OGH 2Ob79/17g

OGH2Ob79/17g20.6.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr.

 Danzl als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé sowie den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H***** R*****, vertreten durch Dr. Stefan Denifl, Rechtsanwalt in Dornbirn, gegen die beklagten Parteien 1. A***** S*****, und 2. D***** AG *****, beide vertreten durch MMag. Christian Mertens, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen (hinsichtlich zweitbeklagter Partei) restlich 10.538,71 EUR sA und Rente (Streitwert 15.960,96 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 19. Jänner 2017, GZ 1 R 161/16k‑107, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 23. August 2016, GZ 7 Cg 31/12x‑102, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0020OB00079.17G.0620.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die zweitbeklagte Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

 

Begründung:

Der 1959 geborene Kläger wurde am 29. 6. 1979 bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt.

Mit Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 30. 12. 1982 wurde festgestellt, dass die beklagten Parteien – die zweitbeklagte Partei beschränkt mit der Höhe der Haftpflichtversicherungssumme – dem Kläger im Umfang von vier Fünftel für alle Schäden aus dem Verkehrsunfall haften. Die Höhe der Versicherungssumme im Unfallszeitpunkt belief sich auf 2,4 Mio ATS (= 174.414,80 EUR).

Im Jahr 1989 gab der Kläger seine frühere berufliche Tätigkeit als Glaser auf und wechselte zu den S***** (S*****). Wegen seiner unfallsbedingten Beschwerden musste er sich im Jahr 2008 einer Hüftoperation und im Jahr 2010 einer Knieoperation unterziehen. Er erhielt eine künstliche Hüftprothese und eine Kniescheibenprothese eingesetzt. Sein Dienstverhältnis wurde zum 30. 4. 2012 aus gesundheitlichen Gründen aufgelöst.

Der Kläger wird auch in Zukunft unter Schmerzen leiden. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass zu seinen Lebzeiten sowohl die Hüftprothese als auch die Kniescheibenprothese gewechselt werden müssen und daraus weitere Schmerzen ungewissen Ausmaßes entstehen. Ein gesundheitlicher Dauerendzustand ist noch nicht eingetreten.

Der Kläger ist nunmehr arbeitsunfähig. Er bezieht seit 1. 5. 2012 von der Pensionskasse der SBB eine „Invalidenpension und IV-Ersatzrente“ sowie in Österreich eine vorläufige Invaliditätspension. Unter Berücksichtigung seiner Mitschuld von einem Fünftel hat er einen monatlichen Bruttoverdienstentgang in Höhe von 1.370,80 EUR. Wäre es ihm gesundheitlich möglich gewesen, hätte er bis zu seinem 65. Lebensjahr bei der S***** gearbeitet.

Mit der am 1. 3. 2012 eingebrachten Klage begehrte der Kläger von den beklagten Parteien Schmerzengeld, Haushaltshilfekosten sowie den Ersatz seines Verdienstentgangs und zwar ab 1. 1. 2014 in Form einer Rente.

Die zweitbeklagte Partei erhob den Einwand des Deckungskonkurses und legte einen Verteilungsplan vor. Die restliche Versicherungssumme werde nicht ausreichen, um sämtliche Forderungen des Geschädigten und der Legalzessionare abzudecken.

Im ersten Rechtsgang wurden die Ansprüche des Klägers hinsichtlich des Erstbeklagten zur Gänze, hinsichtlich der zweitbeklagten Partei teilweise, nämlich im Umfang des Zuspruchs von 18.694,89 EUR sA und einer monatlichen Rente von 118,67 EUR vom 1. 1. 2014 bis 31. 1. 2024, sowie der Abweisung eines auf Zahlung weiterer 45.995,80 EUR sA und einer weiteren monatlichen Rente von 808,77 EUR gerichteten Teilbegehrens, rechtskräftig erledigt.

Im zweiten Rechtsgang bildete nur noch das gegen die zweitbeklagte Partei gerichtete restliche Klagebegehren auf Zahlung weiterer 10.538,71 EUR sA und einer monatlichen Rente von weiteren 443,36 EUR den Streitgegenstand.

Das Erstgericht gab diesem Begehren im Umfang von 998 EUR sA und einer (zusätzlichen) monatlichen Rente von 41,99 EUR vom 1. 1. 2014 bis 31. 1. 2024 statt und wies das Mehrbegehren ab.

Es bejahte die Voraussetzungen eines Deckungskonkurses iSd §§ 155, 156 Abs 3 VersVG und gelangte zu einer Quote von 11,72 %, mit welcher die Ansprüche des Klägers zu befriedigen seien. Seiner Berechnung legte es eine restliche Versicherungssumme von 66.305,71 EUR sowie fällige und künftig zu erwartende Ansprüche in Gesamthöhe von 565.791,41 EUR (richtig: 566.311,41 EUR) zugrunde. Unter Berücksichtigung bereits geleisteter Zahlungen und der bereits rechtskräftig zugesprochenen Teilrente ergäben sich die zuerkannten Beträge.

Das nur vom Kläger angerufene Berufungsgericht änderte dieses Urteil dahin ab, dass es dem Kläger 6.345,10 EUR sA und eine (zusätzliche) monatliche Rente von 266,94 EUR sA vom 1. 1. 2014 bis 31. 1. 2024 zusprach und das Mehrbegehren abwies. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Abweichend vom Erstgericht ermittelte das Berufungsgericht die restliche Versicherungssumme mit 72.568,03 EUR. Ferner reduzierte es den Kapitalbedarf für fällige und künftig zu erwartende Ansprüche auf 258.014,05 EUR und gelangte so zu einer Befriedigungsquote von 28,13 %. Zu den künftig zu erwartenden Ansprüchen vertrat es die Ansicht, dass die Höhe der Rückstellungen nach § 273 ZPO auszumitteln sei. Bei dieser Ermessensentscheidung seien zwar die Interessen des Geschädigten dahin zu berücksichtigen, dass ein der Billigkeit entsprechendes Ergebnis erzielt werde. Die vom Kläger geforderte „positive Interessenabwägung zu seinen Gunsten“ habe hingegen nicht stattzufinden.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zu der Frage, welche konkreten Interessen, insbesondere des Geschädigten, bei der Ermessensentscheidung nach § 273 ZPO im Falle eines Deckungssummenkonkurses zu berücksichtigen seien, nicht vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen das Berufungsurteil erhobene Revision des Klägers ist entgegen diesem den Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig. Weder in der zweitinstanzlichen Zulassungsbegründung noch im Rechtsmittel wird eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dargetan:

1. Sind mehrere Dritte vorhanden und übersteigen ihre Forderungen aus der die Verantwortlichkeit des Versicherungsnehmers begründenden Tatsache die Versicherungssumme, so hat der Versicherer nach § 156 Abs 3 VersVG die Forderungen nach dem Verhältnis ihrer Beträge zu berichtigen. Hiebei sind mehrere Gläubiger nicht nur mehrere verletzte Personen, sondern auch, sofern nur ein Verletzter vorhanden ist, die beteiligten Sozialversicherungsträger (als Legalzessionare) untereinander und im Verhältnis zum Verletzten (2 Ob 156, 157/75 ZVR 1976/331; 2 Ob 273/76 SZ 50/79 = ZVR 1978/245; 7 Ob 25/78 SZ 51/63; RIS‑Justiz RS0080822 [T1], RS0080830; Reisinger in Fenyves/Schauer, VersVG [2014] § 156 Rz 12 f). Mit Ausnahme des bevorzugt zu befriedigenden Schmerzengelds (§ 336 ASVG) sind die Ansprüche des Geschädigten und der Sozialversicherungsträger (Legalzessionare) bei der Verteilung gleichrangig zu behandeln und aus der vorhandenen Deckungssumme verhältnismäßig zu befriedigen (2 Ob 273/76; RIS‑Justiz RS0080830, RS0031499).

2. Der beklagte Haftpflichtversicherer hat in dem von ihm zu erstellenden Verteilungsplan durch Bildung einer Rücklage auch jene Ansprüche zu berücksichtigen, mit deren Geltendmachung er bei entsprechender Sorgfalt rechnen muss (2 Ob 273/76; 2 Ob 46/87 ZVR 1988/108; 2 Ob 59/13k; RIS‑Justiz RS0080810; zu den Konsequenzen eines „Verteilungsverschuldens“ des Versicherers vgl Reisinger in Fenyves/Schauer, VersVG [2014] § 156 Rz 8 f).

3. Wie hoch eine Rückstellung und, damit verbunden, eine Kürzung des Rentendeckungskapitals anzusetzen ist, kann nur unter Berücksichtigung aller Umstände nach billigem Ermessen iSd § 273 ZPO ausgemittelt werden. Hiebei ist nicht gerade von dem für den Versicherer denkbar ungünstigsten Fall auszugehen. Vielmehr ist auch zu berücksichtigen, dass eine Erhöhung des Rückstellungskapitals zu einer weiteren Kürzung der Rente und demnach zu einer Beeinträchtigung der Interessen des Geschädigten führen muss. Bei der Ermessensentscheidung sind daher nicht nur die Interessen des zum Ersatz verpflichteten Haftpflichtversicherers, sondern auch die Interessen des Geschädigten derart in Betracht zu ziehen, dass ein der der Billigkeit entsprechendes Ergebnis erzielt wird. Demnach wird man bei der Ermittlung des Rückstellungskapitals nur die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Leistungen, nicht aber alle nur theoretisch denkbaren in Betracht zu ziehen haben (7 Ob 26/80; vgl ferner 2 Ob 59/13k; RIS‑Justiz RS0080696, RS0080699).

4. Der bei Anwendung des § 273 ZPO vom Richter nach den Verhandlungsergebnissen nach freier Überzeugung vorzunehmenden Schätzung kommt grundsätzlich keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu (RIS‑Justiz RS0121220). Auch die Beantwortung der Frage, ob im Deckungskonkurs nach § 156 Abs 3 VersVG die Höhe des ermittelten Rückstellungskapitals den Interessen des Geschädigten angemessen Rechnung trägt, hängt typischerweise von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab und entzieht sich einer verallgemeinernden Aussage des Obersten Gerichtshofs. Eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO könnte daher nur im Falle einer Überschreitung des dem Berufungsgericht zur Verfügung stehenden Ermessensspielraums zu bejahen sein.

5. Eine derartige Fehlbeurteilung ist dem Berufungsgericht nicht vorwerfbar, wenn es die vom Kläger im Rahmen der von ihm gewünschten „positiven Interessenabwägung zu seinen Gunsten“ für berücksichtigungswürdig erachteten Kriterien (kein Abschluss einer höheren Versicherungssumme durch die zweitbeklagte Partei; häufige Operationen; Verlust der Arbeitsstelle; Vermögenslosigkeit des Erstbeklagten) in seine Beurteilung nicht einbezog.

Der erörterten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass sich das richterliche Ermessen auf den Grad der Wahrscheinlichkeit künftiger Ansprüche in bestimmter und mangels Bestimmbarkeit mit einem angemessenen Betrag zu schätzender Höhe bezieht. In der Entscheidung 7 Ob 26/80 wurde etwa die vom Haftpflichtversicherer ins Treffen geführte Möglichkeit von etwa zwanzig weiteren Kuraufenthalten des Geschädigten als „extrem hohe Schätzung ohne konkrete Grundlage“ qualifiziert. Sie blieb (in diesem Ausmaß) daher unberücksichtigt, zumal der Geschädigte in den ersten sechs Jahren nach dem Unfall nur einen einzigen Kuraufenthalt absolviert hatte.

6. Der Kläger, der in der Revision nur seinen bisherigen Standpunkt wiederholt, vermag nicht aufzuzeigen, dass die Schätzung des Berufungsgerichts den wiedergegebenen Grundsätzen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung widerspricht. Seine Rechtsansicht, das Interesse des Sozialversicherungsträgers sei geringer einzuschätzen als jenes des Klägers, ist mit dieser Rechtsprechung nicht vereinbar (oben Punkt 1). Seine weitere These, seine eigenen künftigen Ansprüche könnten nicht zu einer Kürzung der Verdienstentgangsrente führen, wird weder begründet noch durch irgendein Zitat belegt.

7. Da es der Lösung von Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht bedarf, ist die Revision zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 40, 50 ZPO. Die zweitbeklagte Partei hat zwar die Zurückweisung der Revision beantragt, deren Unzulässigkeit aber weder behauptet noch begründet, weshalb die Revisionsbeantwortung nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung diente (RIS‑Justiz RS0035962 [T30], RS0035979 [T25]).

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