European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0010OB00190.15W.1022.000
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 620,36 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung
Der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger, war vom 11. 9. 2010 bis 2. 12. 2010 in Schubhaft. Er wurde am 11. 9. 2010 in einer Landeshauptstadt einer fremdenpolizeilichen Kontrolle unterzogen und unternahm im Zuge der Einvernahme, in der seine Identität nicht abgeklärt werden konnte, einen Fluchtversuch. Mit Bescheid vom selben Tag wurde über ihn wegen rechtswidrigen Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß § 76 Abs 1 Fremdenpolizeigesetz (FPG) 2005 idF BGBl I 2009/122 die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung eines Aufenthaltsverbots (§ 60 FPG), zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung (§§ 53, 54 FPG) sowie zur Sicherung der Abschiebung (§ 46 FPG) verhängt. Mit Bescheid vom 15. 9. 2010 verhängte die zuständige Bundespolizeidirektion über den Kläger ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot (§ 60 Abs 1 iVm Abs 2 Z 7 und § 63 Abs 1 FPG). Am 10. 11. 2010 wurde dem Kläger die Ausdehnung der Schubhaft gemäß § 80 Abs 4 Z 2 FPG (weil die für die Ein‑ und Durchreise erforderliche Bewilligung eines anderen Staats nicht vorlag) auf die Dauer von sechs Monaten zur Kenntnis gebracht. Der Kläger stellte in Österreich im verfahrensrelevanten Zeitraum bis 2. 12. 2010 keinen Asylantrag (Antrag auf internationalen Schutz) und erhob gegen die genannten Bescheide keine Rechtsmittel; insbesondere stellte er auch keinen Antrag, gemäß § 50 FPG festzustellen, ob die (beabsichtigte) Abschiebung nach Griechenland unzulässig ist. Durch seinen Rechtsvertreter brachte der Kläger am 29. 11. 2010 eine Beschwerde (gemäß Art 34 EMRK) beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein, um seine Abschiebung nach Griechenland zu verhindern. Am 1. 12. 2010 empfahl der EGMR gestützt auf Art 39 seiner Verfahrensordnung, die Abschiebung des Klägers nach Griechenland auszusetzen, worauf er ‑ nach Stellung eines Enthaftungsantrags ‑ am 2. 12. 2010 aus der Schubhaft entlassen wurde.
Der Kläger begehrte von der Beklagten aus dem Titel der Amts‑ und Staatshaftung die Zahlung von 8.229,56 EUR sA (Haftentschädigung für den Zeitraum 20. 10. 2010 bis 2. 12. 2010 von 4.400 EUR; Vertretungskosten von gesamt 3.829,56 EUR).
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt.
Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Aufrechterhaltung der Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung eines Fremden nach Griechenland nach dem FPG und dem Unionsrecht zulässig bzw vertretbar gewesen sei, von über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung sei.
Rechtliche Beurteilung
Entgegen dem ‑ den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) ‑ Ausspruch des Berufungsgerichts hängt die Entscheidung nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO ab; gemäß § 510 Abs 3 ZPO kann sich der Oberste Gerichtshof auf die Ausführung der wesentlichen Zurückweisungsgründe beschränken:
1. Einzige Voraussetzung des in Art 5 Abs 5 EMRK gewährten verschuldensunabhängigen und im Amtshaftungsverfahren geltend zu machenden (RIS‑Justiz RS0050017; vgl RS0037896) Schadenersatzanspruchs ist die Rechtswidrigkeit der Haft (RIS‑Justiz RS0074679). Es handelt sich dabei um einen, von den Anspruchsgrundlagen des AHG unabhängigen, verfassungsunmittelbaren Schadenersatzanspruch (1 Ob 114/10m mwN; RIS‑Justiz RS0031690; RS0037896 [T1]; 1 Ob 190/97s = RS0050017 [T1]).
Die Rechtswidrigkeit der Anhaltung in der Schubhaft steht nicht bindend fest. Der Kläger vermag eine Rechtswidrigkeit der Schubhaft auch nicht aufzuzeigen.
2. Art 5 Abs 1 EMRK allein ermächtigt noch nicht zur Anordnung von Freiheitsbeschränkungen; diese müssen vielmehr durch das innerstaatliche Recht gedeckt sein. Der Freiheitsentzug nach innerstaatlichem Recht darf einerseits über die in Art 5 Abs 1 leg cit normierten materiell‑rechtlichen Voraussetzungen nicht hinausgehen, andererseits nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise erfolgen (RIS‑Justiz RS0036848 [T1]).
3. Die Zulässigkeit der Anhaltung in Schubhaft gemäß § 76 Abs 1 FPG setzt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (2013/21/0008 ua) ihre Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit voraus, zu deren Beurteilung eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung der Außerlandesschaffung (Aufenthaltsbeendigung) und dem privaten Interesse an der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen ist. Bei dieser Prüfung ist unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses vor allem der Frage nachzugehen, ob im jeweils vorliegenden Einzelfall ein Sicherungsbedürfnis gegeben ist. Das setzt die gerechtfertigte Annahme voraus, der Fremde werde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bzw nach deren Vorliegen der Abschiebung (insbesondere) durch Untertauchen entziehen oder es/sie zumindest wesentlich erschweren. Fehlende Ausreisewilligkeit für sich allein erfüllt dieses Erfordernis noch nicht. Die bloße (Absicht der) Nichtbefolgung eines Ausreisebefehls vermag somit für sich genommen die Verhängung der Untersuchungshaft nicht zu rechtfertigen, sondern der Sicherungsbedarf muss in weiteren Umständen begründet sein. Für die Bejahung eines Sicherungsbedarfs kommen im Anwendungsbereich des § 76 Abs 1 FPG insbesondere das Fehlen ausreichender familiärer, sozialer oder beruflicher Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet in Betracht, was die Befürchtung, es bestehe das Risiko des Untertauchens eines Fremden, rechtfertigen kann. Abgesehen von der damit angesprochenen Integration des Fremden in Österreich ist bei Prüfung des Sicherungsbedarfs freilich auch sein bisheriges Verhalten in Betracht zu ziehen.
4. Der Kläger leitet seine Schadenersatzansprüche allein aus der behaupteten Rechtswidrigkeit der Aufrechterhaltung der Schubhaft im Hinblick auf die Konsultationen mit Griechenland und aus seiner beabsichtigten Abschiebung dorthin ab. Entgegen seiner Ansicht waren die mit Griechenland geführten Konsultationen nicht rechtswidrig. Die österreichischen Behörden richteten gestützt auf Art 16 Abs 1 lit c der (damals noch anzuwendenden) Verordnung (EG) Nr 343/2003 des Rates vom 18. 2. 2003 (im Folgenden: Dublin II‑Verordnung) ein Wiederaufnahmegesuch an die griechischen Behörden. Zutreffend argumentierte das Berufungsgericht, dass sich zwar aus den Aufzeichnungen der österreichischen Behörden keine Zuständigkeit Griechenlands ableiten ließ, jedoch im Hinblick auf die von den Schweizer Behörden bekannt gegebenen Angaben des Klägers bei Stellung seines dortigen Asylantrags Indizien im Sinn des Art 18 Abs 3 lit b Dublin II‑Verordnung dafür vorlagen, dass er sich vor seiner Einreise in die Schweiz in Griechenland aufgehalten hatte und damit ‑ entsprechend dem Standpunkt der Schweizer Behörden, die die Wiederaufnahme des Klägers ablehnten ‑ Griechenland für die Behandlung des (vom Kläger in der Schweiz gestellten) Asylantrags zuständig war.
5. Der Verfassungsgerichtshof sprach erstmals im Erkenntnis vom 7. 10. 2010 (U 694/10 = VfSlg 19.205) aus, der Asylgerichtshof habe dadurch, dass er sich bei der Rücküberstellung besonders schutzwürdiger ‑ sogenannter „vulnerabler“ ‑ Personen nach Griechenland mit einer bloß allgemeinen Mitteilung zur Versorgungslage von Asylsuchenden in Griechenland begnügte, diese Personen in ihren Rechten gemäß Art 3 EMRK verletzt. Solche generellen Auskünfte könnten nämlich „eine individualisierte Versorgungszusage durch griechische Behörden, wie dies im Lichte des Art 3 EMRK für besonders schutzwürdige Personen jedoch geboten ist“ nicht ersetzen. Mit dem Urteil des EGMR vom 21. 1. 2011, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, 30696/09, stellte dieser ‑ vor dem Hintergrund der in Belgien geltenden Asylrechtslage ‑ eine Verletzung des Art 3 EMRK fest, weil bei der Rücküberstellung eines Asylwerbers ‑ einer nicht „vulnerablen Person“ ‑ von Belgien nach Griechenland zur Durchführung des Asylverfahrens keine Garantie für eine ernsthafte Untersuchung seines Asylantrags durch die griechischen Behörden eingeholt wurde bzw eine ausreichende Versorgung des Asylwerbers in Griechenland nicht gegeben erschien.
Der Bescheid der Bundespolizeidirektion vom 11. 9. 2010 über die Anordnung der Schubhaft und deren Aufrechterhaltung am 10. 11. 2010 wurden vor dem Urteil des EGMR vom 21. 1. 2011 erlassen. Sowohl für die Anordnung als auch für die Aufrechterhaltung der Schubhaft bestand (unstrittig) eine gesetzliche Grundlage. Dass die Bundespolizeidirektion die Voraussetzungen für die Verhängung der Schubhaft unter anderem zur Abschiebung des Klägers ‑ einer nicht „vulnerablen Person“ ‑ als gegeben erachtete und von der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Schubhaft ausging, beruhte vor dem Hintergrund der geschilderten Rechtsprechung und des festgestellten Sachverhalts nicht auf einer rechtswidrigen Gesetzesanwendung (vgl in diesem Sinn VfGH B 4/11 = VfSlg 19.424; siehe zur Ausweisung nach Griechenland auch U 1734/10 = VfSlg 19.494). Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass eine konventionswidrige Entziehung der Freiheit nicht vorlag, sei doch der Kläger rechtmäßig festgenommen und in Haft gehalten worden, weil er von einem gegen ihn schwebenden Ausweisungsverfahren betroffen gewesen sei (Art 5 Abs 1 lit f EMRK), und der Versuch, ihn nach Griechenland abzuschieben, sei bis zur Haftentlassung am 2. 12. 2010 nicht rechtswidrig gewesen, ist daher nicht zu beanstanden.
6. Zur Haftung eines Mitgliedstaats für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht sprach der EuGH (Urteile Köbler , C‑224/01, ECLI:EU:C:2003:513, Rn 51 f; Fuß , C‑429/09, ECLI:EU:C:2010:717, Rn 47) aus, dass ein Mitgliedstaat Schäden, die einem Einzelnen durch Verstöße durch das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, dann ersetzen muss, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die verletzte Rechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß ist hinreichend qualifiziert und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang (vgl auch RIS‑Justiz RS0113922). Die Beurteilung der Voraussetzungen für die Haftung der Mitgliedstaaten obliegt grundsätzlich den nationalen Gerichten (C‑429/09 Rn 48). Ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ist jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die einschlägige Rechtsprechung des EuGH vorwerfbar verkannt wurde (1 Ob 105/15w = RIS‑Justiz RS0114183 [T3]).
Im Urteil des EuGH vom 21. 12. 2011 ( N.S. und M.E. , C‑411/10 und C‑493/10, ECLI:EU:C:2011:865, Rn 87 ff) verwies dieser auf die Beurteilung des EGMR in der Entscheidung vom 21. 1. 2011 und darauf, Art 4 der Grundrechtecharta sei dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylwerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinn der Dublin II‑Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylwerber in diesem Mitgliedstaat (dort wie hier: Griechenland) ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden (Rn 94, 106).
Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass selbst im Hinblick auf die im Herbst 2010 bestehende Spruchpraxis des EGMR, bei anhängigen Verfahren gemäß Art 39 seiner Verfahrensordnung eine Abschiebung nach Griechenland nicht zu empfehlen, und den Bericht des UNHCR vom Dezember 2009 kein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorliege, weil ohnedies eine Abschiebung des Klägers ohne eine explizite Betreuungszusage seitens der Fremdenpolizeibehörde nicht erfolgt wäre, und die nicht erfolgte Aussetzung der Abschiebung des Klägers aufgrund der beiden bereits anhängigen Verfahren vor dem EuGH keinen offenkundigen Verstoß gegen das Unionsrecht darstellte, ist zumindest vertretbar. Der Kläger vermag jedenfalls mit dem ‑ nicht näher ausgeführten ‑ Verweis auf den „Effet‑Utile‑Grundsatz“ nicht aufzuzeigen, dass die zuständigen Fremdenbehörden von der Einleitung des Konsultationsverfahrens mit Griechenland und von der Aufrechterhaltung der Schubhaft Abstand nehmen hätten müssen. Jedenfalls liegt darin kein (qualifizierter) Verstoß gegen das Unionsrecht.
7. Die Revision ist daher mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41 Abs 1 und § 50 Abs 1 ZPO. Da die Beklagte in der Revisionsbeantwortung auf die mangelnde Zulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen hat, diente der Schriftsatz der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung (vgl RIS‑Justiz RS0035962; RS0035979). Der in zweiter Instanz ausgesprochene Kostenvorbehalt nach § 52 Abs 1 und 2 ZPO erfasst nur die vom Prozesserfolg in der Hauptsache abhängigen Kosten und steht der Kostenentscheidung im Zwischenstreit über die Zulässigkeit der Revision nicht entgegen (1 Ob 44/14y mwN; 2 Ob 145/14h).
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