OGH 8ObA13/13i

OGH8ObA13/13i29.11.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Spenling als Vorsitzenden, den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Kuras und die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Mörk und Peter Schönhofer als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei ÖBB‑Personenverkehr AG, 1220 Wien, Wagramer Straße 17‑19, vertreten durch Kunz Schima Wallentin Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei Betriebsrat der ÖBB-Personenverkehr AG, Bordservice *****, vertreten durch Dr. Josef Pfurtscheller, Dr. Markus Orgler und Mag. Norbert Huber, Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen Teilnahme an einer Disziplinarverhandlung und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 15. November 2012, GZ 6 Ra 42/12m‑20, mit dem das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 29. Dezember 2011, GZ 33 Cga 26/11h‑12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:008OBA00013.13I.1129.000

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 742,27 EUR (darin 123,71 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Im August 1996 veröffentliche die Rechtsvorgängerin der klagenden Partei im Nachrichtenblatt der Österreichischen Bundesbahnen, 12. Stück/1996, die als Dienstanweisung bezeichnete „Disziplinarordnung 1996“ mit (auszugsweise) folgendem Inhalt:

Disziplinarkammer

§ 9 (1) Je eine Disziplinarkammer wird am Sitze des Personalservicecenters errichtet. (...)

(3) Die Disziplinarkammer besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern, wobei ein Beisitzer vom Unternehmen und einer von der Personalvertretung bestellt wird. Die Mitglieder der Disziplinarkammer sind in dieser Eigenschaft weisungsunabhängig. (…)

Vorbereitung der mündlichen Verhandlung

§ 15 (1) Der Vorsitzende hat nach Erhalt der Anklageschrift und der Anträge des Disziplinaranwaltes unverzüglich aus den bestellten Beisitzern des Unternehmens einen fachlich in Betracht kommenden Beisitzer auszuwählen und die Personalvertretung um Entsendung eines Beisitzers zu ersuchen. Die Zusammensetzung der Disziplinarkammer ist dem Disziplinaranwalt und dem Beschuldigten ehestens nachweislich mitzuteilen. Die Heranziehung als Beisitzer kann ‑ abgesehen von den Fällen des § 17 ‑ nicht abgelehnt werden. (…)

Beratung

§ 32 (2) (…) Die Beschlüsse der Disziplinarkammer werden grundsätzlich mit Stimmenmehrheit gefasst. Eine Stimmenthaltung ist ausgeschlossen. Die Verhängung der Disziplinarstrafe gemäß § 8 Abs 1 lit b kann nur einstimmig erfolgen. (…)“.

Die Klägerin brachte zusammengefasst vor, die DisziplinarO 1996 stehe auch nach der Umstrukturierung der ÖBB im streitgegenständlichen Betrieb weiterhin in Kraft. Sie beruhe auf einer Vereinbarung zwischen der seinerzeitigen Belegschaftsvertretung und der Unternehmensleitung der seinerzeitigen ÖBB und gelte aufgrund der Überleitungsbestimmungen des BundesbahnstrukturG 2003 als Betriebsvereinbarung iSd § 96 Abs 1 Z 1 ArbVG. Der beklagte Betriebsrat sei verpflichtet, an Disziplinarverfahren nach der DisziplinarO 1996 durch Entsendung eines Beisitzers mitzuwirken. In der Disziplinarsache des Dienstnehmers J***** M*****, gegen den eine Anklage wegen eines Dienstvergehens vorliege, verweigere der Beklagte diese Mitwirkung mit der unzutreffenden Begründung, die DisziplinarO 1996 stehe nicht mehr in Geltung.

Die Klägerin begehrt, den beklagten Betriebsrat zu verpflichten,

1. eines seiner Mitglieder als Beisitzer in der Disziplinarkommission für die Teilnahme an der Disziplinarverhandlung gegen den Dienstnehmer J***** M***** namhaft zu machen und zu entsenden,

2. die Feststellung, dass der Beklagte künftig verpflichtet sei, eines seiner Mitglieder für die Teilnahme als Beisitzer an Disziplinarverhandlungen zu bestellen, dem Vorsitzenden namhaft zu machen, zur Disziplinarverhandlung zu entsenden und somit zu gewährleisten, dass ein Betriebsratsmitglied an den Disziplinarverhandlungen als Beisitzer teilnimmt,

3. die Feststellung, dass die DisziplinarO 1996 eine rechtsgültige Grundlage für die Durchführung von Disziplinarverfahren und die Setzung disziplinärer Maßnahmen im betroffenen Betrieb bildet.

Der Beklagte bestritt (soweit für das Revisionsverfahren noch von Bedeutung) seine partielle Parteifähigkeit in Ansehung des Klagsanspruchs. In der Sache brachte er vor, der DisziplinarO 1996 liege tatsächlich keine Betriebsvereinbarung zugrunde, da sie ohne Beteiligung einer betrieblichen Interessensvertretung als einseitige Dienstanweisung der damaligen ÖBB erlassen worden sei. Eine Pflicht der Beklagten, am Disziplinarverfahren mitzuwirken, könne aus dieser Dienstanweisung nicht abgeleitet werden. Selbst unter der Annahme, dass sie im Zuge der Umstrukturierung der ÖBB durch Gesetz in eine Betriebsvereinbarung iSd § 96 ArbVG übergeleitet worden wäre, sei die DisziplinarO 1996 mittlerweile durch die nachfolgende Betriebsvereinbarung Nr 14 ausdrücklich außer Kraft gesetzt worden.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren in den Punkten 1. und 2. ab und im Punkt 3. als unzulässig zurück. Es könne anhand der als Beweismittel vorgelegten Urkunden nicht festgestellt werden, dass Belegschaftsvertreter der klagenden Partei an der Schöpfung der DisziplinarO 1996 beteiligt waren oder ihr rechtswirksam beigetreten sind. Es handle sich nach dem Wortlaut um eine einseitige Anordnung des Arbeitgebers, die nicht unter die Übergangsbestimmungen des § 69 BBVG gefallen sei und nicht in eine Betriebsvereinbarung übergeleitet werden konnte. Sie bilde keine geeignete Rechtsgrundlage dafür, den Betriebsrat zur Mitwirkung an einem Disziplinarverfahren zu verpflichten. Ein rechtliches Interesse an dem im Punkt 3. erhobenen Feststellungsbegehren habe die Klägerin nicht einmal behauptet, sodass dieses Begehren zurückzuweisen sei.

Das Berufungsgericht wies die Berufung der Beklagten als unzulässig zurück, gab der Berufung der Klägerin nicht Folge und bestätigte das erstinstanzliche Urteil mit der Maßgabe, dass das Klagebegehren auch im Punkt 3. nicht zurück‑, sondern abgewiesen werde.

Da die Klägerin in ihrer Berufung nur eine Rechtsrüge erhoben habe, seien die erstinstanzlichen Tatsachenfeststellungen der Entscheidung zugrundezulegen. Das in der Berufung erhobene Vorbringen über eine Genehmigung der DisziplinarO 1996 durch die damalige Personalvertretung der ÖBB verstoße gegen das Neuerungsverbot und sei unbeachtlich. Die Negativfeststellung zur Beteiligung der Personalvertretung am Zustandekommen der DisziplinarO 1996 falle der Klägerin zur Last. Eine lediglich einseitige Anordnung des Arbeitgebers könne nicht als „Vereinbarung“ iSd Art 7 Abs 1 BundesbahnstrukturG 2003 angesehen werden, die kraft Gesetzes nach dem 1. 1. 2004 als Betriebsvereinbarung weiter gegolten hätte. Dem Klagebegehren fehle daher eine rechtliche Grundlage. Bei der Zurückweisung des in Punkt 3. formulierten Feststellungsbegehrens habe sich das Erstgericht offenkundig nur in der Entscheidungsform vergriffen, sodass mit einer Maßgabebestätigung vorzugehen sei.

Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil gesicherte höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Geltung der DisziplinarO 1996 nach Inkrafttreten des BundesbahnstrukturG 2003 und Außerkrafttreten des Bahnbetriebsverfassungsgesetzes noch nicht bestehe und diese Rechtsfrage für eine große Zahl von Bediensteten des ÖBB‑Konzerns von Bedeutung sei.

Rechtliche Beurteilung

Die vom Beklagten beantwortete Revision der Klägerin ist aus den vom Berufungsgericht ausgeführten Gründen zulässig, aber im Ergebnis nicht berechtigt.

1. Die Klägerin stützt ihr Begehren auf die Prämisse, die DisziplinarO 1996 gelte aufgrund des Art 7 Abs 4 BundesbahnstrukturG 2003, wonach am 31. Dezember 2003 „aufrechte Vereinbarungen mit nach dem BBVG errichteten Personalvertretungsorganen oder mit vor In-Kraft-Treten des BBVG bestehenden betrieblichen Interessenvertretungseinrichtungen über Rechte und Pflichten von Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis“ ab 1. Jänner 2004 als Betriebsvereinbarung gemäß § 29 ArbVG anzusehen sind.

Die Vorinstanzen haben sich dem entsprechend eingehend mit Rechtsnatur und Wirksamkeit der DisziplinarO 1996 befasst und sind zum Ergebnis gelangt, dass die getroffenen Feststellungen es nicht erlauben, die Voraussetzungen für die Überleitung in eine Betriebsvereinbarung anzunehmen, weshalb dem Klagebegehren eine Rechtsgrundlage fehle.

Tatsächlich kommt es für das rechtliche Ergebnis auf diese Beurteilung aber nicht an, weil sich der geltend gemachte Anspruch nicht einmal aus dem Klagsvorbringen selbst ableiten lässt.

2. Das ArbVG bindet den Arbeitgeber bzw Betriebsinhaber bei der Verhängung von Disziplinarmaßnahmen an eine gleichberechtigte Mitentscheidung des Betriebsrats (Jabornegg in Strasser/Jabornegg/Resch, ArbVG § 102 Rz 15). Die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen im Einzelfall ist nach § 102 Abs 2 ArbVG nur zulässig, wenn sie in einem Kollektivvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung nach § 96 Abs 1 Z 1 ArbVG vorgesehen ist; sie bedarf, sofern darüber nicht eine mit Zustimmung des Betriebsrats (die auch die personelle Zusammensetzung umfasst: § 62 Abs 2 BRGO) eingerichtete Stelle entscheidet, in jedem Einzelfall der Zustimmung des Betriebsrats.

Gegen den Willen des Betriebsrats können betriebliche Disziplinarmaßnahmen nicht stattfinden. Dem Arbeitgeber steht nach herrschender Auffassung keine Möglichkeit zu, eine ablehnende Haltung des Betriebsrats ‑ sei es beim Abschluss einer Betriebsvereinbarung nach § 96ArbVG oder bei der Verhängung von Disziplinarmaßnahmen im Einzelfall ‑ durch Anrufung einer Schlichtungsinstanz oder im Wege eines gerichtlichen Rechtsschutzes zu überwinden (Jabornegg, aaO § 102 Rz 4; Schrank in Tomandl, ArbVG § 102 Rz 38).

Bei den Mitwirkungsrechten des § 96 ArbVG handelt es sich nicht um sogenannte Pflichtbefugnisse (zB § 89 Z 2, § 102 S 1 ArbVG; Reissner in ZellKomm² § 89 ArbVG Rz 4 mwN), die das Belegschaftsorgan zur Ausübung der Rechte der Arbeitnehmerschaft auch verpflichten. Es ist in dieser besonders sensiblen Materie eine notwendige Mitbestimmung ohne Rechtskontrolle vorgesehen. Die Freiwilligkeit der Mitwirkung in Angelegenheiten des § 96 Abs 1 ArbVG manifestiert sich nicht zuletzt auch in der jederzeitigen fristlosen Kündbarkeit einer darüber abgeschlossenen Betriebsvereinbarung, soweit diese nicht selbst Vorschriften über ihre Geltungsdauer enthält (§ 96 Abs 2 ArbVG).

Schrank (aaO § 102 Rz 38 f) stellt diese Auffassung im Fall kollektivrechtlicher Disziplinarordnungen nur insoweit in Frage, als hier im Interesse der Gleichbehandlung der Arbeitnehmer zu unterstellen sei, dass sie nicht nur Arbeitnehmer betreffen sollen, die das Wohlwollen des Betriebsrats verloren haben. In diesem Fall habe der Arbeitgeber einen Anspruch, Disziplinarmaßnahmen bei entsprechenden Sachverhalten auch tatsächlich verhängen zu können. Dort, wo die Verhängung der Maßnahme von der Zustimmung des Betriebsrats oder einer Stelle abhänge, in welcher der Arbeitgeber nicht die Mehrheit hat, solle bei ermessensüberschreitender Verweigerung einer sachlich notwendigen Disziplinarmaßnahme dem Arbeitgeber in analoger Anwendung des § 101 letzter Satz ArbVG auch gerichtlicher Rechtsschutz geboten werden (Schrank, aaO § 102 Rz 39; vgl aber 9 ObA 182/95).

Einer näheren Auseinandersetzung mit dieser Auffassung bedarf es im vorliegenden Fall aber mangels vergleichbarer Sachlage nicht. Auch wenn sich der erste Punkt des Klagebegehrens auf eine konkrete Disziplinarsache bezieht, zielt die Klägerin mit ihrem Vorbringen und Begehren insgesamt keineswegs darauf ab, im Einzelfall aus Gründen der Mitarbeitergleichbehandlung einen sachlich nicht gerechtfertigten Widerstand des Betriebsrats gegen die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme zu überwinden. Sie geht vielmehr selbst davon aus, dass der beklagte Betriebsrat aus rechtlichen Überlegungen generell, ohne Ansehung der Person der betroffenen Arbeitnehmer, keine Zustimmung zu betrieblichen Disziplinarmaßnahmen mehr erteilen will. Diese Entscheidung steht ihm aber frei, sie kann durch das Gericht weder überprüft noch ersetzt werden.

Entgegen den Revisionsausführungen lässt sich selbst aus dem Wortlaut der DisziplinarO 1996 keine durchsetzbare Verpflichtung des Beklagten zur Entsendung von Beisitzern in die Disziplinarkommission entnehmen; die Belegschaftsvertretung „hat“ nämlich nach § 15 Abs 1 DisziplinarO 1996 nicht einen Beisitzer zu entsenden, sie ist nur darum zu „ersuchen“. Eine Regelung für den Fall, dass diesem Ersuchen nicht entsprochen wird, besteht nicht.

Ob die DisziplinarO 1996 unter Beteiligung bzw mit Zustimmung der damaligen Personalvertretung der ÖBB zustandegekommen ist oder nicht, kann bei diesem Ergebnis auf sich beruhen; auf die in diesem Zusammenhang behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens ist nicht mehr weiter einzugehen. Dieses Ergebnis bezieht sich naturgemäß nur auf zulässige Disziplinarmaßnahmen iSd § 102 ArbVG.

3. Auf die Abweisung des Begehrens auf Feststellung, dass die DisziplinarO 1996 eine rechtsgültige Grundlage für die Durchführung von Disziplinarverfahren und die Setzung disziplinärer Maßnahmen im betroffenen Betrieb bilde (Punkt 3. des Klagebegehrens), geht die Revision nicht mehr konkret ein.

Das zum Gegenstand einer Feststellungsklage gemachte Rechtsverhältnis muss eine unmittelbare rechtliche Wirkung auf die Rechtsstellung des Klägers ausüben, es muss also geeignet sein, die Beeinträchtigung der Rechtssphäre durch den Gegner zu beenden und einen künftigen weiteren Rechtsstreit zu vermeiden. Könnte die Rechtskraftwirkung des Feststellungsurteils die Beseitigung der Unsicherheit über das Rechtsverhältnis nicht garantieren (RIS‑Justiz RS0039071 [T7]), ist das Feststellungsinteresse zu verneinen (RIS‑Justiz RS0085712 [T3]; RS0037479 [T2]). An der Rechtslage, dass es im unüberprüfbaren Ermessen des Beklagten steht, in Hinkunft an Disziplinarverfahren mitzuwirken, könnte die hier begehrte Feststellung nichts ändern.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 50 Abs 2 ASGG, § 41 ZPO. Der Kläger hat den Streitgegenstand nicht nach § 56 Abs 2 JN bewertet (vgl RIS‑Justiz RS0042434). Nach § 4 RATG wäre daher für die Kostenberechnung der Streitwert nach § 14 lit a RATG heranzuziehen (RIS‑Justiz RS0109658), zuzuerkennen sind aber nur die tatsächlich verzeichneten Kosten (Bemessungsgrundlage 10.000 EUR).

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