OGH 6Ob143/18z

OGH6Ob143/18z26.9.2018

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers R* M*, vertreten durch Dr. Bernhard Zettl, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die Antragsgegnerin K* G*, vertreten durch MMag. Hermann Bogensperger, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen Rückführung der minderjährigen L* M*, geboren am * 2008, infolge des Revisionsrekurses der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 30. Mai 2018, GZ 21 R 142/18f‑66, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 16. März 2018, GZ 20 Ps 173/17g‑57, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E122853

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Das Verfahren über den Revisionsrekurs wird unterbrochen. Es wird nur auf Antrag fortgesetzt.

 

Begründung:

Der Antragsteller und die Antragsgegnerin sind die Eltern der am * 2008 geborenen Minderjährigen (in der Folge „Kind“). Die Eltern und das Kind sind ungarische Staatsangehörige. Sie waren nie miteinander verheiratet und leben seit 2009 getrennt. Aufgrund eines vor dem Amtsgericht P* am 8. 11. 2011 abgeschlossenen Vergleichs ist die Mutter mit der alleinigen Obsorge für den Teilbereich der Pflege und Erziehung betraut.

Bis 22. 4. 2017 hatte das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Ungarn. Dort besuchte es vom 1. 9. 2016 bis 22. 4. 2017 auch die Grundschule. Es fanden 14-tägige Besuchskontakte mit dem Vater statt.

Im Dezember 2016 zog die Mutter nach Österreich; das Kind blieb unter der Aufsicht von Großmutter und Tante mütterlicherseits in Ungarn. Nachdem die Mutter mit ihrem Lebensgefährten eine Wohnung gefunden hatte, holte sie das Kind zu sich nach Österreich. Seit 22. 4. 2017 hält sich das Kind mit seiner Mutter in Salzburg auf und geht hier in die Schule.

Der Vater stimmte einem Umzug des Kindes nach Österreich nicht zu.

Am 20. 7. 2017 beantragte der Vater die Rückführung des Kindes nach Ungarn. Das Verbringen des Kindes sei nach ungarischem Recht rechtswidrig. Danach würden die getrennt lebenden Eltern in wesentlichen Fragen, die das Schicksal des Kindes berühren, wie etwa die Bestimmung eines ausländischen Aufenthaltsorts für einen längeren Aufenthalt, ihre Rechte selbst dann gemeinsam ausüben, wenn die elterliche Sorge aufgrund einer Übereinkunft der Eltern oder einer Entscheidung des Gerichts von (nur) einem Elternteil ausgeübt werde.

Die Mutter trat dem Antrag entgegen.

Die Vorinstanzen ordneten die Rückführung des Kindes nach Ungarn an. Nach dem maßgeblichen ungarischen Recht könnten getrennt lebende Eltern die Bestimmung eines ausländischen Aufenthaltsorts für einen längeren Aufenthalt oder eine Niederlassung nur gemeinsam vornehmen. Könnten sich die getrennt lebenden Eltern hinsichtlich einzelner, im Gesetz festgelegter gemeinsam ausgeübter Sorgerechte nicht einigen – wie etwa die Bestimmung eines ausländischen Aufenthaltsorts für einen längeren Aufenthalt – entscheide darüber die Vormundschaftsbehörde (§ 4:175 des Gesetzes Nr V. vom Jahre 2013 über das Bürgerliche Gesetzbuch). Der Vater habe der Übersiedlung des Kindes nach Österreich nicht zugestimmt, eine die Übersiedlung nach Österreich genehmigende Entscheidung der Vormundschaftsbehörde liege nicht vor. Umstände gemäß Art 13 HKÜ, die der Rückführung entgegenstehen könnten, lägen nicht vor.

Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter, in dem sie unter anderem geltend macht, das Jugendamt in Ungarn habe den Aufenthaltsort des Kindes an der Adresse der Mutter in Österreich als langfristigen Hauptwohnsitz bestätigt. Das Urteil sei noch nicht rechtskräftig.

In weiterer Folge legte sie eine Abschrift des Beschlusses des Regierungsamts des Komitats B* (B* Megyei Kormányhivatal), Kreisamt S* (S* Járási Hivatal, „Pflegschaftsamt“) vom 14. 5. 2018 in ungarischer Sprache samt beglaubigter deutscher Übersetzung des Spruchs, der Rechtsmittelbelehrung, des Datums und der Unterschrift der Entscheidungsorgane vor. Daraus ergibt sich, dass die genannte Behörde Österreich, * (Wohnadresse der Mutter) als langfristigen, ausländischen Aufenthaltsort des Kindes bestimmt hat.

Weiters legte sie eine Abschrift des in zweiter Instanz ergangenen Beschlusses des Regierungsamts des Komitats B* (B* Megyei Kormányhivatal), Behördliche Hauptabteilung, Abteilung für Soziales und Pflegschaftssachen (Hatósági Föosztály, Szociális És Gyámügyi Osztály) vom 2. 7. 2018 in ungarischer Sprache samt beglaubigter deutscher Übersetzung des Spruchs, der Rechtsmittelbelehrung, des Datums und der Unterschrift der Entscheidungsorgane vor. Daraus ergibt sich, dass die Berufung des Vaters gegen den erwähnten Beschluss vom 14. 5. 2018 abgewiesen und die angefochtene Entscheidung aufrechterhalten wurde. Der Beschluss enthält die Aussage, er werde rechtskräftig, eine Berufung dagegen sei nicht zulässig. Weiters findet sich der Hinweis, es könne binnen 30 Tagen nach Mitteilung des Beschlusses gegen den rechtskräftigen Beschluss unter Bezugnahme auf eine Rechtsverletzung durch die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung vor dem Verwaltungs- und Arbeitsgericht P* ein Verwaltungsverfahren gemäß § 114 Abs (1) des ungarischen Gesetzes Nr CL/2016 über die allgemeine Regelung der öffentlichen Verwaltung eingeleitet werden.

Der Vater beantragt in der ihm vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben. Er bringt ua – insoweit von der Mutter nicht bestritten – vor, er habe gegen den erwähnten Beschluss des Regierungsamts des Komitats B* vom 2. 7. 2018 beim Verwaltungs- und Arbeitsgericht P* Klage erhoben, weshalb die genannte Entscheidung nicht rechtskräftig sei.

Eine Entscheidung des Verwaltungs- und Arbeitsgerichts P* über die vom Vater eingebrachte Klage ist nicht aktenkundig.

Rechtliche Beurteilung

Das Verfahren über den Revisionsrekurs ist zu unterbrechen.

Der Senat hat Folgendes erwogen:

1. Vorbemerkungen

Zur (ursprünglichen) Verletzung des Sorgerechts des Vaters durch die Mutter iSd Art 3 HKÜ wird auf die Begründung der Vorinstanzen und deren Bezug auf das von den Parteien nicht bestrittene ungarische Recht verwiesen.

Die genannten ungarischen Behörden waren gemäß Art 10 Brüssel IIa‑VO (EuEheVO) für die von ihnen getroffenen Entscheidungen international zuständig (vgl auch RIS‑Justiz RS0125592; RS0126187).

2. Gesetzliche Grundlagen

§ 111e AußStrG lautet:

„Wird dem Antragsgegner während des im Inland anhängigen Rückführungsverfahrens von der zuständigen Behörde im ersuchenden Staat das Recht zur Bestimmung des Aufenthalts für das widerrechtlich verbrachte oder zurückgehaltene Kind zwar rechtswirksam, jedoch bloß vorläufig oder nicht rechtskräftig zugewiesen, so ist das Rückführungsverfahren gemäß § 25 Abs 2 Z 1 zu unterbrechen. Wird dem Antragsgegner das Aufenthaltsbestimmungsrecht endgültig und rechtskräftig zugewiesen, ist das Rückführungsverfahren einzustellen.“

Diese Bestimmung wurde mit dem Kinder‑RückführungsG 2017 – KindRückG 2017 (BGBl I 2017/130) eingeführt, trat gemäß § 207n AußStrG mit 1. September 2017 in Kraft und ist daher im vorliegenden Fall anzuwenden.

In der Begründung des Initiativantrags (IA 2243/A, 25. GP  7) heißt es zu dieser Bestimmung:

„Wie in der Praxis vorzugehen ist, wenn während des anhängigen Rückführungsverfahrens im Fluchtstaat eine Sorgerechtsentscheidung im Ursprungsstaat ergeht, ist bisher nicht geregelt. Dass es keine Rückführung mehr geben kann, sobald eine endgültige Sorgerechtsentscheidung das Aufenthaltsbestimmungsrecht dem vormals entführenden Elternteil allein eingeräumt hat, ist klar. Angemessen ist hier eine Einstellung des Verfahrens. Im Fall einer noch nicht rechtskräftigen sowie einer bloß vorläufigen Entscheidung soll, einer Anregung aus der Praxis des OGH folgend, mit Unterbrechung des Rückführungsverfahrens vorgegangen werden.“

3. Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter

Im vorliegenden Fall wurde der Mutter als Antragsgegnerin zwar nicht das Recht zur Bestimmung des Aufenthalts des Kindes zugewiesen. Die ungarischen Behörden haben aber die derzeitige Wohnadresse der Mutter in Österreich als „langfristigen, ausländischen Aufenthaltsort des Kindes“ bestimmt.

Dies ist der Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechts an die Mutter insoweit gleich zu halten, als mit der Bestimmung des langfristigen, ausländischen Aufenthaltsorts am Wohnort der Mutter der Aufenthalt des Kindes an diesem Ort (ab Rechtswirksamkeit dieser Entscheidungen der ungarischen Behörden) rechtmäßig und damit eine Verletzung des Sorgerechts des Vaters iSd Art 3 HKÜ nicht mehr möglich ist.

4. Einstellung gemäß § 111e Satz 2 AußStrG

Die zweitinstanzliche ungarische Entscheidung bezeichnet sich zwar als „rechtskräftig“. Ob aber eine Entscheidung einer ausländischen Behörde iSd § 111e AußStrG „rechtskräftig“ ist, ist nach den Maßstäben des österreichischen Verfahrensrechts zu beurteilen. Danach ist eine Entscheidung (formell) rechtskräftig, wenn sie in der Rechtssache, in der sie ergangen ist, unanfechtbar ist (RIS‑Justiz RS0041288).

Dies trifft auf die zweitinstanzliche ungarische Entscheidung nicht zu. Denn aus deren Rechtsmittelbelehrung geht hervor, dass dagegen ein Verfahren vor dem zuständigen Verwaltungs- und Arbeitsgericht angestrengt werden kann; dies hat der Vater auch getan, sodass eine Aufhebung der Entscheidungen der ungarischen Behörden „wegen Rechtsverletzungen“ möglich ist.

Es liegt daher mit dem Beschluss des Regierungsamts des Komitats B* vom 2. 7. 2018 keine „rechtskräftige“ Entscheidung iSd § 111e AußStrG vor. Eine Einstellung des Rückführungsverfahrens nach dieser Gesetzesbestimmung kommt daher nicht in Betracht.

Ergänzend sei der Vollständigkeit halber angemerkt: Die im ausländischen Recht allenfalls gegebene Möglichkeit, eine rechtskräftige Entscheidung in Ausnahmsfällen, etwa im Wege einer Nichtigerklärung oder einer Wiederaufnahme (vgl §§ 529 ff ZPO; §§ 72 ff AußStrG), zu beseitigen, steht hingegen der „Rechtskraft“ einer Entscheidung iSd § 111e AußStrG nicht entgegen.

5. Unterbrechung gemäß § 111e Satz 1 AußStrG

Zu prüfen ist daher weiter, ob die Voraussetzungen für die Unterbrechung des Rückführungsverfahrens nach § 111e Satz 1 AußStrG gegeben sind.

5.1. Dass die beiden Entscheidungen der ungarischen Behörden „bloß vorläufig“ sind, ergibt sich aus deren Spruch nicht.

5.2. Wie unter Punkt 4. dargelegt, liegt im zweitinstanzlichen Beschluss vom 2. 7. 2018 eine „nicht rechtskräftige“ Entscheidung iSd § 111e AußStrG vor.

5.3. § 111e Satz 1 AußStrG verlangt für die Unterbrechung schließlich, dass die bloß vorläufige oder nicht rechtskräftige Entscheidung „rechtswirksam“ ist.

Nademleinsky/Neumayr, Internationales Familienrecht2 (2017) Rz 09.27 verstehen dies als „verbindlich“. Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 (2019), § 25 Rz 56 (in Vorbereitung) versteht „rechtswirksam“ iSd §§ 43, 44 AußStrG.

Beide Fundstellen beziehen sich auf die Entscheidung 6 Ob 27/11f = iFamZ 2011, 179 (Fucik). Dort wurde eine vorläufige Entscheidung für relevant gehalten, wenn sie nach dem Recht des Herkunftsstaats verbindlich iSd § 44 AußStrG ist (vgl auch 6 Ob 10/17i = iFamZ 2017, 121 [Fucik]: verbindlich iSd § 40 Abs 1 dFamFG: „wirksam“).

„Rechtswirksam“ ist also eine Entscheidung iSd § 111e AußStrG, wenn ihr nach dem ausländischen Recht die Beschlusswirkungen iSd § 43 Abs 1 AußStrG (Vollstreckbarkeit, Verbindlichkeit der Feststellung oder Rechtsgestaltung) zukommen oder mit anderen Worten wenn ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung keine aufschiebende Wirkung hat.

5.4. Aus der vorliegenden deutschen Übersetzung des Spruchs sowie der Rechtsmittelbelehrung des Beschlusses vom 2. 7. 2018 ergibt sich nicht, ob der Beschluss rechtswirksam ist.

5.5. Das Verfahren nach dem HKÜ ist ein Eilverfahren (vgl 1 Ob 163/09s). Für das Provisorialverfahren wurde ausgesprochen, dass der Antragsteller dem Gericht die rechtlichen Grundlagen seines Anspruchs, und zwar auch das anzuwendende ausländische Recht, zu bescheinigen hat (SZ 45/94; RIS-Justiz RS0045163 [T3]). Art 8 lit f HKÜ sieht vor, dass dem Antrag auf Rückführung eine Bescheinigung oder eidesstattliche Erklärung (Affidavit) über die einschlägigen Rechtsvorschriften des Ursprungsstaats beigefügt werden kann.

In diesem Sinn hat der Antragsteller (Gegner des Entführers) zumindest zu behaupten, dass er gegen eine nicht rechtskräftige ausländische Entscheidung iSd § 111e AußStrG ein Rechtsmittel oder einen sonstigen Rechtsbehelf erhoben hat und dass diesen nach dem ausländischen Verfahrensrecht aufschiebende Wirkung zukommt (so auch Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 [2019], § 25 Rz 56 [in Vorbereitung]).

Dass die vom Vater beim Verwaltungs- und Arbeitsgericht eingebrachte Klage aufschiebende Wirkung hat, hat er aber nicht einmal behauptet. Es ist daher davon auszugehen, dass der Beschluss des Regierungsamts des Komitats B* vom 2. 7. 2018 rechtswirksam iSd § 111e Satz 1 AußStrG ist.

5.6. Die Voraussetzungen für eine Unterbrechung des Rückführungsverfahrens gemäß § 111e Satz 1 AußStrG liegen daher vor.

5.7. Eine Unterbrechung kann auch noch im Rechtsmittelverfahren, somit auch im Verfahren über einen Revisionsrekurs, stattfinden (RIS-Justiz RS0036801 [T6]; 2 Ob 334/98s; 3 Ob 84/99w; 2 Ob 64/14x ua).

5.8. Der Ausspruch, dass das Verfahren nur auf Antrag fortgesetzt wird, gründet sich auf § 26 Abs 3 AußStrG.

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