European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:009OBA00133.15X.1126.000
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst dahin zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.846,56 EUR (darin 307,76 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 2.691,84 EUR (darin 221,64 EUR USt und 1.362 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Der Kläger wurde am 18. 7. 1994 als Gleiswerker bei den Österreichischen Bundesbahnen aufgenommen. Am 1. 8. 1998 wurde der Kläger nach den Bestimmungen des § 2 der Bundesbahn‑Besoldungsordnung 1963 (BGBl 1963/170) angestellt und ab diesem Tag auch definitiv (unkündbar) gestellt. Mit 1. 1. 2005 ging das Dienstverhältnis des Klägers aus Anlass des Betriebsübergangs auf die Ö***** AG, dann mit Wirksamkeit vom 1. 1. 2007 auf die Ö***** AG und in weiterer Folge auf die Beklagte über. Seit 1. 1. 2012 war der Kläger als angelernter Facharbeiter beschäftigt.
Mit Disziplinarerkenntnis vom 20. 11. 2012 stellte die Disziplinarkommission gemäß § 47 der Disziplinarordnung 2004 (DiszO 2004) aufgrund mehrerer Vorfälle fest, dass der Kläger schuldhaft gegen die Bestimmungen der §§ 6 Abs 1, 7 Abs 1 und 9 Abs 1 und 5 der Allgemeinen Vertragsbedingungen für Dienstverträge bei den Österreichischen Bundesbahnen (AVB) sowie gegen § 30 der EisenbahnarbeitnehmerInnenschutzverordnung verstoßen und damit schwere Dienstpflichtverletzungen begangen habe. Die Disziplinarkommission stellte gemäß § 48 Abs 1 DiszO 2004 weiters fest, dass der Kläger dadurch einen Entlassungsgrund gesetzt habe, und zwar ‑ so in den Gründen des Disziplinarerkenntnisses ‑ den Entlassungstatbestand der Vertrauensunwürdigkeit nach § 27 Z 1 AngG. Das Disziplinarerkenntnis vom 20. 11. 2012 erging mehrheitlich gegen die Stimme des Betriebsratsvorsitzenden.
Mit Schreiben vom 21. 11. 2012 sprach die Beklagte die Entlassung des Klägers mit sofortiger Wirkung aus.
Der Kläger begehrt primär die Feststellung des aufrechten Fortbestands seines Dienstverhältnisses; hilfsweise, die Entlassung für unwirksam zu erklären. Er habe keinen Entlassungsgrund gesetzt. Im Übrigen sei das Disziplinarerkenntnis nichtig und entfalte keine Rechtswirkungen. Die Entlassung sei daher rechtswidrig erfolgt. Die dem Disziplinarerkenntnis zugrunde liegende Betriebsvereinbarung Nr 14 sei nicht rechtswirksam zustandegekommen. Nur die Disziplinarordnung 1979 könne auf den Kläger zur Anwendung kommen. Eine Umdeutung des gegen den Kläger geführten Disziplinarverfahrens auf die Regelungen der Disziplinarordnung 1979 komme jedoch nicht in Frage. Eine schlichte Entlassung scheide aufgrund der Selbstbindung der Beklagten an Disziplinarerkenntnisse aus. Selbst im Fall, dass die Disziplinarordnung 2004 anwendbar wäre, sei zu beachten, dass der Kläger nicht Angestellter iSd § 1 AngG sei, sondern Facharbeiter. Daher könnten die Regelungen des Angestelltengesetzes nicht zur Anwendung kommen. Da kein Entlassungsgrund nach dem Angestelltengesetz zu beurteilen gewesen sei, wäre die Einstimmigkeit der Disziplinarkommission erforderlich gewesen, an der es jedoch im konkreten Fall zufolge bloßer Mehrstimmigkeit gefehlt habe.
Die Beklagte wandte dagegen ein, dass die Entlassung des Klägers berechtigt erfolgt sei. Das Verhalten des Klägers stelle eine schwere Dienstpflichtverletzung dar und habe das in ihn gesetzte Vertrauen so schwer erschüttert, dass der Beklagten eine Weiterbeschäftigung unzumutbar gewesen sei. Das vor Ausspruch der Entlassung erforderliche Disziplinarverfahren sei unverzüglich eingeleitet worden. Anzuwenden sei die Disziplinarordnung 2004, die im Jahr 2009 mit der Betriebsvereinbarung Nr 14 saniert worden sei. § 48 DiszO 2004 idF 2009 verweise auf die Entlassungsgründe des § 27 AngG, die ausnahmslos für alle Dienstnehmer der Beklagten gelten, unabhängig davon, ob sie als Angestellte oder Arbeiter zu qualifizieren seien.
Das Erstgericht gab dem Klagehauptbegehren statt. Die Entlassung des Klägers sei nur im Wege eines Disziplinarverfahrens möglich. Gründe, die eine Entlassung des Klägers rechtfertigen könnten, lägen jedoch nicht vor.
Das Berufungsgericht hob diese Entscheidung über Berufung der Beklagten mit dem angefochtenen Beschluss auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Die Entlassung des Klägers sei an die Durchführung eines Disziplinarverfahrens gebunden. Die Selbstbindung an die Vorschaltung eines Disziplinarverfahrens werde von der Beklagten auch nicht bestritten. Die Disziplinarordnung 2004 sei nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs rechtsunwirksam gewesen. Dies treffe jedoch nicht auf ihre Fassung vom 25. 2. 2010 mit Wirksamkeit vom 1. 7. 2009 zu (DiszO 2004 idF 2009). Allerdings fehle es an Feststellungen zur Beurteilung der Frage, ob eine Kompetenzübertragung auch der Betriebsräte ‑ und insbesondere des für den Kläger zuständigen Betriebsrats ‑ an den Zentralbetriebsrat iSd § 114 Abs 1 ArbVG erfolgt sei, sodass das Verfahren diesbezüglich ergänzungsbedürftig sei. Da sich die Beklagte an die Durchführung eines Disziplinarverfahrens gebunden habe, komme eine solche Kompetenzübertragung jedenfalls in Betracht. Das Verfahren erweise sich darüber hinaus auch zur Klärung der geltend gemachten Entlassungsgründe als ergänzungsbedürftig. Unabhängig von der Frage, welchem Entlassungsregime der Kläger unterliege, sei eine schwere und beharrliche Dienstpflichtverletzung geeignet, einen Entlassungstatbestand herzustellen.
Das Berufungsgericht ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu. Es fehle Rechtsprechung zur Frage, ob die Disziplinarordnung 2004 idF 2009 unwirksam sei, weil ein Teilbetrieb eines Konzernunternehmens von ihrem Anwendungsbereich mangels erforderlicher Zustimmung iSd § 114 ArbVG ausgeschlossen sei.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs des Klägers, mit dem er die Stattgebung der Klage anstrebt.
Die Beklagte beantragt die Zurück‑, hilfsweise die Abweisung des Rekurses.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist zulässig und insoweit berechtigt, als zufolge Spruchreife gleich in der Sache selbst erkannt werden kann.
1. Im Allgemeinen wird aufgrund eines Zulässigkeitsausspruchs des Berufungsgerichts iSd §
519 Abs 1 Z 2 ZPO ein Aufhebungsbeschluss anfechtbar, sofern es darum geht, eine erhebliche Rechtsfrage durch den Obersten Gerichtshof überprüfen zu lassen. Demnach muss im Rekurs gegen einen Aufhebungsbeschluss eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO geltend gemacht werden, mag dies auch nicht die von der zweiten Instanz als erheblich qualifizierte Rechtsfrage, sondern eine andere Rechtsfrage sein, deren Lösung erhebliche Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zukommt ( Zechner in Fasching/Konecny² IV/1 § 519 Rz 106 mH auf 1 Ob 71/02a; RIS‑Justiz RS0048272). Dies ist hier der Fall.
2. Richtig ist, dass eine Entlassung nach ständiger Rechtsprechung nicht als Disziplinarmaßnahme gemäß § 102 ArbVG anzusehen ist und daher auch keine Disziplinarstrafe einer gemäß § 96 Abs 1 Z 1 ArbVG oder durch Kollektivvertrag zustande gekommenen Disziplinarordnung sein kann (RIS‑Justiz RS0053043). Ist jedoch wie hier in einer Disziplinarordnung die Entlassung eines Dienstnehmers als Disziplinarmaßnahme vorgesehen und darf diese nur im Rahmen eines Disziplinarverfahrens ausgesprochen werden, sind derartige Regelungen vom Dienstgeber zu beachten, widrigenfalls eine Beendigungserklärung rechtsunwirksam ist (8 ObA 43/14b; Reissner in ZellKomm² § 102 Rz 23 mwH; Goricnik in Gahleitner/Mosler , Arbeitsverfassungsrecht III 5 § 102 Rz 21). Es ist daher nicht zu prüfen, ob die betriebliche Disziplinarkommission den Vorschriften des § 102 ArbVG entsprach (9 ObA 201/94). Nach der ständigen Rechtsprechung steht dem Gericht aber ein umfassendes Recht zur Nachprüfung betrieblicher Disziplinarerkenntnisse zu (4 Ob 67/79 = SZ 53/119; RIS‑Justiz RS0029832). Dieses Recht umfasst nicht nur die Prüfung der tatsächlichen Feststellungen der Disziplinarkommission, sondern auch die Prüfung von schwerwiegenden Mängeln des Disziplinarverfahrens (9 ObA 150/95), bei deren Vermeidung die Disziplinarkommission zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre (9 ObA 1/99h; RIS‑Justiz RS0050930).
3.1 Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass sich aus den dem Dienstverhältnis des Klägers zugrunde liegenden Bestimmungen im Anlassfall ergibt, dass der Ausspruch einer Entlassung des Klägers an die Vorschaltung eines Disziplinarverfahrens gebunden ist (vgl 8 ObA 12/04d), wird von der Beklagten nicht bestritten. Ausgehend davon bedarf es im Anlassfall einer Auseinandersetzung mit den Regelungen der DiszO 2004 idF 2009, auf die sich die Beklagte beruft und nach denen auch das letztlich zur Entlassung führende Disziplinarverfahren gegen den Kläger durchgeführt wurde. Selbst wenn man nun mit der Beklagten von der ‑ vom Kläger bestrittenen und nach den Feststellungen noch nicht abschließend beurteilbaren ‑ Wirksamkeit der Disziplinarordnung 2004 idF 2009 auch für den Betrieb, in dem der Kläger tätig ist, ausginge, wurden die Regelungen dieser Disziplinarordnung schon nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht eingehalten.
3.2 Gemäß § 8 Abs 1 lit b DiszO 2004 idF 2009 ist die Entlassung eine Disziplinarstrafe. Die Verhängung der Disziplinarstrafe der Entlassung ist gemäß § 8 Abs 2 DiszO 2004 idF 2009 nur bei Arbeitnehmern zulässig, auf die die Bestimmungen des § 67 Abs 3 AVB Anwendung finden. Dies ist beim Kläger unstrittig der Fall.
3.3 Abschnitt II der DiszO 2004 idF 2009 enthält Sonderbestimmungen bei Entlassungen. § 48 Abs 1 DiszO 2004 idF 2009 lautet (Unterstreichung durch den erkennenden Senat):
„(1) Die Disziplinarkommission gemäß § 47 hat die Schuldfrage zu klären und festzustellen, ob der Beschuldigte einen Entlassungsgrund gesetzt hat. Die Feststellung erfolgt grundsätzlich mit Stimmenmehrheit. Einstimmigkeit ist dann erforderlich, wenn es sich nicht um einen Entlassungstatbestand gemäß § 27 Angestelltengesetz mit Ausnahme der Zif 2 handelt oder wenn der Beschuldigte eine nicht mit Vorsatz begangene Dienstpflichtverletzung in Ausübung des ausführenden Betriebsdienstes begangen hat.“
3.4 Das Dienstverhältnis der ÖBB‑Bediensteten beruht nach ständiger Rechtsprechung auf einem privatrechtlichen Vertrag, der seit dem Inkrafttreten des Bundesbahngesetzes 1992 (BBG 1992, BGBl 1992/825) nicht mehr zum Bund, sondern zu den Österreichischen Bundesbahnen bzw deren Rechtsnachfolgern, darunter auch die Beklagte, besteht. Die in diesem Zusammenhang vorgesehenen diversen Dienstvorschriften wie Dienstordnungen, Disziplinarordnungen udgl, stellen Vertragsschablonen dar, die mit dem Abschluss des jeweiligen Einzelvertrags rechtlich wirksam werden (RIS‑Justiz RS0052622 ua). Mit der Ausgliederung der ÖBB durch das BBG 1992 ist grundsätzlich der öffentlich‑rechtliche Einschlag der Dienstverhältnisse der Österreichischen Bundesbahnen weggefallen und sind diese nach rein privatrechtlichen Kriterien zu beurteilen (8 ObA 110/01m). Dazu wurde bereits ausgesprochen, dass erst durch Art 9 Bundesbahnstrukturgesetz 2003, BGBl I 2003/138, in § 5 AngG die dort für bei Eisenbahnen beschäftigten Arbeitnehmer vorgesehene Ausnahme von der Anwendung des Angestelltengesetzes aufgehoben wurde. Gemäß § 42 Abs 4 AngG ist das Angestelltengesetz erst auf Arbeitsverhältnisse anzuwenden, deren vertraglich vereinbarter Beginn nach dem 31. 12. 2003 liegt (8 ObA 71/03d; 8 ObA 12/04d). Dies ist beim Kläger jedoch nicht der Fall.
3.5 Das Dienstverhältnis des Klägers zu den Österreichischen Bundesbahnen hat unstrittig bereits am 18. 7. 1994 begonnen. Unabhängig von der konkreten Tätigkeit des Klägers für die Beklagte kommt daher das Angestelltengesetz gemäß § 5 AngG idF vor dem BGBl I 2003/138 auf sein Dienstverhältnis nicht zur Anwendung. Davon abgesehen verrichtete der Kläger auch keine Angestelltentätigkeit (§ 1 Abs 1 AngG). Damit kommt aber auch § 27 AngG auf das Dienstverhältnis des Klägers nicht zur Anwendung, sodass es an einem Entlassungstatbestand nach dieser Bestimmung fehlt.
Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten verweist § 48 Abs 1 DiszO 2004 idF 2009 nicht unabhängig von der Frage, ob ein Arbeitnehmer als Angestellter oder als Arbeiter zu qualifizieren ist, auf die Entlassungsgründe des § 27 AngG, sondern setzt, soweit er sich auf § 27 AngG bezieht, auch die Anwendbarkeit des AngG voraus. Dies ergibt sich schon aus dem klaren Wortlaut der Bestimmung.
4. Mangels Anwendbarkeit des Angestelltengesetzes auf das Dienstverhältnis des Klägers war ein „Entlassungstatbestand gemäß § 27 Angestelltengesetz“ iSd § 48 Abs 1 DiszO 2004 idF 2009 im Anlassfall nicht zu beurteilen. Die in diesem Fall ‑ nämlich, wenn es sich nicht um einen Entlassungstatbestand gemäß § 27 AngG handelt (mit Ausnahme der Z 2) ‑ erforderliche Einstimmigkeit der Disziplinarkommission war nach den insofern unangefochtenen Feststellungen nicht gegeben. Mangels Einstimmigkeit hätte die Disziplinarkommission im Anlassfall gemäß § 48 Abs 1 DiszO 2004 idF 2009 daher zu einem anderen Ergebnis, nämlich zur Feststellung gelangen müssen, dass der Kläger keinen Entlassungsgrund gesetzt hat. Folge dieses von den Gerichten aufzugreifenden schweren Mangels des Disziplinarverfahrens ist, dass das Erkenntnis schon aus diesem Grund nicht als Grundlage der Entlassung des Klägers herangezogen werden kann. Die von der Beklagten ausgesprochene Entlassung erweist sich demnach selbst unter der Annahme der Wirksamkeit der Disziplinarordnung 2004 idF 2009 als rechtsunwirksam. Einer weiteren Auseinandersetzung mit den vom Berufungsgericht als erheblich bezeichneten Rechtsfragen bedarf es vor diesem Hintergrund nicht.
5. Der Oberste Gerichtshof muss bei Spruchreife gemäß § 519 Abs 2 Z 2 Satz 2 ZPO in der Sache selbst erkennen, wenn die Streitsache entscheidungsreif ist ( Zechner aaO § 519 Rz 109). Der angefochtene Beschluss des Berufungsgerichts war daher aufzuheben und das klagestattgebende Ersturteil wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO. Für die Berufungsbeantwortung des Klägers gebührt der ERV‑Zuschlag gemäß § 23a RATG lediglich in Höhe von 1,80 EUR (RIS‑Justiz RS0126594).
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