OGH 2Ob211/15s

OGH2Ob211/15s25.5.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé sowie den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G***** F*****, vertreten durch Mag. Dr. Christian Janda Rechtsanwalts KG in Kremsmünster, gegen die beklagten Parteien 1. Dr. J***** S*****, und 2. Mag. M***** S*****, vertreten durch Mag. Dr. Axel Michael Dallinger, Rechtsanwalt in Wels, wegen 22.971,84 EUR sA und Feststellung (Streitinteresse: 5.000 EUR), über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 7. September 2015, GZ 6 R 137/15g‑44, womit infolge Berufungen sämtlicher Parteien das Urteil des Landesgerichts Steyr vom 29. Mai 2015, GZ 3 Cg 2/14s‑38, teils bestätigt, teils abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0020OB00211.15S.0525.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung einschließlich ihrer bereits in Rechtskraft erwachsenen Teile insgesamt lautet:

„Das Klagebegehren,

1. die beklagten Parteien seien zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 22.971,84 EUR samt 4 % Zinsen aus 15.000 EUR vom 14. 3. 2013 bis Klagszustellung, aus 22.929,84 EUR 'bis 5. 3. 2015' und aus 22.971,84 EUR seit 6. 3. 2015, zu bezahlen, sowie

2. es werde festgestellt, dass die beklagten Parteien der klagenden Partei zur ungeteilten Hand für alle zukünftigen unfallskausalen Schäden, insbesondere für etwaige Spät‑ und Dauerfolgen aus dem Unfall vom 15. 12. 2012 in K***** haften,

wird abgewiesen.“

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 22.588,19 EUR (darin 3.075,20 EUR USt und 4.137 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Die 1940 geborene Klägerin kam am 15. 12. 2012 gegen 14:30 Uhr auf dem Gehsteig der P*****straße im Ortsgebiet von K***** auf einer eisglatten Stelle zu Sturz. Die Unfallstelle liegt in einer Wohnsiedlung. Die Klägerin erlitt einen Bruch des linken Oberschenkelschaftes mit deutlicher Verschiebung.

Der Unfall ereignete sich auf der „P*****brücke“, an die das Grundstück 22/78 (Gärten) ‑ aus der Gehrichtung der Klägerin betrachtet ‑ links angrenzt. Das Grundstück wird in Längsrichtung vom S*****bach durchflossen, dessen Lauf sich dann unter der Brücke fortsetzt; es besteht im Wesentlichen aus dem Bachbett und den Uferböschungen, die mit Sträuchern und Bäumen bewachsen sind. Nach den Vorschriften der Wildbach‑ und Lawinenverbauung, welche die Bepflanzung vornimmt, sind die Uferbereiche natürlich zu bestocken. Ca alle zehn Jahre ‑ zuletzt 2013 ‑ werden die Bäume und Sträucher von den Beklagten umgeschnitten und als Brennholz verwertet.

Das Grundstück gehört neben den weiteren Grundstücken 18/2 (Wald), 22/77 (Gebäude, Gärten, Wald) und 22/87 (Gärten) zum Gutsbestand der im gemeinsamen Eigentum der Beklagten stehenden Liegenschaft EZ *****. Das auf dem Grundstück 22/77 errichtete Wohngebäude, in dem sich auch die Steuerberatungskanzlei des Erstbeklagten und die Rechtsanwaltskanzlei der Zweitbeklagten befinden, ist von einem Garten umgeben und mit einer Gartenmauer bzw einem Gartenzaun umfriedet. Während die Grundstücke 18/2, 22/77 und 22/87 aneinander grenzen, ist das annähernd rechteckige, 286 m² große Grundstück 22/78 von diesem Teil der Liegenschaft durch einen von der P*****straße rechtwinkelig abzweigenden, 6,5 m breiten Straßenast (öffentliches Gut) räumlich getrennt. Das Grundstück 22/78 ist ‑ abgesehen von einem Trafo des Energieversorgers ‑ unverbaut. Da es in der „gelben Zone“ (Hochwasserschutzgebiet) liegt, herrscht Bauverbot.

Die Gemeinde räumt und streut bei winterlichen Verhältnissen auf der P*****brücke (nur) die Fahrbahn. Der Gehsteig wird hingegen auch von den Beklagten nicht betreut. Diese haben dort noch nie geräumt oder gestreut.

Am 15. 12. 2012 gab es im Raum K***** zwischen 8:00 und 17:00 Uhr ununterbrochen Niederschlag, zuerst leichten Nieselregen, dann, ab ca 14:00 Uhr, etwas stärkeren Regen. Zum Unfallszeitpunkt um ca 14:30 Uhr regnete es mit leichter Intensität. Die Lufttemperatur lag um 8:00 Uhr bei minus 3° C und stieg bis zum Unfallszeitpunkt auf plus 1° C an. Im Zusammenhang mit der vorangegangenen Kälteperiode führte der anhaltende Niederschlag zu sich ständig erneuerndem Glatteis. Die Wirkung einer Streuung mit abstumpfend wirkendem Streumaterial wie Natriumchlorid wurde sehr rasch deutlich herabgesetzt. Eine Salzstreuung hätte um ca 12:00 Uhr beginnen und dann bis zum Unfallszeitpunkt etwa dreiviertelstündlich bis stündlich erneuert werden müssen. Auch eine Streuung mit Streusplitt wurde rasch unwirksam, da das Streumaterial bald mit einer Eisschicht überzogen war. Nicht geräumte Flächen, die von einer zusammengetretenen Altschneedecke bedeckt waren, waren holprig, schnee‑ und eisglatt. Sowohl geräumte als auch nicht geräumte, naturbelassene Flächen waren am Unfallstag und Unfallsort glatt.

Bei Brücken ist vor allem der fehlende Bodenwärmestrom dafür verantwortlich, dass oft tiefere Oberflächentemperaturen auftreten als an anderen Verkehrsflächen. Bei entsprechender Wettersituation ‑ wie am Unfallstag ‑ kommt es zu verstärkter Glättebildung.

Die Klägerin unternahm mit ihrem Ehemann bei leichtem Nieselregen einen Spaziergang. Sie trug flache Winterschuhe mit einer Profilsohle. Das Ehepaar ging auf dem geräumten Gehsteig der P*****straße mit mittlerem Tempo. Auf Höhe des letzten Hauses vor der Brücke war es matschig, danach völlig aper, weil dort die Leitungen der Fernwärme verlaufen. Für die Klägerin war erkennbar, dass der Gehsteig auf der Brücke weder geräumt noch gestreut war. Auf dem Gehsteig lag eine dünne Schneeschicht. Darunter befanden sich eisige Stellen, die für die Klägerin nicht erkennbar waren. Nach wenigen Schritten rutschte sie aus. Sie versuchte noch sich am Geländer festzuhalten, stürzte aber zu Boden.

Die Klägerin begehrte den Ersatz ihres zuletzt mit 22.971,82 EUR sA bezifferten Schadens und stellte auch ein Feststellungsbegehren. Die Beklagten wären als Anrainer zur Räumung und Streuung des Gehsteigs im Bereich der Sturzstelle verpflichtet gewesen.

Die Beklagten wandten ein, ihr an die Brücke angrenzendes Grundstück sei unverbaut, nicht bebaubar und werde land- und forstwirtschaftlich genutzt. Sie seien daher zur Räumung und Streuung des Gehsteigs auf der Brücke nicht verpflichtet gewesen. Eine solche Maßnahme wäre wegen der Witterungsverhältnisse auch völlig nutzlos geblieben. Die Klägerin treffe das Alleinverschulden, jedenfalls aber das überwiegende Verschulden an dem Sturz.

Das Erstgericht gab dem Leistungbegehren mit 9.120,92 EUR sA und dem Feststellungsbegehren zur Hälfte statt. Das jeweilige Mehrbegehren wies es ‑ wenngleich nicht im Spruch, so doch in den Entscheidungsgründen ‑ ab.

In seiner rechtlichen Beurteilung warf es den Beklagten vor, sie hätten die in § 93 Abs 1 StVO geregelte Anrainerpflicht verletzt. Der Ausnahmetatbestand für unverbaute land- und forstwirtschaftlich genutzte Liegenschaften komme den Beklagten nicht zugute. Bei ständiger Eisbildung könne dem zur Räumung und Streuung Verpflichteten zwar keine ununterbrochene Sicherung der Verkehrswege zugemutet werden, wohl aber sei die Bestreuung des Gehsteigs in kürzeren Abständen als einer Stunde zumutbar. Der Klägerin sei als Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten anzulasten, dass sie bei besonders gefährlichen Witterungsverhältnissen einen Spaziergang unternommen und den Gehsteig offenbar mit unzureichender Vorsicht und Aufmerksamkeit betreten habe. Die gegebenen Umstände rechtfertigten die Annahme gleichteiligen Verschuldens. Ausgehend von dem mit 18.241,84 EUR ermittelten Gesamtschaden seien der Klägerin daher 9.120,92 EUR zuzusprechen.

Das von sämtlichen Parteien angerufene Berufungsgericht änderte diese Entscheidung dahin ab, dass es der Klägerin 13.681,38 EUR sA zuerkannte und dem Feststellungsbegehren zu drei Viertel stattgab. Das auf 9.290,46 EUR sA lautende Leistungsmehrbegehren wurde ebenso wie ein (weiteres) Zinsenmehrbegehren und das Feststellungsmehrbegehren abgewiesen. Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteigt und dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Zur Berufung des Beklagten erörterte es, das Grundstück 22/78 sei nicht als land‑ und forstwirtschaftlich genutzte Liegenschaft anzusehen. Die Grenze der Zumutbarkeit einer Räum‑ und Streupflicht werde dann überschritten, wenn bei andauerndem Schneefall oder sich ständig erneuerndem Glatteis das Räumen und Streuen mangels praktisch ins Gewicht fallender Wirkung für die Verkehrssicherheit nutzlos bleiben müsse, weil dem zur Räumung und Streuung Verpflichteten eine ununterbrochene Schneeräumung nicht zugemutet werden könne. Der Oberste Gerichtshof habe mehrfach die Meinung vertreten, dass keine Streupflicht bestehe, wenn durch das Bestreuen die Rutschgefahr nur teilweise und für eine praktisch nicht ins Gewicht fallende Zeit von fünf bis zehn Minuten beseitigt werden könne, andererseits aber auch bereits ausgesprochen, dass bei ständiger Eisbildung infolge Eisregens eine Bestreuung des Gehsteigs in kürzeren Abständen als einer Stunde zumutbar sei. Bei den Vorschriften des § 93 StVO handle es sich um Schutznormen iSd § 1311 ABGB, bei deren Übertretung dem Schädiger der Beweis seines fehlenden Verschuldens obliege. Im vorliegenden Fall sei zu Lasten der beweispflichtigen Beklagten davon auszugehen, dass eine stündliche Erneuerung der Salzstreuung ausgereicht hätte, um die Streuwirkung aufrechtzuerhalten. Dass ihnen dies zumutbar gewesen wäre, entspreche der höchstgerichtlichen Judikatur.

Die Berufung der Klägerin hielt das Berufungsgericht insoweit für berechtigt, als es eine Verschuldensteilung im Verhältnis 1 : 3 zu Lasten der Beklagten für angemessen erachtete.

Seinen Zulassungsausspruch begründete das Berufungsgericht dahin, dass § 93 Abs 1 StVO ausdrücklich nur im Zuge von Gehsteigen und Gehwegen befindliche Stiegenanlagen erwähne. Es bestehe keine höchstgerichtliche Judikatur zu der Frage, ob sich die Anrainerpflichten auch auf im Zuge von Gehsteigen und Gehwegen befindliche Brücken bezögen.

Der abweisende Teil dieser Entscheidung blieb unbekämpft und ist rechtskräftig.

Gegen den stattgebenden Teil des Berufungsurteils richtet sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil sich die zweitinstanzliche Beurteilung der Zumutbarkeit von Streupflichten als korrekturbedürftig erweist. Das Rechtsmittel ist auch berechtigt.

Die Beklagten stehen auf dem Standpunkt, dass auf einer Brücke mangels Erwähnung in § 93 Abs 1 StVO keine Anrainerpflichten zu erfüllen seien. Das Berufungsgericht habe ferner zu Unrecht die Qualifikation des Grundstücks 22/78 als „land‑ und forstwirtschaftlich genutzte Liegenschaft“ verneint. Schließlich wäre der Unfall selbst unter der Annahme von Anrainerpflichten der Beklagten nach den von der Judikatur entwickelten Zumutbarkeitskriterien angesichts der Witterungsverhältnisse nicht zu verhindern gewesen, ein allfälliges pflichtwidriges Verhalten wäre nicht kausal. Sollten die Beklagten dennoch haften, sei der Klägerin ein gleichteiliges Mitverschulden anzulasten.

Hierzu wurde erwogen:

1. Die Streupflicht nach § 93 Abs 1 Satz 1 StVO bezieht sich auf „Gehsteige und Gehwege einschließlich der in ihrem Zuge befindlichen Stiegenanlagen“, die in einer Entfernung von nicht mehr als 3 m entlang einer Liegenschaft vorhanden sind und dem öffentlichen Verkehr dienen. Ein „Gehsteig“ ist nach § 2 Abs 1 Z 10 StVO ein „für den Fußgängerverkehr bestimmter, von der Fahrbahn durch Randsteine, Bodenmarkierungen oder dgl abgegrenzter Teil der Straße“. Eine Straße wird in § 2 Abs 1 Z 1 StVO als eine „für den Fußgänger‑ oder Fahrzeugverkehr bestimmte Landfläche samt den in ihrem Zuge befindlichen und diesem Verkehr dienenden baulichen Anlagen“ definiert. Es bedarf keiner weiteren Erörterung, dass eine Brücke zu diesen baulichen Anlagen gehört und damit Teil der Straße ist (vgl nur § 3 BStG 1971; § 1319a Abs 2 ABGB; Pürstl in StVO14 § 2 Anm 4). Auf dieser Grundlage ist aber auch ein „für den Fußgängerverkehr bestimmter, von der Fahrbahn durch Randsteine, Bodenmarkierungen oder dgl abgegrenzter Teil“ einer über eine Brücke führenden Straße ein „Gehsteig“ iSv § 2 Abs 1 Z 10 StVO und damit auch iSv § 93 Abs 1 StVO. Ein solcher Gehsteig lag im konkreten Fall weniger als 3 m vom ‑ im Wesentlichen aus dem Bachbett bestehenden ‑ Grundstück 22/78 der Beklagten entfernt. Gründe, warum allein wegen der Lage des Gehsteigs auf einer Brücke keine Streupflicht bestehen sollte, sind nach dem klaren Wortlaut des § 93 Abs 1 StVO in Verbindung mit der Legaldefintion des § 2 Abs 1 Z 10 StVO nicht erkennbar.

2. Die in § 93 Abs 1 StVO enthaltene Ausnahmeregelung für die Eigentümer von unverbauten (nach dem damaligen Wortlaut) „land‑ und forstwirtschaftlichen Liegenschaften“ wurde mit der 10. StVO‑Novelle, BGBl 1983/174, eingeführt (vgl Haupfleisch , Die 10. StVO‑Novelle, eine kritische Betrachtung, ZVR 1984, 293). Seine aktuelle Fassung („land- und forstwirtschaftlich genutzte Liegenschaften“) erhielt die Bestimmung durch die 20. StVO‑Novelle, BGBl I 1998/92. Was unter „land‑ und forstwirtschaftlicher Nutzung“ zu verstehen ist, wird weder in § 93 noch in anderen Bestimmungen der StVO definiert. Auch in den Gesetzesmaterialien findet sich kein Hinweis dazu (vgl AB 1481 BlgNR XV. GP  2 und ErläutRV 713 BlgNR XX. GP  16). Der Oberste Gerichtshof hat sich zu dieser Frage bisher noch nicht geäußert.

Aus den folgenden Erwägungen ist jedoch auch im vorliegenden Fall keine weitere Auseinandersetzung mit diesem Thema erforderlich. Es kann vielmehr dahingestellt bleiben, ob sich die Beklagten hinsichtlich des Grundstücks 22/78 auf die erwähnte Ausnahmebestimmung berufen könnten. Denn auch wenn dies im Sinne der Rechtsausführungen des Berufungsgerichts zu verneinen wäre und sie daher die Anrainerpflichten des § 93 Abs 1 StVO auch auf der Brücke träfen, würde dies unter den konkreten Umständen zu keiner Haftung der Beklagten für den von der Klägerin erlittenen Schaden führen.

3. Bei den Bestimmungen über die Streupflicht nach § 93 Abs 1 StVO handelt es sich um Schutznormen iSd § 1311 ABGB, deren Zweck im Schutz der die dort genannten Verkehrsflächen bestimmungsgemäß benützenden Fußgänger liegt (2 Ob 86/06w ZVR 2007/78; RIS‑Justiz RS0027561). Unterstellt man, dass die erörterte Ausnahmeregelung für unverbaute land‑ und forstwirtschaftlich genutzte Liegenschaften nicht zur Anwendung gelangt, so haben die Beklagten durch die Unterlassung der Räumung und Streuung des Gehsteigs auf der Brücke die Schutznorm des § 93 Abs 1 erster Satz StVO objektiv verletzt. Sie hatten daher zu beweisen, dass ihnen die objektive Übertretung der Schutznorm nicht als schutzgesetzbezogenes Verhaltensunrecht anzulasten ist (RIS‑Justiz RS0112234). Es oblag ihnen daher auch der Beweis für ihre Behauptung, dass ihnen angesichts der am Unfallstag herrschenden Witterungsverhältnisse die Erfüllung einer Streupflicht nicht zumutbar war (2 Ob 86/06w ZVR 2007/78).

4. Durch die Vorschrift des § 93 Abs 1 StVO soll den erhöhten Gefahren bei Benützung vereister oder mit Schnee bedeckter Verkehrsflächen durch zumutbare Maßnahmen begegnet werden. Die Räum‑ und Streupflicht und ihr zumutbares Ausmaß werden im Einzelfall daher durch diesen Zweck bestimmt. Den Verpflichteten dürfen keine zwecklosen Maßnahmen abverlangt werden, ihr Aufwand muss in einem vernünftigen Verhältnis zur Erreichung des Zieles stehen. Ein solches vernünftiges Verhältnis ist dann nicht gegeben, wenn der Aufwand nur zu einer unwesentlichen und ganz vorübergehenden Herabminderung der dem Verkehr drohenden Gefahren führen würde (vgl 4 Ob 619/71 ZVR 1972/153; 6 Ob 4/75 ZVR 1975/248). In diesen Fällen, also wenn infolge außergewöhnlicher Witterungsverhältnisse durch Vornahme zumutbarer Maßnahmen der angestrebte Zweck nicht erreicht werden kann, besteht keine Säuberungs‑ oder Streupflicht ( Dittrich/Stolzlechner , StVO³ § 93 Rz 20). Den Beklagten könnte bei Bejahung dieser Voraussetzungen ‑ jedenfalls zur Unfallszeit ‑ kein pflichtwidriges Verhalten vorgeworfen werden. Auch wenn sie sonst ihrer (unterstellten) Streupflicht auf der Brücke regelmäßig nachgekommen wären, hätte dies den Sturz der Klägerin nicht verhindert. Die Unterlassung von Räum- und Streumaßnahmen wäre für den Sturz der Klägerin und den daraus resultierenden Verletzungsfolgen zwar kausal, nicht aber rechtswidrig gewesen.

Vor diesem Hintergrund vertritt der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Rechtsansicht, dass die Grenze der Zumutbarkeit der Räumungs‑ und Streupflicht dann überschritten wird, wenn bei andauerndem Schneefall oder sich ständig erneuerndem Glatteis das Räumen bzw Streuen mangels praktisch ins Gewicht fallender Wirkung für die Verkehrssicherheit nutzlos bleiben muss, weil dem zur Räumung und Streuung Verpflichteten eine ununterbrochene Schneeräumung und Sicherung der Verkehrswege nicht zugemutet werden kann (10 Ob 18/07f; 2 Ob 66/08g; RIS‑Justiz RS0023453; allgemein zu den Grenzen der Streupflicht RS0023277).

5. Wo die Grenze der Zumutbarkeit liegt, bestimmt sich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls. In diesem Zusammenhang hat der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen, dass die Unzumutbarkeit des Bestreuens des Gehsteigs nur in Ausnahmefällen anzunehmen und das Streuen in kurzen Intervallen an sich nicht unzumutbar ist. Nur wenn die völlige Zwecklosigkeit eines solchen Streuens in kürzeren Intervallen feststünde, wäre es nicht zumutbar (7 Ob 574/76 ZVR 1976/355 mwN). Völlige Zwecklosigkeit wurde etwa angenommen, wenn durch das Bestreuen die Rutschgefahr nur für etwa fünf bis zehn Minuten beseitigt werden könnte (2 Ob 141/69 ZVR 1970/28; RIS‑Justiz RS0023453 [T1]). Andererseits wurde bei ständiger Eisbildung infolge Eisregens das Bestreuen des Gehsteigs auch schon in kürzeren Abständen als einer Stunde als zumutbar erachtet (6 Ob 550/80). Dieser Fall war allerdings durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass sich der Unfall am Vormittag des 24. Dezember auf dem Hauptplatz eines größeren Fremdenverkehrsorts ereignet hatte, also zu einer Zeit, zu welcher mit einem Begehen der Gehsteige durch zahlreiche Fußgänger zu rechnen war. Auf diese Entscheidung verweisend gelangte der Oberste Gerichtshof in 2 Ob 2289/96y zu der Auffassung, der dort Beklagte habe seine Streupflicht (mit Rollsplitt) bei Bestreuung des Gehsteigs in dreiviertelstündigen Abständen jedenfalls erfüllt.

6. Eine auch für den vorliegenden Fall gültige Aussage ist aus diesen Entscheidungen nicht ableitbar. Umstände, wie sie für die Entscheidung 6 Ob 550/80 ausschlaggebend waren, lagen hier nicht vor. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen trat am Unfallstag sich ständig erneuerndes Glatteis auf, die Wirksamkeit herkömmlichen Streumaterials wurde rasch deutlich herabgesetzt. Ab 12:00 Uhr hätte auf dem Gehsteig der Brücke mit Salz gestreut und die Streuung dann etwa dreiviertelstündlich bis stündlich erneuert werden müssen, um einen wirksamen Schutz vor der Glätte zu erzielen. Nach der erörterten Beweislastverteilung ist zwar zu Lasten der Beklagten vom Erfordernis (bloß) stündlicher Erneuerung auszugehen (2 Ob 86/06w ZVR 2007/78). Bedenkt man, dass die Beklagten auch noch die an ihre Wohnliegenschaft angrenzenden Flächen zu bestreuen gehabt hätten, kommt dies aber praktisch einer Pflicht zur ununterbrochenen Bestreuung gleich, wie sie in der Rechtsprechung ‑ mit Ausnahme besonderer Umstände (6 Ob 550/80) ‑ im Regelfall als unzumutbar erachtet wird (vgl auch Dittrich/Stolzlechner , StVO³ § 93 Rz 21, denen zufolge den Anrainern das Streuen in kürzeren Abständen als ein bis zwei Stunden „nach allgemeiner Erfahrung“ nicht zumutbar ist). Davon ausgehend ist den Beklagten der ihnen obliegende Entlastungsbeweis gelungen.

7. Die vorstehenden Ausführungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Sollten die Beklagten die Anrainerpflichten nach § 93 Abs 1 StVO auch auf der Brücke wahrzunehmen haben, war die Unterlassung der Streuung, die zum Unfall der Klägerin führte, infolge der außergewöhnlichen Witterungsverhältnisse dennoch nicht rechtswidrig. Stündliche Streuung war den Beklagten unter den gegebenen Umständen nicht zumutbar. Auf die Rechtsfrage, ob sich die Beklagten auch auf die für unverbaute land‑ und forstwirtschaftlich genutzte Liegenschaften in § 93 Abs 1 StVO enthaltene Ausnahmeregelung berufen könnten, kommt es nicht entscheidend an.

8. Die angefochtene Entscheidung ist daher in Stattgebung der Revision im Sinne einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.

Die neu zu fassende Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Die in erster Instanz gegen das Kostenverzeichnis der Beklagten erhobenen Einwendungen der Klägerin sind teilweise berechtigt. Für die Fristverlängerungsanträge ON 23 und ON 33 gebührt kein Kostenersatz, weil die Ursache für diese Anträge jeweils allein in der Sphäre der Beklagten lag (vgl 9 Ob 50/08f; Obermaier , Kostenhandbuch² Rz 238). Die Äußerung, gegen die verzeichneten Sachverständigengebühren keine Einwendungen zu erheben, war zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht erforderlich ( Obermaier , Kostenhandbuch² Rz 217). Hingegen ist die mit Erläuterungen versehene „Urkunden‑ und Lichtbildervorlage“ ON 4 wie verzeichnet zu honorieren. Das Argument der Klägerin, die Vorlage hätte auch mit dem folgenden Schriftsatz ON 6 verbunden werden können, trägt nicht, weil dieser Schriftsatz erst durch einen nach der „Urkunden‑ und Lichtbildervorlage“ eingebrachten Schriftsatz der Klägerin (ON 5) veranlasst wurde. Trotz des überwiegenden Erfolgs ihrer Einwendungen steht der Klägerin hiefür gemäß § 54 Abs 1a letzter Satz ZPO kein Kostenersatz zu.

Stichworte