European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0010OB00099.16I.0830.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss, der im Umfang der Festlegung des Kontaktrechts der Mutter in Rechtskraft erwachsen ist, wird im Umfang der Zurückweisung des Antrags auf Rückführung bestätigt und im Umfang der Übertragung der Obsorge hinsichtlich der gesamten Pflege und Erziehung von der Mutter auf den Kinder‑ und Jugendhilfeträger aufgehoben.
Die Pflegschaftssache wird in diesem Umfang zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
Die vier Kinder der M***** M*****, die Zwillinge S***** [Mädchen] und S***** [Bub] sowie deren Schwester S***** [genannt M*****], geboren am *****, und Halbschwester mj R***** A***** H*****, geboren am *****, wurden am 2. Mai 2013 aus der Obhut der Mutter genommen. Die damals fast drei Jahre alten Zwillinge wurden bei Krisenpflegeeltern, die beiden älteren Kinder in Krisenzentren untergebracht.
Die Sofortmaßnahme wurde mit 15 Gefährdungsmeldungen im Zeitraum März 2008 bis 2. Mai 2013 begründet. Teilweise beruhten diese 2008 beginnenden Gefährdungsmeldungen darauf, dass der Vater der Zwillinge, der seit Anfang 2012 in Ägypten lebt, die Mutter jahrelang schlug und unterdrückte (Betretungsverbot, wiederholte Gewalttätigkeiten); ihnen lagen aber auch Vernachlässigungen der Kinder zugrunde, so beim Schulbesuch der älteren Tochter, dieser versetzten Ohrfeigen und deren Berichte, sie werde von der Mutter geschlagen, und in Form von Alleinlassen der Kinder. Unter besonderer Beachtung der Zwillinge, um die es hier geht, waren es eine nicht den üblichen Hygiene‑ und Sicherheitsstandards entsprechende Wohnsituation der Mutter und mehrfache Pflegevernachlässigungen (volle Windeln, fehlendes Ersatzgewand, Entzündungen aufgrund mangelnder Hygiene). Bei S***** [Bub] zeigten sich psychische Auffälligkeiten, indem er sehr aggressives Verhalten an den Tag legte, um sich spuckte und ständig mit dem Körper wippte. Die Zwillinge besuchten auch nur unregelmäßig den Kindergarten und wirkten ungepflegt.
Über diese Sofortmaßnahme wegen Gefahr im Verzug berichtete der Kinder‑ und Jugendhilfeträger (KJHT) am 7. Mai 2013 und stellte den Antrag, ihn mit der Obsorge gemäß § 211 ABGB iVm § 181 ABGB zu betrauen. Nachdem die Mutter vorerst der Unterbringung der Zwillinge zugestimmt hatte, widerrief sie ihre Zustimmung am 22. August 2013, worauf der zwischenzeitig zurückgezogene Antrag erneut gestellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Kinder (seit Anfang August) bei der Pflegefamilie H*****, nachdem sie sich zuvor neun Wochen bei der ersten Pflegefamilie und danach drei bis vier Wochen bei einer weiteren Pflegefamilie befunden hatten.
Das Erstgericht erklärte die Unterbringung der Zwillinge mit Beschluss vom 18. November 2013 gemäß § 107a Abs 1 AußStrG vorläufig für zulässig und betraute (vorläufig) im beantragten Umfang den Jugendwohlfahrtsträger mit der Pflege und Erziehung der Zwillinge. Es holte unter anderem Stellungnahmen der Familiengerichtshilfe ein und vernahm neben der Mutter und den Pflegeeltern auch andere Personen. Es bestellte Mag. P*****, MA, Heilpädagogin, psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin, die bereits im Pflegschaftsverfahren der ältesten Tochter beigezogen worden war, auch im vorliegenden Verfahren zur Sachverständigen und holte deren Gutachten zur Frage der Erziehungsfähigkeit der Mutter für die Zwillinge unter Berücksichtigung der Pflege und Erziehungssituation der beiden älteren Kinder, insbesondere mit der Fragestellung inwieweit die Gefahr einer Überforderung der Kindesmutter bestehe, ein.
Beide älteren Kinder leben mittlerweile wieder bei der Mutter; S***** [M*****] schon seit 28. Juni 2013, R***** seit August 2014.
Das Erstgericht entzog der Mutter wegen Gefährdung des Kindeswohls die Obsorge im Bereich der gesamten Pflege und Erziehung der Zwillinge und übertrug sie dem KJHT. Den Antrag der Mutter auf Rückführung ihrer Kinder wies es ab und legte ihr Kontaktrecht zu den Zwillingen im Ausmaß von mindestens zwei Stunden alle zwei Wochen fest, wobei sich die Begleitung der Besuchskontakte nach Möglichkeit zurückziehen solle.
Es gestand der Mutter zu, dass sie inzwischen in der Lage gewesen war, fehlende und der Jahreszeit entsprechende Bekleidung für die Kinder zu organisieren, die Kinderzimmer neu zu gestalten und die Wohnung zu renovieren. Diese sei nun sauber, ordentlich und kindgerecht gestaltet und weise keine offensichtlichen Gefahrenquellen mehr auf. Auch ging das Erstgericht davon aus, dass die Mutter „vermehrt“ Kompetenz im Umgang mit R***** entwickelt habe und „vermehrt“ in der Lage sei, DIESER Grenzen zu setzen. Sie und R***** arbeiteten an gegenseitigem Verständnis und Akzeptieren der Grenzen. Die Mutter kümmere sich nun verlässlich um die Schulangelegenheiten von S***** [M*****]. Die Geschwisterbindung zwischen den Zwillingen und den beiden Schwestern wurde als gut und bestehend angesehen. Die finanzielle Situation der Mutter sei angespannt, sie werde in ihren sozialen Beziehungen von der mütterlichen Großmutter wie auch gelegentlich von ihrem Bruder unterstützt, während sich der [Anm: seit 2012 in Ägypten lebende] Vater nie an der Erziehung der Kinder beteiligt habe. Den nunmehrigen Lebensgefährten, der im gemeinsamen Haushalt lebe, erachtete das Erstgericht als einen unterstützenden Faktor in struktureller und wirtschaftlicher Hinsicht. Er sei zudem bereit, für die Kinder seiner Lebenspartnerin Verantwortung zu übernehmen. Die neue Familiensituation habe sich bereits Bei M***** und R***** bewährt. Es listete die von der Mutter absolvierten Termine der Erziehungsberatungen beim Beratungszentrum K***** und bei der peppa‑Interkulturelle Familienberatung auf und wertete sie als Bemühen der Mutter, die Erziehungskompetenz für die Zwillinge zurückzuerlangen. Dabei ging es von einer so hohen Dichte der Inanspruchnahme der Erziehungsberatung aus, dass bei einem fordernden Alltag mit vier Kindern eine solche Beratungsdichte keinesfalls aufrecht zu erhalten wäre. Andererseits hielt es aber auch (an anderer Stelle) fest, dass sie die ihr von der „Mobilen Arbeit mit Familien“ angebotenen Termine zu etwa 50 % wahrnehme und es in Hinkunft notwendig sei, dass sie alle Termine wahrnehme, während es (an wiederum anderer Stelle) ausführte, dass von Seiten des KJHT betont werde, dass die Zusammenarbeit zwischen der Mutter und der „Mobilen Arbeit mit Familien“ „derzeit“ sehr gut sei. Eine Pflegemitarbeiterin habe jedoch berichtet, dass die Mutter bei den Besuchskontakten sehr viel zu essen bringe und den Zwillingen (gemeint S***** [Bub]) kaum Grenzen setze. Widersprüchlich dazu ging das Erstgericht aber (wiederum ebenfalls in dem den Feststellungen gewidmeten Teil seines Beschlusses an anderer Stelle) davon aus, dass die Entwicklung der Mutter in ihrer Beziehung zu den Zwillingen auch insoweit ersichtlich sei, „dass sie bei der Interaktionsbeobachtung, die durch die Sachverständige durchgeführt“ worden sei „offensichtlich gelernt“ habe, auf die Kinder zuzugehen, sie zu trösten und ihnen auch Grenzen zu setzen.
Dem stehe gegenüber, dass die Kinder sich in der Pflegefamilie gut eingelebt hätten und sowohl in psychischer als auch in intellektueller Hinsicht den festgestellten Entwicklungsrückstand nachgeholt hätten. Diese gewonnene Stabilität und Gruppenfähigkeit sei eine wesentliche Voraussetzung für den Schuleintritt der Zwillinge, der im September 2016 geplant sei.
Das Erstgericht räumte zwar ein, dass die Kindesmutter sehr positive Schritte zur Verbesserung der Situation gesetzt habe (so auch durch den Besuch von Deutsch‑ und Erziehungskursen), ging aber – trotz der Bejahung der Erziehungsfähigkeit für die Zwillinge durch die dazu beigezogene Sachverständigen – davon aus, dass weiterhin die Gefahr bestehe, dass sie bei einer Rückführung auch der Zwillinge und damit bei der Übernahme der Pflege von vier Kindern neuerlich der Situation einer Überforderung ausgesetzt wäre. Es müsse davon ausgegangen werden, dass das Kindeswohl und das altersadäquate Aufwachsen bei der Mutter nach wie vor gefährdet wären und die Sicherheit für eine gelingende Entwicklung der Kinder noch nicht gegeben sei. Die Sachverständige habe die Problematik einer „insgesamten Überforderungssituation“ der Mutter mit vier Kindern außer Acht gelassen. Darüber hinaus war für das Erstgericht bei seiner Entscheidung die hohe Anzahl von Gefährdungsmeldungen vorrangig. Es stütze sich auf die Einschätzung des KJHT, der nach wie vor von einem hohen Gefährdungspotenzial ausging, wenn die Mutter zusätzlich zur Betreuung der beiden älteren Geschwister auch die Wiedereingewöhnung der Zwillinge in den Haushalt mit erzieherischer Kompetenz gewährleisten müsste. Dessen Beurteilung sah das Erstgericht auch durch die Stellungnahme der Familiengerichtshilfe bestätigt, wobei – wie das Erstgericht erläuterte – für deren Annahme einer Gefährdung der Kinder bei der Rückführung zur Mutter die Interaktionsbeobachtung ausschlaggebend gewesen sei, bei der aggressives Verhalten des S***** [Bub] gegenüber seiner Mutter ersichtlich gewesen sei (teilweise Haare ausreißen, mit Bauklötzen auf sie losgehen) und es auch in dieser Situation der Interaktionsbeobachtung der Mutter „nicht ausreichend“ gelungen sei, „eine Grenzsetzung durchzuführen“. Im Zusammenhalt mit den gesamten Verfahrensergebnissen ergäben sich ausreichende Anhaltspunkte für eine Gewaltbeziehung zwischen der Mutter und dem Vater der Kinder und mehrfache Vernachlässigung der Kinder in psychischer und physischer Hinsicht sowie mangelnde Förderung. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Zwillinge rückgeführt werden könnten, sei das Wohl aller vier Kinder im Auge zu behalten. Die Zwillinge befänden sich in einer Pflegefamilie, in der starke Bindungen entstanden seien, wo sie sich wohlfühlten und auch zeigten, dass sie dort bleiben wollten. Zum nach wie vor schwierigen Verhalten des Buben, trete die Tatsache hinzu, dass R***** altersbedingt erhöhter Aufmerksamkeit der Mutter bedürfe. Die für die Kinder R***** und S***** [M*****] wichtige Rückführung dürfe nicht dadurch gefährdet werden, dass neuerlich eine massiv die Erziehungsfähigkeit einschränkende Überforderungssituation eintrete, die aus dem Gesamtzusammenhalt befürchtet werden müsse. Es sei daher der Verbleib der Kinder bei den Pflegeeltern notwendig und die Obsorge dem KJHT zu übertragen.
Das Rekursgericht bestätigte den angefochtenen Beschluss zur Gänze; zum Antrag auf Rückführung mit der Maßgabe, dass es den am 18. November 2013 gestellten Antrag der Mutter auf Rückführung ihre Kinder nicht ab‑ sondern zurückwies. Es erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig.
Inhaltlich hielt es der Bemängelung der Mutter, das Erstgericht habe die wissenschaftlich fundierten Ausführungen der bestellten Gutachterin unter anderem auch zur der bejahten Erziehungsfähigkeit der Mutter nicht berücksichtigt, lediglich entgegen, dass die Diagnostik von Leistungsfähigkeit, Persönlichkeitsmerkmalen, Verhaltens-störungen, psychischen Veränderungen und Leidenszuständen sowie sich darauf gründende Beratungen, Prognosen, Zeugnisse und Gutachten nach § 3 Abs 2 Psychologengesetz [Anm: in der damals anzuwendenden Stammfassung BGBl I 2013/82] psychologische Tätigkeiten seien, die die Absolvierung des Studiums der Psychologie voraussetzten. Die bestellte Gutachterin sei von Beruf Heilpädagogin und psychoanalytisch‑pädagogische Erziehungsberaterin und (gar) nicht in die Liste der Sachverständigen eingetragen und damit auch nicht in jene der Fachgruppe Psychologie, Fachgebiet Familien-, Kinder- und Jugendpsychologie (inklusive Obsorge und Kontaktrecht), oder jene der Fachgruppe Pädagogik, Fachgebiet Erziehungsberatung, Obsorge, Besuchsrecht, Fremdunterbringung und Kindeswohl. Demgegenüber sei Mag. S*****‑T***** [Anm: die einen an die ersten Pflegeeltern gerichteten klinisch‑psychologischen Kurzbefund im Juni 2013 zur Fragestellung: „Abklärung des aktuellen Entwicklungsstands st. post Herausnahme aus der Familie und vorübergehende Unterbringung in der Krisenpflegefamilie L***** (di die erste Krisenpflegefamilie) erstellt hatte], aufgrund ihrer Ausbildung als klinische Psychologin sowie Kinder‑, Jugend‑ und Familienpsychologin befugt, eine Stellungnahme zum Kindeswohl und über die Fremdunterbringung abzugeben. Dem Argument der Rekurswerberin, die Instabilität der Kinder sei auf die Traumatisierung durch die Abnahme zurückzuführen, könne daher nicht beigetreten werden. Im Zusammenhang mit der von ihr behaupteten Erziehungsfähigkeit verwies es auf die Beobachtung bei einem Besuch der Mutter (zu agressivem Verhalten des Sohnes) und vertrat den Standpunkt, die bestellte Sachverständige habe die 15 Gefährdungsmeldungen und das Nichteinhalten getroffener Vereinbarungen nicht ausreichend berücksichtigt. Dem Einwand der Mutter, sie sei in der Lage den Zwillingen Grenzen zu setzen, begegnete es mit dem bloßen Hinweis, dass die Übergriffe des Sohnes einer besonders hohen Kompetenz und Zuwendung einer Bezugsperson bedürften. Ebenso erwiderte es dem Einwand der Mutter, sie habe 60 % der angebotenen Termine wahrgenommen und Gründe gehabt, warum sie die anderen Termine nicht wahrgenommen habe, nur, diese habe sämtliche Termine mit dem KJHT wahrzunehmen, um vom Unterstützungsangebot der Jugendwohlfahrt vollständig und optimal zu profitieren. Zur Anwendung gelinderer Mittel führte das Rekursgericht aus, die Mutter lasse offen, welche hier konkret zum Tragen hätten kommen sollten. Da sie bei der Übertragung der Obsorge ausscheide und die Pflegeeltern diese nicht anstrebten, zum Vater kein Kontakt bestehe und die Großeltern entweder verstorben bzw die Anschrift der mütterlichen Großmutter unbekannt sei, sei die Obsorge dem KJHT zu übertragen gewesen.
Den am 18. November 2013 gestellten Antrag auf Rückführung der Kinder in ihren Haushalt, der auf die umgängige Rückgängigmachung der Maßnahme nach § 211 Abs 1 Satz 2 ABGB abziele, wies es im Rahmen einer Maßgabebestätigung unter Hinweis auf die Nichteinhaltung der Frist nach § 107a Abs 1 Satz 2 AußStrG zurück. Die Festlegung des Kontaktrechts habe der Vereinbarung der Mutter mit dem KJHT entsprochen; den nun im Rekursantrag enthaltenen Antrag habe sie im Verfahren erster Instanz nicht gestellt.
Rechtliche Beurteilung
Gegen die Entscheidung über die Obsorge und den Rückführungsantrag richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter, der entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichts – zulässig und teilweise im Sinn des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags berechtigt ist.
(Vom Obersten Gerichtshof freigestellte) Revisionsrekursbeantwortungen wurden nicht erstattet.
1. Zur Bestätigung der Zurückweisung des Antrags auf Rückführung:
Die Revisionsrekurswerberin strebt zwar ausdrücklich eine Abänderung der Entscheidung auch dahin an, dass ihrem Rückführungsantrag stattgegeben werde, setzt aber der Begründung des Rekursgerichts zu jenem Punkt keinerlei Ausführungen entgegen. Die Mutter hatte am 22. August 2013 ihre Zustimmung zur Unterbringung ihrer Kinder widerrufen und in der ersten Verhandlung am 18. November 2013 die Rückführung der Zwillinge beantragt. Anträge eines (obsorgeberechtigten) Elternteils, die auf ein umgehendes Rückgängigmachen einer Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers nach § 211 Abs 1 Satz 2 ABGB abzielen, müssen innerhalb der Frist des § 107a Abs 1 Satz 2 AußStrG gestellt werden (1 Ob 97/14t = RIS‑Justiz RS0129490). Der außerhalb der vierwöchigen Frist ab Beginn der Maßnahme eingebrachte Antrag wurde daher vom Rekursgericht zutreffend zurückgewiesen.
2. Zur Entscheidung über die Übertragung der Obsorge hinsichtlich der gesamten Pflege und Erziehung:
2.1. Zu Recht zeigt die Revisionswerberin einen Mangel des Rekursverfahrens gemäß § 66 Abs 1 Z 2 AußStrG und bei der Behandlung der Frage der Anwendung gelinderer Mittel auf.
2.2. Der Jugendwohlfahrtsträger (KJHT) ist hier nach § 211 Abs 1 letzter Satz ABGB aufgrund der von ihm getroffenen Maßnahme von Gesetzes wegen vorläufig mit der Pflege und Erziehung betraut. Gegenstand des Verfahrens ist die endgültige Übertragung dieser Teilbereiche der Obsorge von der Mutter an ihn.
Die Bestimmung des § 204 ABGB bringt klar zum Ausdruck, dass primär die Obsorge durch Eltern, Großeltern oder Pflegeeltern zu erfolgen hat. Mit diesem Vorrang der leiblichen Eltern, Adoptiveltern und Pflegeeltern (RIS‑Justiz RS0123509 [T1]) wird auch dem Recht nach Art 8 MRK auf Schutz des Privat‑ und Familienlebens Rechnung getragen (vgl dazu 9 Ob 16/14i mwN). Ebenfalls Teil der Familie sind Geschwister, denen nach § 188 Abs 2 Satz 1 ABGB als „Dritte“ unabhängig vom Kontaktrecht jedes Elternteils ein eigenes Kontaktrecht zustehen kann (10 Ob 53/13m = RZ 2014/21, 255 [Barnreiter] = EF‑Z 2014/106, 170 [Beck]). Bei der Entscheidung über die Obsorge kommt auch dem gemeinsamen Aufwachsen von Geschwistern in demselben Haushalt als einem Teilaspekt von vielen anderen Wert für ihre Entwicklung zu (RIS‑Justiz RS0047845 [T3]; zuletzt 1 Ob 126/13f).
Die Maßnahme der Übertragung an den KJHT darf wegen des damit regelmäßig verbundenen Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) nach ständiger Rechtsprechung nur angeordnet werden, wenn sie im Interesse des Kindes dringend geboten und soweit sie zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist, wobei grundsätzlich ein strenger Maßstab angelegt werden muss; sie muss das letzte Mittel sein (RIS‑Justiz RS0048699; RS0047841 [T10, T15]; RS0048712; RS0085168 [T5]). Bei der Entscheidung ist ausschließlich das Wohl des Kindes maßgebend, wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind (RIS‑Justiz RS0048632). Unter dem Begriff der Gefährdung des Kindeswohls ist nicht geradezu ein Missbrauch der elterlichen Befugnisse zu verstehen. Es genügt, wenn die Eltern durch ihr Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährden (RIS‑Justiz RS0048633; RS0048684). Dazu gehört auch das Nichtbewältigen von Erziehungsaufgaben (RIS‑Justiz RS0048633 [T18]), ohne dass ein subjektives Schuldelement hinzutreten müsste (RIS‑Justiz RS0048633 [T19]).
Einen Günstigkeitsvergleich vorzunehmen, lehnt die Rechtsprechung ab. Dass ein Kind in sozialen Einrichtungen oder bei Dritten besser versorgt, betreut oder erzogen würde als bei seinen Eltern, rechtfertigt für sich allein noch keinen Eingriff in die elterliche Obsorge (RIS‑Justiz RS0048704; zuletzt 5 Ob 63/13w; 4 Ob 165/13p, 8 Ob 7/14h). Selbst dann, wenn bereits die Obsorge wegen Gefährdung des Kindeswohls entzogen werden musste, hat die Aufhebung einer Obsorgeübertragung an einen Dritten zu erfolgen, wenn gewährleistet ist, dass keine Gefahr mehr für das Wohl des Kindes besteht. Dabei stehen nur solche zu erwartenden Beeinträchtigungen einer Rückführung des Kindes entgegen, die als nicht bloß vorübergehende Umstellungsschwierigkeiten zu werten sind, sondern eine konkrete, ernste Gefahr für die Entwicklung des Kindes bedeuten würden (5 Ob 103/10y ua; RIS‑Justiz RS0009673 [T4]). Das hat auch für den Fall der Prüfung der Obsorgeübertragung an den KJHT zu gelten, wenn keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls ohne diese Obsorgeübertragung bestehen (vgl 3 Ob 155/11g).
Ob ein bestimmter Sachverhalt die Entziehung der Obsorge rechtfertigt, ist eine immer aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls zu treffende Ermessensentscheidung; sie kann nur auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage getroffen werden.
2.3. Im konkreten Fall reichen die Feststellungen, soweit sie als Ergebnis eines mangelfreien Rekursverfahrens als gesicherte Tatsachen anzusehen sind, für die Annahme einer nicht anders abwendbaren Gefährdung des Kindeswohls noch nicht aus, überdies sind sie teilweise widersprüchlich:
2.3.1. Die Ausführungen des Rekursgerichts zur Befähigung der im Verfahren beigezogenen Sachverständigen lassen zum einen nicht erkennen, ob es diese überhaupt als zur Frage der Erziehungsfähigkeit der Mutter ausreichend geeignet ansah oder nicht. Das Rekursgericht ging zum anderen auf die Tatsachenrüge, dass die Mutter 60 % und nicht 50 % der angebotenen Termine wahrgenommen habe, und auf die Gründe, warum sie die anderen Termine nicht wahrgenommen hatte, nur unzureichend und mit dem nicht näher begründeten Pauschalargument ein, eine Mutter habe sämtliche Termine wahrzunehmen. Es befasste sich demnach weder mit deren Anzahl noch mit dem Gewicht der von der Rekurswerberin aufgezeigten Verhinderungsgründe (etwa Termine beim Arbeitsmarktservice).
Ohne also die Tatsachenrüge zum angenommenen Ausmaß der Erziehungsberatung zu behandeln, hielt es aber in der Folge der Mutter zu ihrem Einwand, einer Überforderung könne mit unterstützender Beratung begegnet werden, gerade die von ihr (eben bekämpfte) Anzahl der wahrgenommenen Termine entgegen, nämlich dass sie nur die Hälfte der angebotenen Unterstützungen wahrgenommen habe. Dazu hatte im Übrigen das Erstgericht (angesichts der zunehmenden Anzahl der Wahrnehmung der Termine und an anderer Stelle) der Mutter eine hohe Dichte an Inanspruchnahme der Erziehungsberatung beim Beratungszentrum K***** und bei der p***** Familienberatung attestiert und sogar gefolgert, dass eine solche Dichte von der Mutter bei der Betreuung von vier Kindern in dieser Anzahl nicht weiter wahrgenommen werden könne; ebenso hatte es auch festgestellt, dass die Zusammenarbeit mit der „Mobilen Arbeit mit Familien“ derzeit sehr gut“ sei. Angesichts dessen scheint der Vorhalt des Rekursgerichts, die Mutter habe Unterstützung nicht ausreichend angenommen und dessen – trotz der Ausführungen des Erstgerichts zur guten Zusammenarbeit – ohne Sachsubstrat vorgenommene Mutmaßung, es sei offen, ob die Mutter in Zukunft mit dem Jugendwohlfahrtsträger zusammenarbeiten und auch alle vereinbarten Termine wahrnehmen werde, im Hinblick auf die Ausführungen des Erstgerichts weder schlüssig, noch ist er – wegen der unzureichend behandelten Tatsachenrüge – als Ergebnis eines mangelfreien Rekursverfahrens anzusehen (§ 66 Abs 1 Z 2 AußStrG).
2.3.2. Hinzu tritt die Widersprüchlichkeit der Feststellungen des Erstgerichts zur Frage der Fähigkeit der Mutter, den Zwillingen Grenzen zu setzen. Das Erstgericht hielt fest, es sei berichtet worden, dass die Mutter den Zwillingen kaum Grenzen setze (worauf es sich auch später beruft), stellte aber andererseits fest, sie habe „offensichtlich gelernt“, den Zwillingen auch Grenzen zu setzen. Damit fehlt es an widerspruchsfrei verwertbaren Feststellungen zu diesem Punkt. Fehlen aber klare Feststellungen, mangelt es für die hier von den Vorinstanzen angenommene und für die Entscheidung ausschlaggebende Prognose, es werde zu einer Überforderung kommen, an einer gesicherten Tatsachengrundlage. Diese Prognose (und die Verneinung gelinderer Mittel) wurde nämlich auch und in wesentlichen Anteilen auf die (Un‑)Fähigkeit Grenzen zu setzen und auf den Themenkomplex (Nicht‑)Wahrnehmung von Beratungsterminen und (Nicht‑)Annahme von angebotener Unterstützung zurückgeführt. Die Gewaltbeziehung zwischen Vater und Mutter besteht nun schon seit Jahren nicht mehr.
Schon wegen dieser widersprüchlichen Feststellungen, die eine abschließende rechtliche Beurteilung nicht ermöglichen und die daher grundsätzlich eine erhebliche Rechtsfrage begründen (1 Ob 516/87 ua; RIS‑Justiz RS0042744), ist mit einer Aufhebung in die erste Instanz vorzugehen (vgl 4 Ob 145/11v; 4 Ob 55/14p; 8 Ob 126/14h). Das Erstgericht wird zur Frage der Fähigkeit der Mutter, den Zwillingen, insbesondere dem Sohn, Grenzen zu setzen, wie allgemein zur Erziehungsfähigkeit klare Feststellungen zu treffen haben; dabei werden wegen des Gebots des (aktuellen) Kindeswohls angesichts der seit der mündlich verkündeten Entscheidung erster Instanz bisher (wegen Zustellversuchen an den Vater und/oder Großeltern im Zuge des Rekursverfahrens) verstrichenen Zeit von mehr als eineinhalb Jahren (die Abnahme der Kinder fand vor mehr als drei Jahren statt) die aktuellen Umstände zu erheben sein. Ob das Erstgericht die vom Rekursgericht geäußerten Bedenken zu einer fehlenden Fachkompetenz der beigezogenen Gutachterin teilt und deswegen eine(n) andere(n) Sachverständige(n) beizieht, wird von diesem selbst zu beurteilen sein.
2.4. Im weiteren Verfahren wird bei der Beurteilung der Erziehungsfähigkeit der Mutter auch zu prüfen sein, ob mit unterstützenden Maßnahmen etwaige Defizite kompensierbar wären, ob also einer zukünftigen Gefährdung durch geeignete Auflagen oder Kontrollen (§ 107 Abs 3 AußStrG; vgl nur RIS‑Justiz RS0127236) begegnet werden kann. Für den Fall, dass eine Übertragung der Obsorge dann nicht mehr in Betracht käme, wäre ein stufenweises und dem Alter der Kinder entsprechendes Programm für die Rückkehr zur Mutter zu erarbeiten. Nur dann, wenn im weiteren Verfahren hervorkäme, dass nach wie vor von einer Gefährdung des Wohls der Kinder bei der Mutter und den Geschwistern unter Ausblendung der Umstellungsschwierigkeiten, wie sie mit einer schrittweisen kind‑ und altersgerechter Rückführung trotzdem naturgemäß einhergehen, auszugehen wäre, wäre die Obsorge an den KJHT zu übertragen. Es kann nämlich dem Gesichtspunkt, dass die Kinder in der Pflegefamilie derzeit gut betreut werden, nicht allein ausschlaggebende Bedeutung zukommen, weil ansonsten bloß unter Hinweis auf die Stetigkeit der Verhältnisse eine Abnahme, die eine gewisse Zeitdauer anhält, besonders bei einem Kind, das in den ersten Lebensjahren gut fremduntergebracht ist, dazu führen müsste, es dort zu belassen. Eine Rückführung an die Eltern wäre dann für immer ausgeschlossen (vgl auch 3 Ob 155/11g) und eine nach der Rechtsprechung tunlichst zu vermeidende Trennung von den (leiblichen) Geschwistern die Folge (RIS‑Justiz RS0047845 [T4]).
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