OGH 2Ob31/87

OGH2Ob31/8730.6.1987

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Kropfitsch und Dr. Huber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Jörg S***, Schüler, 6850 Dornbirn, Abt-Pfanner-Weg Nr. 1, vertreten durch Dr. Wolfgang Ölz, Rechtsanwalt in Dornbirn, wider die beklagten Parteien 1. Adelheid R***, Krankenschwester, 6850 Dornbirn, Knie 23, 2. I*** U***- und S*** AG,

1010 Wien, Tegetthoffstraße 7, beide vertreten durch Dr. Heinz Glocker, Rechtsanwalt in Dornbirn, wegen Feststellung, infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Berufungsgerichtes vom 6. April 1987, GZ. 1 a R 348/86-31, womit infolge Berufung der klagenden und der beklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Dornbirn vom 28. Mai 1986, GZ. C 4109/84-17, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die unterinstanzlichen Urteile werden dahin abgeändert, daß das erstgerichtliche Urteil zu lauten hat:

Es wird festgestellt, daß die beklagten Parteien zur ungeteilten Hand mit den durch das EKHG bestimmten Beschränkungen dem Kläger für 25 % aller ihm durch den Verkehrsunfall vom 19. November 1981 in Zukunft entstehenden Schäden haften.

Das Mehrbegehren, daß die beklagten Parteien im Ausmaß von weiteren 25 % haften, sowie, daß sie für 50 % der entstandenen Schäden haften, wird abgewiesen.

Die Prozeßkosten sowie die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

Text

Entscheidungsgründe:

Der zum Unfallszeitpunkt ca. 16 Jahre alte Kläger begehrt die Feststellung, daß ihm die Erstbeklagte als Lenkerin und Halterin und die zweitbeklagte Partei als Versicherer des PKW V 82.804 für alle entstandenen sowie zukünftig entstehenden Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 19. November 1981, bei welchem er als Radfahrer niedergestoßen wurde, im Ausmaß von 50 % haften. Die Erstbeklagte habe eine überhöhte Fahrgeschwindigkeit eingehalten und verspätet reagiert, bei vorschriftsmäßiger Fahrweise ihrerseits wäre der Unfall vermieden worden. Eine genaue Bezifferung der Ansprüche des Klägers, der beim Unfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten habe und seither an Schulschwierigkeiten, Kopfschmerzen und Anfällen leide, sei noch nicht möglich, weshalb das rechtliche Interesse an der Feststellung der Haftung der beklagten Parteien für alle Schäden aus dem Unfall zu bejahen sei.

Die beklagten Parteien beantragten Klagsabweisung, weil der Kläger als Radfahrer ein plötzliches unangezeigtes Linksabbiegemanöver durchgeführt habe, so daß die mit ihrem PKW mit 40 bis 50 km/h Fahrgeschwindigkeit nachfolgende Erstbeklagte den Unfall nicht mehr habe vermeiden können. Die unfallsbedingten Verletzungen des Klägers seien auch schon abgeheilt, so daß es an einem Feststellungsinteresse fehle und allfällige Ansprüche verjährt erschienen.

Das Erstgericht gab der Feststellungsklage hinsichtlich der Haftung der beklagten Parteien, bei der zweitbeklagten Partei eingeschränkt auf die Versicherungssumme, für 25 % der dem Kläger in Zukunft entstehenden Schäden statt. Eine Abweisung des Mehrbegehrens unterließ es.

Das Berufungsgericht nahm eine Beweiswiederholung vor und beurteilte den von ihm festgestellten Sachverhalt rechtlich dahin, daß die Erstbeklagte ein Verschulden am Unfall im Ausmaß von 1/3 treffe, sodaß dem Feststellungsbegehren in diesem Umfang, bei der zweitbeklagten Partei eingeschränkt auf die Versicherungssumme, unter Abweisung des Mehrbegehrens stattzugeben sei. Gegen die berufungsgerichtliche Entscheidung erheben die beklagten Parteien eine auf § 503 Abs. 1 Z 2 und 4 ZPO gestützte Revision mit dem Antrage auf Abänderung im Sinne der Klagsabweisung. Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist teilweise gerechtfertigt.

Nach den dem angefochtenen Urteil zugrundeliegenden Feststellungen ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:

Der Kläger fuhr mit seinem Fahrrad auf der ca. 8 m breiten Landesstraße Nr. 3 von Dornbirn in Richtung Schwarzach. Die mit ihrem PKW nachkommende Erstbeklagte beabsichtigte, ihn links zu überholen. In der Folge bog der Kläger vom rechten Fahrbahnrand weg ohne Zeichengebung nach links ab. Es kann weder die von ihm eingehaltene Geschwindigkeit noch seine Fahrlinie festgestellt werden und ebensowenig, zu welchem Zeitpunkt die Erstbeklagte seine Linksabbiegeabsicht erkennen konnte. Die Erstbeklagte hielt eine Bremsausgangsgeschwindigkeit von mindestens 55 km/h ein. In dem - im Ortsgebiet gelegenen - Unfallsbereich gilt eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 km/h. Als die Erstbeklagte das Linksabbiegen des Klägers wahrnahm, lenkte sie zunächst nach links aus, wofür sie 0,2 Sekunden benötigte und bremste dann ihr Fahrzeug bis zur Endlage voll ab. Der Unfall ereignete sich etwas links von der Fahrbahnmitte. Die Erstbeklagte befand sich unter Berücksichtigung der Mindestbremsausgangsgeschwindigkeit von 55 km/h 1,2 Sekunden vor der Kollision noch ca. 18,3 m von der Kollisionsstelle entfernt. Hätte sie zu diesem Zeitpunkt innerhalb einer Sekunde reagiert und mit der erzielbaren Verzögerung von 7,5 m/sec2 gebremst, wäre der Unfall nicht vermieden worden. In diesem Fall hätte sich die Kollisionsgeschwindigkeit auf ca. 40 km/h verringert. Auch wenn die Erstbeklagte bei ihrer Reaktion 1,2 Sekunden vor der Kollision mit der zulässigen Geschwindigkeit von 50 km/h gefahren wäre, wäre es ihr nicht möglich gewesen, die Kollision zu verhindern. Bei Beginn der Reaktionszeit wäre sie von der Kollisionsstelle 16,47 m entfernt gewesen, während der Anhalteweg 26,79 m betragen hätte. Das Feststellungsinteresse bejahte das Berufungsgericht unter Bezugnahme auf die erstgerichtlichen Feststellungen. Danach ist eine Ausheilung der Verletzungen noch nicht erfolgt und mit künftigen Schäden zu rechnen. In seiner rechtlichen Beurteilung lastete das Berufungsgericht der Erstbeklagten einen Verstoß gegen die Schutzvorschriften des § 20 Abs. 1 und 2 StVO an, weshalb ihr im Sinne der §§ 1311 und 1298 ABGB der Beweis ihrer Schuldlosigkeit an der Übertretung obliege. Einen solchen Beweis habe sie nicht erbracht. Auch habe sie nicht bewiesen, daß der Unfall auch bei rechtmäßigem Verhalten ihrerseits in gleicher Weise und mit gleichen Folgen eingetreten wäre. Den Kläger treffe ein Verstoß gegen die Bestimmungen der §§ 11 und 12 StVO und ein überwiegendes Mitverschulden von zwei Dritteln. Im Hinblick auf das Vorliegen eines Dauerschadens sei das Feststellungsinteresse des Klägers zu bejahen.

In der Revision wird als Verfahrensmangel die Nichteinholung eines medizinischen Sachbefundes über die Art und den Umfang der vom Kläger erlittenen Verletzungen sowie über allfällige Dauer- oder Spätfolgen geltend gemacht.

In der Rechtsrüge führen die beklagten Parteien aus, im Hinblick auf die berufungsgerichtlichen Feststellungen, die Kollision sei für die Erstbeklagte auch bei Einhaltung einer Fahrgeschwindigkeit von 50 km/h unvermeidbar gewesen, erschiene ein Mitverschulden der Erstbeklagten am Unfall nicht gegeben, zumindest sei ein solches wegen des überwiegenden Eigenverschuldens des Klägers am Unfall zu vernachlässigen. Im übrigen seien durch das Feststellungsbegehren nur die nach der Klagseinbringung entstehenden, also nicht auch die bereits entstandenen Schäden gedeckt. Schließlich habe das Berufungsgericht keinerlei Feststellungen über die Frage getroffen, ob die Verletzungen des Klägers folgenlos abgeheilt seien oder Spät- und Dauerfolgen in Frage kämen. Der Kläger hätte seine Ansprüche bereits mit Leistungsklage geltend machen können. Aus allen diesen Gründen sei die Klage abzuweisen.

Der von den Revisionswerbern behauptete Verfahrensmangel liegt nicht vor. Nach den in ihrer Berufung unbekämpft gebliebenen und daher auch dem berufungsgerichtlichen Urteil zugrunde gelegten Feststellungen ist eine Ausheilung der unfallsbedingten Verletzungen des Klägers noch nicht erfolgt und mit künftigen Schäden zu rechnen. Die vom Erstgericht unterlassene Einholung eines Sachverständigengutachtens zu diesem Beweisthema wurde von den beklagten Parteien nicht gerügt. Somit kann vom behaupteten Mangel des berufungsgerichtlichen Verfahrens nicht die Rede sein. Die Rechtsrüge der Revisionswerber ist teilweise gerechtfertigt. Die Revisionsausführung, ein "Mitverschulden" der Erstbeklagten am Unfall sei deswegen zu verneinen, weil der Unfall für sie auch bei einer Fahrgeschwindigkeit von 50 km/h unvermeidbar gewesen wäre, übersieht, daß die beklagten Parteien eine Behauptung, auch bei dieser Fahrgeschwindigkeit wäre es zu den gleichen Unfallsfolgen gekommen, nicht aufgestellt haben und derartige Unfallsfolgen auch nicht festgestellt wurden. Der Übertreter einer Schutznorm, hier des von der Erstbeklagten mißachteten § 20 Abs. 2 StVO, muß, um sich von der Haftung gemäß § 1311 ABGB zu befreien, nach ständiger Judikatur aber seinerseits beweisen, daß das Schadensereignis auch ohne sein gesetzwidriges Verhalten in gleichem Umfang bzw. mit den gleichen Folgen eingetreten wäre. Ein solcher Beweis liegt hier nicht vor. Den Revisionswerbern ist dagegen darin zu folgen, daß die geringe Geschwindigkeitsüberschreitung der Erstbeklagten von 5 km/h im Hinblick auf das gewichtige Eigenverschulden des Klägers, der mit seinem Fahrrad plötzlich ohne Zeichengebung vom rechten Fahrbahnrand der 8 m breiten Fahrbahn weg nach links über die Fahrbahnmitte eingebogen ist, bei der Verschuldensabwägung außer Betracht bleiben kann. Nach der Rechtsprechung sind bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h erst Geschwindigkeitsüberschreitungen von mehr als 10 % für die Verschuldensteilung erheblich (ZVR 1978/277, 1979/38, 1981/8, 1983/53, 2 Ob 18/83 ua.).

Wenngleich die Verschuldenshaftung der beklagten Parteien somit zu verneinen ist, erscheint hier die gegenüber dieser ein Minus darstellende Gefährdungshaftung nach den Bestimmungen des EKHG gegeben. Von der Erbringung eines Befreiungsbeweises nach § 9 Abs. 2 EKHG kann wegen der vorschriftswidrigen Fahrweise der Erstbeklagten zwangsläufig keine Rede sein. Vorliegendenfalls ist im Hinblick darauf, daß es sich beim Kläger um einen Radfahrer handelte, auch nicht eine Ersatzpflicht im Sinne des § 11 Abs. 1 EKHG, bei welcher das Verschulden im Vordergrund steht, abzuwägen, vielmehr handelt es sich hier um die Frage der Mithaftung des geschädigten Radfahrers mit dem - mangels eines gelungenen Entlastungsbeweises im Sinne des § 9 Abs. 2 EKHG - nach § 7 EKHG, § 1304 ABGB haftenden Halter bzw. Versicherer für die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeuges. Wie der erkennende Senat zuletzt in der Entscheidung 2 Ob 4/86 = ZVR 1987/25 unter Darstellung der diesbezüglichen Judikatur ausführte, kann die Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeuges in solchen Fällen trotz schwerwiegendem Fehlverhalten des Fußgängers bzw. Radfahrers - ausgenommen wurde der besonders gravierende Fall einer Mißachtung des Rotlichtes auf der ampelgeregelten Kreuzung - nicht gänzlich außer acht gelassen werden. In den vergleichbaren Fällen der Entscheidungen ZVR 1973/27, 1981/84 und 1987/25 erfolgte demgemäß eine Schadensteilung von 3 : 1 zugunsten des Kraftfahrzeughalters. Auch vorliegendenfalls erscheint eine solche Mithaftung der Erstbeklagten als Halterin und der zweitbeklagten Partei als Versicherer für die Schadensfolgen im Ausmaß von 25 % grundsätzlich gerechtfertigt.

Was nun die Zulässigkeit des Feststellungsbegehrens betrifft, sind die Revisionswerber einerseits auf die obigen Ausführungen zu ihrer Mängelrüge zu verweisen. Zum andern ist ihnen aber zuzugestehen, daß die vom Kläger gewählte Formulierung seines Feststellungsbegehrens, wonach ihm die beklagten Parteien für entstandenen und in Zukunft entstehenden Schaden hafteten, mißverständlich und in dieser Form unstatthaft erscheint. In der Klage brachte er vor, die Bezifferung seiner Ansprüche sei noch nicht möglich, weil die Heilbehandlung noch längere Zeit andauern werde, doch stehe schon jetzt fest, daß Dauerfolgen eintreten würden. Im Verhandlungsprotokoll ON 15, AS 55 führte er aus, wegen des noch nicht abgeschlossenen Heilungsverlaufes könne ein Leistungsbegehren noch nicht beziffert werden und es sei mit dem Schreiben der zweitbeklagten Partei Beilage ./F - welches von den beklagten Parteien als echt anerkannt wurde (AS 55) - vereinbart worden, daß vorerst nur ein Feststellungsbegehren zwecks Klärung des Anspruches dem Grunde nach erhoben werde. Damit in Übereinstimmung steht die unbekämpfte erstgerichtliche Feststellung, daß eine Ausheilung der Verletzungen noch nicht erfolgt ist. War die Höhe eines Leistungsanspruches aber noch nicht bezifferbar, dann ist eine Fälligkeit desselben nicht gegeben. Lediglich hinsichtlich bereits fälliger Ersatzansprüche ist das rechtliche Interesse an einer Feststellung zu verneinen (EvBl. 1966/341; ZVR 1973/46 ua.). Noch nicht fällige Ansprüche für eingetretene Schäden sind zukünftige Ansprüche (SZ 54/99, SZ 46/81, ZVR 1980, 289, ZVR 1984/210, ZVR 1986/5 ua.). In der Entscheidung 8 Ob 11/85 sprach der Oberste Gerichtshof unter Hinweis auf die Ausführungen Koziols in Haftpflichtrecht2 I 317 und die dort zitierte Judikatur aus, daß gerade in Fällen, in denen ein Schaden eingetreten ist, seiner Höhe nach aber noch nicht abschließend beurteilt werden kann, eine Feststellungsklage zulässig, weil zur Verhinderung des Ablaufes der Verjährungsfrist erforderlich erscheint.

Somit ist auch vorliegendenfalls davon auszugehen, daß die noch nicht bezifferbaren Schadenersatzansprüche des Klägers künftige Ansprüche darstellen, welche durch das diesbezügliche Feststellungsbegehren gedeckt sind. Das Begehren auf Feststellung der Haftung für bereits entstandene Schäden im Sinne solcher, für welche bereits eine Leistungsklage eingebracht werden könnte, mußte demgemäß abgewiesen werden.

Der Revision war daher teilweise Folge zu geben und spruchgemäß zu entscheiden.

Der Kostenausspruch gründet sich hinsichtlich der Prozeßkosten auf § 43 Abs. 1 ZPO, betreffend die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens auf die §§ 43 Abs. 1 und 50 ZPO.

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