European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0060OB00039.17D.0419.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 1.738,20 EUR (darin 289,70 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit 2.613,36 EUR (darin 208,56 EUR USt und 1.362 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Der Kläger kam am 22. 1. 2012 als Fußgänger in der Josef‑Heißl‑Straße in Leoben zu Sturz. Im Zeitraum 19. 1. bis 22. 1. 2012 kam es im Raum Leoben täglich zu Niederschlägen sowohl in fester als auch in flüssiger als auch in gemischter Form. Der Schneefall ging im Laufe des Vormittags des 22. 1. 2012 in Schneeregen über. Am Abend des 22. 1. 2012 fielen 1 bis 2 mm Regen, der auf Verkehrsflächen teilweise fror. Diese Niederschlagsmenge ist ausreichend, um die Wirkung einer Streuung mit Substanzen wie Streusalz oder Sole stark einzuschränken, selbst wenn eine Straße vor dem Einsetzen des Niederschlags gänzlich frei von Schnee bzw Schneematsch ist. Für die Aufrechterhaltung einer gänzlich glättefreien Verkehrsfläche wäre die stündliche Aufbringung von 40 g Streusalz pro m² erforderlich gewesen.
Die Josef‑Heißl‑Straße ist als eher stark frequentierte Landesstraße hinsichtlich der Priorität für den Winterdienst in die Kategorie „B“ eingeordnet. In die Kategorie „A“ fallen nur Autobahnen und Schnellstraßen. Alle Landesstraßen im Raum Leoben sind in die Kategorie „B“ eingeordnet. Der Bereich der Josef‑Heißl‑Straße wird im Winter zumindest zwei Mal täglich angefahren und bestreut; dies ein Mal ab 4:00 Uhr Morgens und ein Mal zwischen 17:00 Uhr und 19:00 Uhr. Bei besonders schwierigen Witterungsverhältnissen kommt es auch zu einer häufigeren Bestreuung im Vier‑Stunden‑Rhythmus. Bei erhöhtem Risiko kann ein Bereich aufgrund der gegebenen Kapazitäten von neun bis zehn Räumfahrzeugen maximal alle zweieinhalb bis drei Stunden abgefahren werden. Das zu betreuende Verkehrsnetz ist mit (jeweils zwei Fahrstreifen) 160 km lang.
Am Abend des 22. 1. 2012 wurde die Josef‑Heißl‑Straße um 19:00 Uhr mit Streufahrzeugen abgefahren und dort gestreut. Zu diesem Zeitpunkt war die Fahrbahn nass; es regnete leicht, die Außentemperatur lag bei + 2 Grad Celsius. Die nächste Streuung erfolgte am 23. 1. 2012 um 4:08 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt war die Fahrbahn nass und glatt; es nieselte leicht, die Außentemperatur lag bei + 2 Grad Celsius.
Der Kläger kam am 22. 1. 2012 um ca 23:50 Uhr aufgrund rutschiger Bodenflächen im Bereich der Parkkojen zu Sturz, wobei er einen Bruch des rechten Schlüsselbeines erlitt.
Der Kläger begehrt Schmerzengeld in Höhe von 8.000 EUR sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Partei für sämtliche künftigen Unfallfolgen. Die Verletzung habe Komplikationen nach sich gezogen und viele Monate lang Krankenbehandlungen erfordert. Der Kläger leide auch heute noch unter massiven Bewegungseinschränkungen; eine gänzliche Heilung sei nicht zu erwarten.
Die beklagte Partei bestritt das Klagebegehren und beantragte die Klagsabweisung. Der Unfall hätte nur durch eine stündliche Streuung verhindert werden können, was keinesfalls zumutbar sei.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Aufgrund der schwierigen Witterungsverhältnisse sei eine weitere Bestreuung nach 19:00 Uhr zumutbar gewesen; die Aufrechterhaltung einer glatteisfreien Verkehrsfläche hätte jedoch einer stündlichen Bestreuung bedurft, was der beklagten Partei organisatorisch nicht möglich und daher auch nicht zumutbar gewesen sei. Zudem sei zu bedenken, dass der Kläger die Josef‑Heißl‑Straße nicht an einem gekennzeichneten Fußgängerübergang überquert habe und das konkrete Verkehrsbedürfnis nicht dahin ausgelegt werden könne, Fahrbahnen für Fußgänger glatteisfrei zu halten. Selbst § 93 StVO ordne eine Streupflicht für Gehwege und Gehsteige nur zwischen 6:00 Uhr und 22:00 Uhr an. Jedenfalls sei in der Unterlassung weitergehender Streumaßnahmen keine für die Annahme grober Fahrlässigkeit erforderliche auffallende Sorglosigkeit zu erblicken.
Das Berufungsgericht gab demgegenüber dem Klagebegehren – abgesehen von der Abweisung eines Zinsenmehrbegehrens – statt. Im Hinblick auf die schwierigen Witterungsverhältnisse sei es als grobe Fahrlässigkeit zu werten, wenn die Mitarbeiter der Straßenmeisterei Leoben am üblichen (neunstündigen) Streuintervall festhielten, obwohl ihnen auch ein solches von zweieinhalb bis drei Stunden organisatorisch möglich gewesen wäre.
Nachträglich ließ das Berufungsgericht die Revision zu, weil aus der Entscheidung 2 Ob 211/15s abgeleitet werden könnte, dass überhaupt keine Streupflicht bestehe, solange etwa aufgrund ständig neuer Eisbildung der angestrebte Zweck einer Bestreuung durch zumutbare Maßnahmen nicht erreicht werden könne.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
1.1. Beurteilungsmaßstab für die Mangelhaftigkeit eines Wegs ist das Verkehrsbedürfnis und die Zumutbarkeit entsprechender Maßnahmen (RIS‑Justiz RS0087605). Das Merkmal der Zumutbarkeit erfordert die Berücksichtigung dessen, was nach allgemeinen und billigen Grundsätzen vom Halter erwartet werden kann (RIS‑Justiz RS0030180). Welche Maßnahmen ein Wegehalter im Einzelnen zu ergreifen hat, richtet sich danach, was nach der Art des Wegs, besonders nach seiner Widmung, seiner geografischen Situierung in der Natur und dem daraus resultierenden Maß seiner vernünftigerweise zu erwartenden Benutzung (Verkehrsbedürfnis), für seine Instandhaltung angemessen und nach objektiven Maßstäben zumutbar ist (RIS‑Justiz RS0030180 [T2]; RS0029997).
1.2. Unter grober Fahrlässigkeit im Sinne des § 1319a ABGB ist eine auffallende Sorglosigkeit zu verstehen, bei der die gebotene Sorgfalt nach den Umständen des Falls in ungewöhnlicher Weise verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen ist (RIS‑Justiz RS0030171), etwa wenn der sich aus dem Wegezustand ergebenden Gefahr durch lange Zeit nicht begegnet wird (RIS‑Justiz RS0030171 [T3]). Allein aus der Tatsache, dass die Unfallstelle zum Unfallszeitpunkt noch nicht gestreut war, ist noch kein grobes Verschulden ableitbar (RIS‑Justiz RS0030171 [T10]; RS0124487).
1.3. Die Pflicht zur Schneeräumung und die Streupflicht dürfen nicht überspannt werden (RIS‑Justiz RS0023298). Die Grenze der Zumutbarkeit einer Räumungs- und Streupflicht wird nach der Rechtsprechung dann überschritten, wenn bei andauerndem Schneefall oder sich ständig erneuerndem Glatteis das Räumen bzw Streuen mangels praktisch ins Gewicht fallender Wirkung für die Verkehrssicherheit nutzlos bleiben muss; dem zur Räumung und Streuung Verpflichteten kann eine ununterbrochene Schneeräumung und Sicherung der Verkehrswege nicht zugemutet werden (RIS‑Justiz RS0023277 [T16]).
2.1. Im vorliegenden Fall wäre nach den Feststellungen der Vorinstanzen eine Eisfreiheit nur bei stündlicher Bestreuung gewährleistet gewesen. Zudem war die Wirkung der Streuung aufgrund der Niederschlagsmengen stark herabgesetzt. Selbst bei vertraglichen Verkehrssicherungspflichten (2 Ob 43/14h) und der Haftung von Anrainern nach § 93 StVO (2 Ob 211/15s) wird eine derart kurzfristige Bestreuung zumindest in den Nachtstunden in der Regel nicht gefordert (vgl 2 Ob 211/15s mwN). Berücksichtigt man, dass sich der Unfall zu Zeiten der „allgemeinen Nachtruhe“ ereignete, und in concreto auch keine externen Meldungen einer besonderen Gefahr vorlagen, dann ist bereits eine objektive „Mangelhaftigkeit“ des Wegs zu verneinen, weil Beurteilungsmaßstab für diese Mangelhaftigkeit auch die Zumutbarkeit entsprechender Sicherungsmaßnahmen ist (RIS‑Justiz RS0087605). Jedenfalls kann bei dieser Sachlage von einem groben Verschulden der beklagten Partei bzw ihrer Leute im Sinne des § 1319a ABGB keine Rede sein.
2.2. Im Hinblick darauf, dass nur eine – rechtlich nicht gebotene – stündliche Streuung den Unfall verhindert hätte, kommt es auf die Frage, wie stark die Josef‑Heißl‑Straße frequentiert ist, rechtlich nicht an. Dass im Bereich der Unfallstelle auch ein Bankomat und ein Café etabliert sind, bedeutet im Übrigen noch nicht automatisch, dass dort auch gegen Mitternacht noch ein entsprechender Fußgängerverkehr stattfindet.
3.1. Die Beweislast für den objektiv mangelhaften Zustand eines Wegs trifft den Geschädigten (RIS‑Justiz RS0022828). Dem Geschädigten obliegt weiters der Beweis der Wegehaltereigenschaft des Beklagten sowie der Beweis der groben Fahrlässigkeit (RIS‑Justiz RS0124486). Auch die Beweislast dafür, dass der Schaden bei gebotenem Verhalten nicht eingetreten wäre, trifft grundsätzlich den Geschädigten (RIS‑Justiz RS0022686 [T12]; RS0022900 [T5]; RS0022700 [T7]), wobei an den Beweis des bloß hypothetischen Kausalverlaufs nicht so strenge Anforderungen gestellt werden können wie bei einer Schadenszufügung durch positives Tun (RIS‑Justiz RS0022900 [T14]). Insoweit genügt vielmehr die überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass der Schaden auf das Unterlassen des pflichtgemäßen Handelns zurückzuführen ist (RIS‑Justiz RS0022700 [T15]).
3.2. Im vorliegenden Fall ist dem Kläger der Beweis, dass bei Einhaltung des gerade noch möglichen und zumutbaren Intervalls von zweieinhalb bis drei Stunden der Unfall vermieden worden wäre, nicht gelungen.
4. Zusammenfassend erweist sich daher die Revision als berechtigt, sodass das angefochtene Urteil spruchgemäß abzuändern und die zutreffende Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen war.
5. Aufgrund der Abänderung war auch die Kostenentscheidung für das Berufungsverfahren neu zu fassen. Diese Entscheidung und die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründen sich auf §§ 41, 50 ZPO.
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