OGH 2Ob155/17h

OGH2Ob155/17h24.10.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Vizepräsidentin Hon.‑Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Fichtenau, Dr. Musger, Dr. E. Solé und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei D* K*, vertreten durch Dr. Peter Klaunzer, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei J* S*, vertreten durch Mag. Dominik Hiehs, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 6.766,37 EUR sA, über die Revision des Klägers (Revisionsinteresse 6.367,38 EUR sA) gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 20. April 2017, GZ 1 R 44/17b‑31, mit welchem infolge Berufungen beider Parteien das Urteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 21. Dezember 2016, GZ 30 C 347/15h‑25, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:E119927

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird teils bestätigt und teils dahin abgeändert, dass sie einschließlich der bereits rechtskräftig gewordenen Abweisung eines Teilbegehrens lautet:

„1. Die Klageforderung besteht mit 4.775,53 EUR zu Recht.

2. Die Gegenforderung besteht mit 2.097,63 EUR zu Recht.

3. Der Beklagte ist daher schuldig, dem Kläger binnen 14 Tagen 2.677,90 EUR samt 4 % Zinsen ab 8. August 2014 zu zahlen. Das Mehrbegehren auf Zahlung von 4.088,47 EUR samt Zinsen wird abgewiesen.

Der Kläger ist schuldig, dem Beklagten binnen 14 Tagen einen mit 552,48 EUR bestimmten Anteil an den Kosten des Verfahrens erster Instanz (darin 79,78 EUR Umsatzsteuer, 73,80 EUR Barauslagen) zu ersetzen.

Der Beklagte ist schuldig, dem Kläger binnen 14 Tagen einen mit 119,60 EUR bestimmten Anteil an den Barauslagen des Verfahrens erster Instanz zu ersetzen.“

Der Beklagte ist schuldig, dem Kläger binnen 14 Tagen einen mit 792,78 EUR bestimmten Anteil an den Kosten des Berufungsverfahrens (darin 74,65 EUR Umsatzsteuer, 344,86 EUR Barauslagen) zu ersetzen.

Der Kläger ist schuldig, dem Beklagten binnen 14 Tagen einen mit 125,30 EUR bestimmten Anteil an den Kosten des Revisionsverfahrens (darin 20,88 EUR Umsatzsteuer) zu ersetzen.

Der Beklagte ist schuldig, dem Kläger binnen 14 Tagen einen mit 272,40 EUR bestimmten Anteil an den Barauslagen des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Gegenstand des Verfahrens ist ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker und Halter eines Motorrads und der Beklagte als Lenker eines Fahrrads beteiligt waren. Der Unfall ereignete sich auf einer Freilandstraße mit einer verordneten Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h unmittelbar nach einem Ortsgebiet. Der Beklagte fuhr mit seinem Fahrrad bereits außerhalb des Ortsgebiets, wobei er in der rechten Hand eine Hacke trug. Den Lenker hielt er nur mit der linken Hand, eine besonders schwankende Fahrlinie oder ein sonst auffälliges Verhalten konnte nicht festgestellt werden. Er wollte nach links abbiegen, blickte aber nicht zurück und ordnete sich auch nicht zur Fahrbahnmitte hin ein. Ob er ein Handzeichen gab, konnte nicht festgestellt werden; jedenfalls gab er es nicht so rechtzeitig, dass der Nachfolgeverkehr noch ohne Gefährdung darauf reagieren konnte.

Der Kläger näherte sich dem Beklagten von hinten an und wollte ihn überholen. Als er bemerkte, dass der Beklagte nach links abbog, fasste er unverzüglich, und zwar noch im Ortsgebiet, einen Bremsentschluss. Seine Bremsausgangsgeschwindigkeit betrug zwischen 71 und 85 km/h; die Bremsspur begann etwa 7 m nach der Ortstafel. Trotz der unverzüglichen Reaktion kam es zum Zusammenstoß, bei dem beide Parteien stürzten und Personen- und Sachschäden erlitten. Die Höhe dieser Schäden ist unstrittig (Kläger 6.367,37 EUR, Beklagter 8.390,50 EUR).

Der Kläger begehrt den Ersatz seines ursprünglich mit 6.766,37 EUR bezifferten Schadens. Strittig ist nur noch ein Betrag von 6.367,37 EUR; die Abweisung eines Mehrbegehrens von 399 EUR ließ der Kläger schon im ersten Rechtsgang unbekämpft. Den Beklagten treffe wegen des unvermittelten Abbiegens das Alleinverschulden, weil er selbst zwar die höchstzulässige Geschwindigkeit im Ortsgebiet (§ 20 Abs 2 StVO) überschritten habe, dies aber nicht im Rechtswidrigkeitszusammenhang mit der außerhalb des Ortsgebiets erfolgten Kollision stehe.

Der Beklagte wendet ein, dass der Schutzzweck des § 20 Abs 2 StVO auch Unfälle außerhalb des Ortsgebiets erfasse, wenn sich diese – wie hier – nur aufgrund einer Geschwindigkeitsüberschreitung im Ortsgebiet ereignen konnten. Maßgebend sei die Geschwindigkeit im Zeitpunkt des Bremsentschlusses, den der Kläger jedenfalls noch im Ortsgebiet gefasst habe. Jedenfalls sei aber auch eine überhöhte Geschwindigkeit des Klägers außerhalb des Ortsgebiets (bei Wirksamwerden der Bremsung) nicht auszuschließen. Schon das begründe seine Haftung. Der Beklagte habe Schäden in Höhe von 10.116,50 EUR erlitten, die er aufrechnungsweise einwende.

Das Erstgericht sprach im zweiten Rechtsgang aus, dass die Klageforderung mit 3.183,89 EUR und die Gegenforderung bis zur Höhe der Klageforderung zu Recht bestehe, und wies das Klagebegehren auf dieser Grundlage ab. Die Parteien treffe ein gleichteiliges Verschulden, da der Kläger im Ortsgebiet zu schnell gefahren sei und sich der Beklagte nicht durch einen Blick nach rückwärts von der Möglichkeit eines gefahrlosen Abbiegens überzeugt habe.

Das von beiden Seiten angerufene Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die Revision nachträglich zu. Dem Kläger falle die Geschwindigkeitsüberschreitung (§ 20 Abs 2 StVO) im Zeitpunkt des Bremsentschlusses zur Last, wobei (nach den Ausführungen des Berufungsgerichts im ersten Rechtsgang) der Rechtswidrigkeitszusammenhang aufgrund der Entscheidung 4 Ob 65/85 zu bejahen sei. Der Beklagte habe das Nichtbeachten des Nachfolgeverkehrs (§ 12 Abs 1 StVO) und die unterbliebene Anzeige der Fahrtrichtungsänderung (§ 11 Abs 2 StVO) zu verantworten. Eine (den Kläger belastende) unklare Verkehrslage sei nicht vorgelegen, weil keine auffallend schwankende Fahrlinie und auch kein sonst auffälliges Verhalten des Beklagten habe festgestellt werden können. Die Revision sei zulässig, weil die Frage des Rechtswidrigkeitszusammenhangs auch anders beurteilt werden könnte.

In der Revision macht der Kläger geltend, der Unfall stehe nicht im Rechtswidrigkeitszusammenhang mit der Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit im Ortsgebiet. Er strebt eine stattgebende Entscheidung im Ausmaß seines festgestellten Schadens von 6.367,37 EUR an, hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.

Der Beklagte beantragt in der Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht die Rechtsprechung zum Schutzzweck von § 20 Abs 2 StVO nicht beachtet hat, sie ist aus diesem Grund auch teilweise berechtigt.

1. Es ist unstrittig, dass den Beklagten wegen des Verstoßes gegen § 11 Abs 2 und § 12 Abs 1 StVO ein Verschulden am Unfall trifft; dazu kommt ein Verstoß gegen § 68 Abs 5 StVO (Mitführen von behindernden Gegenständen am Fahrrad). Zu prüfen ist daher nur die Mitverantwortung des Klägers. Ihn trifft zwar kein Verschulden (unten 2.), wohl aber hat er zufolge Misslingen des Entlastungsbeweises nach § 9 EKHG für die Betriebsgefahr seines Motorrads einzustehen (unten 3.).

2. Die Revision zeigt zutreffend auf, dass der Verstoß des Klägers gegen § 20 Abs 2 StVO nicht im Rechtswidrigkeitszusammenhang mit dem Unfall steht. Sonst fällt dem Kläger kein schuldhaftes Verhalten zur Last.

2.1. Nach ständiger Rechtsprechung besteht kein Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der Überschreitung einer für einen bestimmten Bereich festgesetzten Höchstgeschwindigkeit und einem Unfall, der sich außerhalb dieses Bereichs ereignete (RIS‑Justiz RS0023074). Dies gilt insbesondere für das Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in einem Ortsgebiet; die einen Unfall außerhalb des Ortsgebiets zur Folge hat; die Geschwindigkeitsbeschränkung hat nicht den Zweck, solche Unfälle zu verhindern (RIS‑Justiz RS0023590; insb 8 Ob 132/82). Dabei lagen den zu diesen Rechtssätzen indizierten Entscheidungen 8 Ob 274/71, 2 Ob 229/75 und 2 Ob 257/75 Sachverhalte zugrunde, in denen eine an sich zulässige Bremsausgangsgeschwindigkeit bei vorherigem Einhalten einer an dieser Stelle nicht mehr geltenden Geschwindigkeitsbeschränkung nicht hätte erreicht werden können. In 8 Ob 132/82 hatte sich der Unfall überhaupt – wie hier – nur knapp außerhalb des Ortsgebiets ereignet, wobei der Beklagte im Ortsgebiet mit 75 km/h gefahren war und den Bremsentschluss offenkundig noch innerhalb des Ortsgebiets gefasst hatte. Gründe für ein Abgehen von dieser Rechtsprechung zeigt weder das Berufungsgericht noch die Revisionsbeantwortung auf. Insbesondere kann aus der vom Berufungsgericht genannten Entscheidung 4 Ob 65/85 nichts Gegenteiliges abgeleitet werden, da sich dort der durch Aquaplaning verursachte Unfall innerhalb des Ortsgebiets ereignet und der beklagte Lenker auch eine relativ deutlich überhöhte Geschwindigkeit eingehalten hatte.

2.2. Im vorliegenden Fall hat der Kläger zwar gegen § 20 Abs 2 StVO verstoßen, wobei dieser Verstoß auch kausal für den Unfall war. Der Rechtswidrigkeitszusammenhang ist aber nach der oben dargestellten Rechtsprechung zu verneinen, weil sich der Unfall außerhalb des Ortsgebiets ereignete. Ein Überschreiten der auf der Freilandstraße erlaubten Höchstgeschwindigkeit ist nicht erwiesen, weil die Vorinstanzen keine positive Feststellung über eine höhere Geschwindigkeit als 71 km/h treffen konnten. Die Beweislast trifft hier den Gegner (RIS‑Justiz RS0022783).

3. Der Kläger haftet allerdings als Halter des Motorrads nach §§ 1, 5 EKHG.

3.1. Ereignet sich ein Unfall beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs, so ist der Halter für das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses iSv § 9 EKHG beweispflichtig; allfällige Zweifel gehen daher zu seinen Lasten (2 Ob 262/06b mwN; RIS-Justiz RS0058926, RS0058979, RS0058992). Die Haftung ist nach § 9 Abs 2 EKHG insbesondere dann ausgeschlossen, wenn der Unfall (wie hier) auf ein Verhalten des Geschädigten zurückzuführen ist und der Kläger jede nach den Umständen des Falls gebotene Sorgfalt beachtet hatte. Die nach dieser Bestimmung gebotene Sorgfalt ist die äußerste nach den Umständen des Falls mögliche Sorgfalt (RIS‑Justiz RS0058317; RS0058326). Sie darf zwar nicht überspannt werden; an den Halter dürfen keine unzumutbaren, praktisch unmöglichen Anforderungen gestellt werden (RIS‑Justiz RS0058326 [T1]). Im Rahmen des Zumutbaren muss aber alles vermieden werden, was zur Entstehung einer gefahrenträchtigen Situation führen könnte (2 Ob 210/09k; RIS‑Justiz RS0058326 [T6]).

3.2. Dem Kläger ist es nicht gelungen, die Einhaltung der nach § 9 Abs 2 EKHG gebotenen Sorgfalt zu beweisen. Zum einen ist ihm der Beweis nicht gelungen, dass er die auf der Freilandstraße zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h einhielt. Zum anderen war für ihn erkennbar, dass der Beklagte einhändig fuhr und in der rechten Hand eine Hacke hielt. Damit war es ihm nicht möglich, ein Handzeichen zum Abbiegen nach links zu geben. Auch wenn keine schwankende Fahrlinie und kein (anderes) „auffälliges“ Verhalten des Beklagten festgestellt werden konnte, musste der Kläger nach dem strengen Sorgfaltsmaßstab des § 9 Abs 2 EKHG allein dies zum Anlass nehmen, seine Geschwindigkeit zu reduzieren und mit dem Beklagten vor dem Beginn des Überholens Kontakt aufzunehmen.

4. Im Ergebnis stehen einander daher die Verschuldenshaftung des Beklagten und – wegen des Misslingens des Entlastungsbeweises nach § 9 EKHG – die Gefährdungshaftung des Klägers gegenüber. Letztere muss sich der Kläger auch in Bezug auf seinen eigenen Schaden anrechnen lassen (RIS-Justiz RS0027224). Bei Abwägen der Zurechnungselemente ist angesichts des schwerwiegenden Fehlverhaltens des Beklagten eine Schadensteilung von 3 zu 1 zu dessen Lasten angebracht (vgl 2 Ob 31/87 = RIS‑Justiz RS0027073 [T3]). Die Klageforderung besteht daher mit drei Vierteln des Schadens des Klägers zu Recht (4.775,52 EUR), die Gegenforderung mit einem Viertel des Schadens des Beklagten (2.097,63 EUR). Dem Begehren ist daher mit 2.677,90 EUR stattzugeben; das Mehrbegehren ist abzuweisen.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 43 Abs 1, 50 ZPO.

5.1. Im Verfahren erster Instanz hat der Kläger mit etwa zwei Fünfteln obsiegt (Streitwert 6.766 EUR, Obsiegen 2.677 EUR). Er hat dem Beklagten daher ein Fünftel von dessen Kosten zu ersetzen. Die mit 871,36 EUR als Barauslagen verzeichneten vorprozessualen Kosten hat der Beklagte nicht bescheinigt (§ 54 Abs 1 ZPO). Sie sind der Kostenentscheidung daher nur im vom Kläger nicht beanstandeten Umfang von 369 EUR zugrunde zu legen (§ 54 Abs 1a ZPO). Sie fallen nicht unter § 43 Abs 1 Satz 3 ZPO (M. Bydlinski in Fasching/Konecny 3 § 43 ZPO Rz 7) und gebühren daher ebenfalls nur zu einem Fünftel. Der Beklagte hat dem Kläger zwei Fünftel der allein von ihm getragenen Pauschalgebühr zu ersetzen.

5.2. Die Berufungen des Klägers waren ebenfalls mit etwa zwei Fünfteln erfolgreich (Streitwert 6.367 EUR, Obsiegen 2.677 EUR). Der Kläger hat dem Beklagten daher ein Fünftel der Kosten der Rechtsmittelbeantwortungen zu ersetzen, er selbst hat Anspruch auf zwei Fünftel der Pauschalgebühren. Die Berufungen des Beklagten waren zu etwa einem Sechstel erfolgreich (Streitwert 3.183 EUR, Obsiegen 506 EUR). Der Beklagte hat dem Kläger daher zwei Drittel der Kosten der Berufungsbeantwortungen zu ersetzen, er selbst hat Anspruch auf ein Sechstel der Pauschalgebühr. Die Kosten sind zu saldieren.

5.3. Die Revision des Klägers war wieder mit etwa zwei Fünfteln erfolgreich (Streitwert 6.367 EUR, Obsiegen 2.677 EUR). Der Kläger hat dem Beklagten daher ein Fünftel der Kosten der Rechtsmittelbeantwortungen zu ersetzen, er selbst hat Anspruch auf zwei Fünftel der Pauschalgebühr.

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