hat, die Rückführung des Kindes verlangen, wenn er sein Umgangsrecht nicht mehr wahrnehmen kann.

4.4. Weil die Formulierung im angeführten Text des Europäischen Justiziellen Netzwerks missverständlich erschien, hat der erkennende Senat den Wortlaut der zitierten Entscheidung im Original überprüft. Demnach ist die Zustimmung des Vormundschaftsgerichts zu der Ausreise (Übersiedlung) ins Ausland eines Minderjährigen mit dem Elternteil, dem die Ausübung der elterlichen Sorge zugesprochen wurde, erforderlich, wenn der andere Elternteil, dem die Aufsicht/Mitbestimmung über die Erziehung des Kindes zugesprochen wurde, keine Zustimmung zu der Übersiedlung gegeben hat. Auch wenn ein Elternteil nicht über den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann (also nicht berechtigt ist, das Kind bei sich unterzubringen, aber – wie in diesem Fall – über die Erziehung mitbestimmen kann), ist seine Zustimmung zur Übersiedlung ins Ausland mit dem anderen Elternteil erforderlich. Mangels Zustimmung muss das Vormundschaftsgericht entscheiden.

5. Daraus ergibt sich, dass im vorliegenden Fall der Mutter gerade kein alleiniges Recht zukam, einen ausländischen Aufenthaltsort des Kindes festzulegen. Die Vorgangsweise der Mutter stellt daher einen „Sorgerechtsbruch“ im Sinn des HKÜ dar (vgl zum „Domizilelternteil“ nach österreichischem Recht 6 Ob 170/16t). Soweit die Mutter in dritter Instanz neuerlich vorbringt, die Obsorge wäre vom Vater tatsächlich nicht ausgeübt worden, entfernt sie sich vom festgestellten Sachverhalt.

6. Damit erweist sich der angefochtene Beschluss als frei von Rechtsirrtum, sodass dem unbegründeten Revisionsrekurs ein Erfolg zu versagen war.

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