OGH 10ObS105/15m

OGH10ObS105/15m22.10.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, den Hofrat Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Ernst Bassler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei L*****, vertreten durch Dr. Christoph Gernerth, Dr. Gabriele Gernerth und Dr. Alexander Schalwich, Rechtsanwälte in Hallein, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist‑Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 5. August 2015, GZ 12 Rs 74/15m-50, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00105.15M.1022.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der am 14. 8. 1957 geborene Kläger begehrt den Zuspruch der Invaliditätspension.

Das Erstgericht wies das Klagebehren ab. Es traf ‑ soweit für das Revisionsverfahren wesentlich ‑ folgende Feststellungen:

„Infolge seiner ‑ im einzelnen näher festgestellten ‑ Leistungseinschränkungen kann der Kläger nur mehr einen sechsstündigen Arbeitstag bewältigen. Unter Berücksichtigung fachübergreifender Überschneidungen ist auch bei einer Teilzeitbeschäftigung mit hoher Wahrscheinlichkeit mit jährlichen Krankenständen von sechs Wochen zu rechnen. Regelmäßige Kuraufenthalte sind nicht erforderlich. Die Beschwerden in der Hals- und Lendenwirbelsäule sowie der linken Schulter sind durch konservative Therapien besserbar. An adäquater physikaltherapeutischer Behandlung benötigt der Kläger zehn Therapiestunden pro Quartal, die notwendig sind, um das bestehende orthopädische Leistungskalkül aufrecht zu erhalten. Abhängig vom Verlauf kann eine Folgebehandlung in Form von sechs therapeutischen Behandlungen angezeigt sein. Es besteht keine zwingende Notwendigkeit, die therapeutischen Maßnahmen im Rahmen eines Kuraufenthaltes zu absolvieren. Diese Therapien können auch im ambulanten Bereich - und damit berufsbegleitend in der Freizeit- durchaus adäquat durchgeführt werden. Aus orthopädischer Sicht ist zur Behandlung der Ringbandverengung der rechten Hand („schnappender Finger“) eine Ergotherapie im Ausmaß von ca sieben Einheiten 2 x wöchentlich und gegebenenfalls noch eine 2‑3 malige Lokalinfiltration angezeigt. Sofern dies keine Verbesserung der Beschwerden bringt, ist eine Operationsindikation (mit einem einmaligen postoperativen einwöchigen Krankenstand) gegeben.

Mit dem verbliebenen Leistungskalkül ist der Kläger noch in der Lage, die Tätigkeiten eines Portiers, Parkgaragenkassiers, Büroboten oder Museumsaufsehers auszuüben.“

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass der Kläger, dem unstrittig kein Berufsschutz zukommt, nicht als invalid anzusehen sei. Aufgrund seiner Krankenstandprognose im Ausmaß von sechs Wochen pro Jahr sei er nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Durch die berufsbegleitend möglichen Therapiemaßnahmen (zehn Behandlungen pro Quartal zur Erhaltung des orthopädischen Leistungskalküls und einmalige Ergotherapie im Ausmaß von sieben Sitzungen) ergäbe sich keine (weitere) Beeinträchtigung der Dienstverrichtung. Eine Berücksichtigung des für die Therapieeinheit nötigen Zeitaufwands durch Umrechnung auf Arbeitstage bzw Arbeitswochen, sodass sich bei 40 Therapieeinheiten im Jahr eine weitere Woche Krankenstand (pro Jahr) ergebe, die zur prognostizierten Krankenstandsdauer - analog den regelmäßig erforderlichen Kuraufenthalten - hinzuzurechnen sei, komme nicht in Betracht. Der Kläger sei auch nicht berechtigt, sämtliche Therapietermine während der Dienstzeit zu absolvieren, weil den Arbeitnehmer die Verpflichtung treffe, den Eintritt eines Dienstversäumnisses möglichst zu vermeiden. Er habe seine Erledigungen, sofern ihm das möglich und zumutbar sei, außerhalb der Arbeitszeit zu besorgen. Auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der freien Arztwahl sei nicht ersichtlich, weshalb es dem Kläger bei einer Tagesarbeitszeit von sechs Stunden nicht möglich sein sollte, die ihm zumutbaren Therapiemaßnahmen - wie andere Versicherte - in der Freizeit durchzuführen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts und führte ergänzend aus, ambulante physiotherapeutische Behandlungen seien im Gegensatz zur Arbeitsunfähigkeit wegen eines medizinisch angeordneten Kuraufenthalts zeitlich disponibel, weshalb es nicht zwingend zu einer Kollision mit der Erwerbsarbeit komme. Es sei nicht ersichtlich, aus welchem Grund die Therapien gerade in den sechs Stunden (oder auch in den vier Stunden einer dem Kläger zumutbaren Halbtagsbeschäftigung), in denen die Arbeitszeit des Klägers liegt, verrichtet werden müssten. Es treffe auch nicht zu, dass der Kläger als Arbeitnehmer berechtigt wäre, den Therapietermin nach eigenem Gutdünken ohne Rücksicht auf die Belange des Arbeitgebers zu wählen. Einen wichtigen Hinderungsgrund stelle eine ärztlich verordnete Therapie nur dann dar, wenn die Durchführung außerhalb der Arbeitszeit dem Arbeitnehmer nicht zumutbar sei. Angesichts der Feststellung, dass die notwendigen therapeutischen Maßnahmen berufsbegleitend während der Freizeit adäquat durchführbar seien, fehle es an der Voraussetzung der Notwendigkeit der Inanspruchnahme der Arbeitszeit. Eine Analogie zur Rechtsprechung, nach der es nicht darauf ankomme, ob der Versicherte Krankenstände oder Kuraufenthalte tatsächlich in Anspruch nehme, sei verfehlt, weil Krankenstände und Kuraufenthalte zwingend die Arbeitsverrichtung beeinträchtigen, hier aber disponible und nicht notwendigerweise die Arbeitszeit tangierende Termine zu absolvieren seien.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung gerichtete außerordentliche Revision des Klägers ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung zurückzuweisen.

1. Ein Ausschluss vom Arbeitsmarkt ist nur dann anzunehmen, wenn die maßgebliche Gesamtdauer der voraussichtlichen leidensbedingten Krankenstände mit hoher Wahrscheinlichkeit sieben Wochen jährlich oder mehr beträgt (RIS-Justiz RS0084898 [T12]). Hiebei sind auch in Zukunft zu erwartende Kurbehandlungen, die zur Hintanhaltung einer Verschlechterung des Gesundheitszustands erforderlich sind, zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0084429 [T9]). Dieser Rechtsprechung liegt die Erwägung zugrunde, dass im Hinblick auf diese leidensbedingten und allenfalls noch hinzukommende, nicht leidensbedingte Krankenstände die tatsächliche Dienstleistung des Versicherten erheblich unter dem Durchschnitt liegt und unter diesen Umständen nicht damit zu rechnen ist, dass er unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts in der Lage ist, eine Arbeitsstelle zu erlangen bzw auf Dauer zu behalten. Grund für den Ausschluss vom Arbeitsmarkt ist die überdurchschnittlich lange (notwendige) Abwesenheit vom Arbeitsplatz. Es macht dabei keinen Unterschied, ob ein Dienstnehmer wegen Krankheit oder eines zur Hintanhaltung einer Verschlechterung seines Gesundheitszustands erforderlichen Kuraufenthalts an der Verrichtung seiner Arbeit verhindert ist (10 ObS 159/93, SSV‑NF 7/76). Es kann nicht darauf ankommen, ob der Versicherte Krankenstände „in Anspruch nimmt“, sondern nur darauf, ob diese aus medizinischer Sicht auch notwendig sind (RIS-Justiz RS0084429 [T4]).

2. Auch Rehabilitationsmaßnahmen und therapeutische Interventionen, die arbeitsrechtlich einen Krankenstand bilden können oder einem solchen gleich zu halten sind, sind geeignet, in Verbindung mit den leidensbedingten Krankenständen einen Ausschluss vom Arbeitsmarkt zu begründen, sofern deren Absolvierung zur Hintanhaltung der Verschlechterung des Leistungskalküls notwendig ist (RIS-Justiz RS0084079; 10 ObS 155/02w).

3.1 Von diesen Grundsätzen der Rechtsprechung weicht die Ansicht der Vorinstanzen nicht ab, die zur Erhaltung des orthopädischen Leistungskalküls notwendigen therapeutischen Maßnahmen bildeten im vorliegenden Fall deshalb arbeitsrechtlich keinen wichtigen Dienstverhinderungsgrund bzw Krankenstand, weil feststeht, dass sie auch im ambulanten Bereich ‑ und damit berufsbegleitend in der Freizeit ‑ durchaus adäquat durchführbar sind. Über diesen ‑ rein in der Tatsachenebene begründeten Unterschied ‑ setzen sich die Revisionsausführungen aber weiterhin hinweg, indem an der Gleichstellung der beim Kläger erforderlichen Therapiezeiten mit Krankenständen oder Kuraufenthalten festgehalten wird. Zwar ist die Umrechnung ambulanter durchführbarer therapeutischen Maßnahmen auf volle Tage und Hinzurechnung zu den sechs Wochen prognostizierter Krankenstandsdauer rechnerisch möglich. Diese Vorgangsweise würde aber die Unterschiede zwischen in der Freizeit durchführbaren Therapiemaßnahmen, die keinen Krankenstand darstellen, und Krankenständen in unsachlicher Weise vermengen und zu mehr oder weniger zufälligen Ergebnissen führen. Ambulant durchführbare Therapien und Krankenstände sind daher getrennt zu sehen (siehe RIS-Justiz RS0084898 [T10] zu Arbeitspausen und Krankenständen).

3.2  Die Rechtsprechung, nach der es für die Dauer der prognostizierten Krankenstände pro Jahr nicht maßgeblich sei, ob der Versicherte Krankenstände (oder Kuraufenthalte) tatsächlich in Anspruch nimmt, kann der Revisionswerber nicht erfolgreich für sich ins Treffen führen, weil sich diese Rechtsprechung ausschließlich auf Krankenstände bzw Kuraufenthalte bezieht.

4. Auch mit den Revisionsausführungen, es bestehe keine Verpflichtung, durch Nachforschungen einen Therapeuten zu finden, der sämtliche Therapietermine zu Zeitpunkten anbietet, die außerhalb der Arbeitszeit liegen, wird keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung aufgezeigt. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass der Versicherte im Rahmen seiner (sozialversicherungsrechtlichen) Mitwirkungspflicht verhalten ist, alle zumutbaren Maßnahmen zu unternehmen, um einen Zustand zu erhalten oder herbeizuführen, der ihn in die Lage versetzt, sonst zumutbare Arbeiten zu verrichten (jüngst 10 ObS 12/15k zur Verwendung zumutbarer Hilfsmittel). Zu den zumutbaren Maßnahmen ist auch das Aufsuchen von Therapieeinrichtungen zu zählen, die die zehn pro Quartal (also durchschnittlich einmal pro Woche) nötigen physikalischen Therapieeinheiten zu Zeitpunkten anbieten, die mit einer (maximal) sechsstündigen Arbeitszeit pro Tag nicht kollidieren. Bestünde das Hindernis zur Ausübung eines Berufs nur darin, dass der Versicherte sich weigert, eine ambulant durchführbare, durchschnittlich einmal wöchentlich nötige physikalische Therapieeinheit tatsächlich außerhalb der Arbeitszeit durchführen zu lassen, weil er meint, es müsse ihm frei stehen, diese Therapieeinheit auch während der Arbeitszeit zu absolvieren, so kann er daraus keinen Anspruch auf eine Pensionsleistung wegen geminderter Arbeitsfähigkeit ableiten.

Die außerordentliche Revision war daher mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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