European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:010OBS00084.14X.0826.000
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).
Begründung
Der Kläger verfügte etwa über ein Jahr Fahrpraxis als Kraftfahrer, als er am 12. Juli 2011 für seine Arbeitgeberin mit einem Sattelkraftfahrzeug ca 27 Tonnen Sand transportierte. Im Zuge der Auffahrt auf eine Autobahn hatte er eine 270°‑Schleife zu befahren, deren Radius zu ihrem Ende hin immer enger wird. Der Kläger fuhr mit einer Geschwindigkeit von 77 km/h in die Schleife ein. Durch Gaswegnahme und leichtes Bremsen reduzierte er die Geschwindigkeit auf knappe 60 km/h. Diese Geschwindigkeit war immer noch massiv überhöht; eine angepasste Geschwindigkeit wäre im Bereich von 40 bis 45 km/h gewesen. Infolge des immer enger werdenden Kurvenradius musste der Kläger in die Kurve hineinbremsen, was einen grundsätzlichen Fahrfehler darstellt. Durch die überhöhte Geschwindigkeit und der durch das Bremsen bedingten Reduktion der Seitenführungskräfte kippte der LKW im Kurvenscheitelpunkt um. Der Kläger erlitt dadurch schwere Verletzungen.
Vor dem Unfall hatte er am Unfalltag schon drei‑ bis viermal die 270°‑Schleife mit jeweils weit überhöhter Geschwindigkeit durchfahren. Dadurch wurde der Bodenkontakt mit den letzten zwei Achsen auf der rechten Seite des Sattelkraftfahrzeugs locker und federten die Luftbälge der Federung voll aus. Dies hätte dem Kläger auffallen müssen, weil es beim Hochheben des kurveninneren Rades des Auflegers zwangsläufig zu einer Veränderung der Belastungssituation kam und dadurch Kräfte entstanden, die zum Schieben über die Vorderachse und somit zum Untersteuern führten, was eine Reduktion der übertragbaren Seitenführungskräfte bewirkte.
Der Kläger begehrt den Zuspruch einer Versehrtenrente.
Die beklagte Unfallversicherungsanstalt vertrat den Rechtsstandpunkt, es liege kein Arbeitsunfall vor, weil der Unfall nicht im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung stehe, sondern auf ein völlig unvernünftiges und unsinniges Handeln zurückzuführen sei, durch das der Kläger eine selbst geschaffene Gefahr und Gefahrenerhöhung herbeigeführt habe.
Das Erstgericht gab (im zweiten Rechtsgang) dem auf Zuspruch einer Versehrtenrente gerichteten Klagebegehren für bestimmte Zeiträume in bestimmtem Ausmaß Folge und wies das Mehrbegehren ab.
Das Berufungsgericht gab der gegen diese Entscheidung erhobenen Berufung der beklagten Partei keine Folge und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
In ihrer außerordentlichen Revision steht die beklagte Partei auf dem Standpunkt, es sei nicht in Frage zu stellen, dass einmaliges grob fahrlässiges und sogar (vorsätzliches) verbotswidriges Verhalten den Versicherungsschutz nicht ausschließen solle. Es bestehe aber keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zu der Frage, ob das wiederholte grob fahrlässige Verhalten des Versicherten, der sich einer leicht erkennbaren Gefahr aussetzt, eine Unterbrechung des inneren Zusammenhangs zur betrieblichen Tätigkeit aufgrund eigenwirtschaftlicher Interessen herbeiführe. Da der Kläger bereits zuvor mehrfach mit seiner rasanten und unvorsichtigen Fahrweise aufgefallen sei, könne nur davon ausgegangen werden, dass in dieser Verhaltensweise die latente Befriedigung eines persönlichen Interesses („Geschwindigkeitskick“) zu sehen sei.
Rechtliche Beurteilung
Dazu ist auszuführen:
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann derjenige, der sich ohne jeden inneren Zusammenhang mit seiner geschützten Tätigkeit einer leicht erkennbaren Gefahr aussetzt und von dieser Gefahr ereilt wird, nicht mit Leistungen der Versicherungsgemeinschaft rechnen (RIS‑Justiz RS0103154).
2.1. Besteht hingegen ein Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall, so schließt gemäß § 175 Abs 6 ASVG selbst ein verbotswidriges Handeln des Versicherten die Annahme eines Arbeitsunfalls nicht aus. Selbst grobe Fahrlässigkeit des Verunglückten spricht nicht von vornherein gegen das Vorliegen eines Arbeitsunfalls (RIS‑Justiz RS0085110). Im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung ist daher davon auszugehen, dass weder verbotswidriges noch unvernünftiges oder unsinniges Verhalten jedenfalls den Versicherungsschutz ausschließt und einen bestehenden ursächlichen Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit beseitigt (10 ObS 231/92, SSV‑NF 6/108).
2.2 Bei wesentlich allein betrieblichen Zwecken dienenden Tätigkeiten wird der Versicherungsschutz selbst dann zu bejahen sein, wenn der Versicherte besonders grob fahrlässig gehandelt und damit die Gefahr selbst geschaffen hat (10 ObS 231/92, SSV‑NF 6/108; Müller in SV-Komm, 92. Lfg, Vor §§ 174‑177, Rz 62; Fellinger in FS Bauer/Maier/Petrag, Der Begriff der selbstgeschaffenen Gefahr im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung,355 [357]). Bildet also die Tätigkeit des Versicherten, die zum Unfall führt, einen Teil seiner die Versicherung begründenden Beschäftigung, schließt selbst ein Verhalten, das gegen ein Gebot oder Verbot des Arbeitgebers verstößt, nicht den Versicherungsschutz gemäß § 175 Abs 6 ASVG aus (RIS‑Justiz RS0084057).
3.1 Der erforderliche innere Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall kann nach ständiger Rechtsprechung aber wegen einer aus betriebsfremden Motiven selbstgeschaffenen Gefahr ausnahmsweise nicht mehr gegeben sein. Ein Verlust des Versicherungsschutzes bei einer selbstgeschaffenen Gefahr liegt vor, wenn der Unfall auf Handlungen in der Randzone des Schutzbereichs beruht, die auf ein völlig unvernünftiges und unsinniges Verhalten des Versicherten zurückzuführen sind, sodass demgegenüber die betriebsbedingten Verhältnisse zu unwesentlichen Nebenbedingungen und Begleitumständen des Unfalls herabsinken und die Beziehung zum Betrieb bei der Bewertung der Unfallursachen als unerheblich auszuscheiden ist (10 ObS 37/04w, SSV‑NF 18/26; Müller in SV‑Komm, 92. Lfg, Vor §§ 174‑177, Rz 62; Fellinger in FS Bauer/Maier/Petrag, Der Begriff der selbstgeschaffenen Gefahr im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung, 355 [361]). Entscheidend ist in diesen Fällen, ob trotz der ‑ aus betriebsfremden Motiven ‑ „selbstgeschaffenen Gefahr“ die versicherte Tätigkeit eine wesentliche Bedingung des Unfalls geblieben ist oder die „selbstgeschaffene Gefahr“ in so hohem Maß vernunftwidrig war und zu einer solchen besonderen Gefährdung geführt hat, dass die versicherte Tätigkeit nicht mehr als wesentliche Bedingung für den Unfall anzusehen ist (RIS‑Justiz RS0084133). So wurde etwa das im Zuge des Heimwegs von der Arbeit telefonierende Entlanggehen auf einer Eisenbahnkreuzung bei geschlossenem Bahnschranken ohne jede Beachtung des Zugverkehrs, das auf einen wegen familiärer Probleme erheblich beeinträchtigten psychischen Zustand zurückzuführen war, als in so hohem Maß vernunftwidrig und gefahrenerhöhend angesehen, dass die versicherte Tätigkeit nicht mehr als wesentliche Bedingung des Unfalls gewertet wurde (10 ObS 37/04w, SSV‑NF 18/26 ).
3.2 Bei Verrichtungen, die wesentlich allein betrieblichen Zwecken dient, findet der Begriff der selbstgeschaffenen Gefahr keine Anwendung, da in diesem Fall der innere Zusammenhang zwischen der zum Unfall führenden Verrichtung und der versicherten Tätigkeit selbst dann vorhanden ist, wenn der Unfall in hohem Maß selbstverschuldet ist (10 ObS 231/92, SSV‑NF 6/108).
4.1 Das Berufungsgericht ist bei seiner Beurteilung von diesen in der Judikatur entwickelten Grundsätzen ausgegangen:
4.2 Die Tätigkeit des Klägers als Kraftfahrer, die zum Unfall führte, stellt seine die Versicherung begründende Beschäftigung dar. Aus den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen, an die der Oberste Gerichtshof gebunden ist, lässt sich nichts anderes ableiten, als dass der Kläger die Fahrten mit dem Sattelkraftfahrzeug ausschließlich im betrieblichen und nicht auch im eigenwirtschaftlichen Interesse vorgenommen hat.
4.3 Er hatte die unfallskausale Gefahrenerhöhung grob fahrlässig dadurch herbeigeführt, dass er bei Durchfahren der Schleife eine massiv überhöhte Geschwindigkeit einhielt und in die Kurve hineinbremste ohne zu merken, dass ‑ wie schon bei vorangegangenen Fahrten ‑ dadurch ein Untersteuern des Fahrzeugs bewirkt wurde.
4.4 Selbst wenn der Unfall in hohem Maß selbst verschuldet war, ist der Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall immer noch gegeben.
4.5 Dem Argument des Versicherungsträgers, dieses Verhalten des Klägers sei ‑ insbesondere wegen des wiederholten Durchfahrens der Schleife mit überhöhter Geschwindigkeit ‑ „völlig unsinnig und unvernünftig gewesen“ und stelle eine „selbstgeschaffene Gefahr“ dar, ist entgegenzuhalten, dass es hierauf bei einer aus betrieblichen Motiven geschaffenen Gefahr nicht ankommt (siehe oben Pkt 3.2).
5. Wie bereits das Berufungsgericht ausgeführt hat, fehlen dafür, dass der Kläger die Unfallgefahr (auch) aus betriebsfremden Motiven herbeigeführt hat, jegliche Hinweise. Die Darstellung der beklagten Partei in ihrer Revision, wonach der Kläger wegen seines rasanten Fahrstils bereits vor dem Unfall „mehrfach aufgefallen sei“ und in dieser Verhaltensweise die latente Befriedigung eines persönlichen Interesses („Geschwindigkeitskick“) zu sehen sei, ist schon deshalb unbedeutend, weil sie im festgestellten Sachverhalt keine Deckung findet.
Das Einhalten einer überhöhten Geschwindigkeit als unmittelbare Ursache für den Verlust der Herrschaft über das Fahrzeug ist alltäglich häufig zu beobachten (10 ObS 52/90, SSV‑NF 4/49). Die Ansicht des Berufungsgerichts, der Unfall des Klägers sei trotz der durch sein Verhalten ausgelösten Gefahrenerhöhung vom Versicherungsschutz umfasst, stellt jedenfalls keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung dar.
6. Die Revisionswerberin hat in ihrer Berufung keine (primäre) Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz geltend gemacht. Deshalb zeigt sie auch mit ihrem Revisionsvorbringen, es liege ein vom Obersten Gerichtshof wahrzunehmender Mangel des Berufungsverfahrens vor, weil das Berufungsgericht einen (primären) Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens infolge einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung nicht wahrgenommen habe (siehe RIS‑Justiz RS0043051), keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.
Dies führt zur Zurückweisung der Revision als unzulässig.
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