OGH 10ObS141/13b

OGH10ObS141/13b22.10.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Jelinek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei O*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Auer, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 18. Juni 2013, GZ 12 Rs 58/13f‑55, womit das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 8. März 2013, GZ 32 Cgs 8/07y‑50 abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:010OBS00141.13B.1022.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts wird mit der Maßgabe bestätigt, dass das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger ab 1. Jänner 2011 bis 30. Juni 2013 die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu bezahlen, abgewiesen wird.

Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

 

Entscheidungsgründe:

Das Erstgericht sprach aus, dass das Klagebegehren auf Gewährung der Invaliditätspension dem Grunde nach vom 1. 1. 2011 bis 30. 6. 2013 zu Recht bestehe und trug der beklagten Partei bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Leistung auf. Es stellte unter anderem fest, dass der Kläger im Hinblick auf seine gesundheitlichen Einschränkungen für leichte und drittelzeitig mittelschwere Arbeiten geeignet sei, er derzeit nur durchschnittlichem Zeitdruck standhalten könne, ihm für die Hälfte der Arbeitszeit nur eine sitzende Tätigkeit zumutbar wäre und ein regelmäßiger Haltungswechsel alle zehn Minuten erforderlich sei. Ausgehend von seinem (noch im einzelnen näher festgestellten) Leistungskalkül sei der Kläger in der Lage, die Tätigkeiten eines Parkgaragenkassiers, Portiers oder Schalttafelwärters auszuüben. Wie sich aus dem berufskundlichen Sachverständigengutachten ergebe, bestehe bei diesen Tätigkeiten die Möglichkeit, die Arbeitshaltung jederzeit nach Bedarf zu ändern; wegen der grundsätzlich freien Wahl der Arbeitshaltung könnten diese Tätigkeiten jeweils im Sitzen, Gehen und Stehen verrichtet werden. Eine Besserung der Einschränkung im Hinblick auf den Zeitdruck ist nach einer Behandlungsdauer von drei bis vier Monaten mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 % möglich.

Rechtlich ging das Erstgericht zusammengefasst davon aus, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 255 Abs 3a iVm 3b ASVG („Härtefallregelung“) vorlägen, weil sein Leistungskalkül dem in § 255 Abs 3b ASVG beschriebenen (Rest‑)Leistungskalkül entspreche. Da eine Besserung des Zustands des Klägers nach den Feststellungen nicht gänzlich auszuschließen sei, sei die Pensionsleistung nur befristet bis zum 30. 6. 2013 zuzuerkennen und das darüber hinausgehende Begehren auf unbefristete Pensionsgewährung abzuweisen.

Gegen diese Entscheidung erhob nur die beklagte Partei Berufung.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das angefochtene Urteil dahin ab, dass das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger ab 1. 1. 2011 die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, abgewiesen wurde. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision zulässig sei, weil es eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO darstelle, ob die Voraussetzungen für die Härtefallregelung auch dann vorliegen, wenn der Versicherte noch Tätigkeiten ausüben kann, die eine freie Wahl der Arbeitshaltung ermöglichen. Rechtlich ging das Berufungsgericht im Wesentlichen davon aus, dass § 255 Abs 3b ASVG nicht das medizinische Restleistungskalkül des Versicherten beschreibe, sondern ein bestimmtes Profil von Tätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen, auf die aber nach dem Willen des Gesetzgebers nicht verwiesen werden dürfe. Ausgehend davon, komme dem Kläger die Härtefallregelung nicht zu Gute. Er sei nämlich in der Lage, Verweisungstätigkeiten zu verrichten, bei denen die Arbeitshaltung frei wählbar ist, also die Arbeit sowohl im Sitzen, Gehen als auch im Stehen verrichtet werden könne. Diese Verweisungstätigkeiten fielen daher den Anforderungen nach nicht unter die in § 255 Abs 3b ASVG beschriebenen Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil.

Rechtliche Beurteilung

1. Zur Maßgabebestätigung:

In Sozialrechtssachen gibt es für die Berufungen in der Hauptsache selbst keine Zulässigkeitsbeschränkung (§ 90 Abs 1 ASGG). Dem Kläger wäre es daher frei gestanden, gegen die befristete Gewährung (§ 256 ASVG) der von ihm beantragten Invaliditätspension durch das Gericht erster Instanz ein Rechtsmittel zu erheben. Dies findet seine Begründung darin, dass eine analoge Anwendung des § 256 Abs 3 ASVG auf das sozialgerichtliche Verfahren nicht in Betracht kommt (RIS‑Justiz RS0103990). Da der Kläger keine Berufung erhoben hat, ist Verfahrensgegenstand des Rechtsmittelverfahrens lediglich der Zeitraum der befristeten Gewährung vom 1. 1. 2011 bis 30. 6. 2013. Offensichtlich aufgrund eines Versehens ist jedoch im Spruch der abweislichen Entscheidung des Berufungsgerichts die Nennung des Endes der Befristung (30. 6. 2013) unterblieben. Dies konnte im Rahmen einer amtswegigen Berichtigung durch das Revisionsgericht nachgeholt werden (siehe 9 ObA 144/00t).

2. Im Übrigen hat das Berufungsgericht die Frage, ob im vorliegenden Fall die sogenannte „Härtefallregelung“ nach § 255 Abs 3a und 3b ASVG zur Anwendung kommt, zutreffend verneint. Es reicht daher insoweit aus, auf die Begründung des Berufungsgerichts hinzuweisen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Den Ausführungen des Revisionswerbers ist im Einzelnen noch entgegenzuhalten:

2.1. Zweck der sogenannten Härtefallregelung des § 255 Abs 3a und 3b ASVG ist, für stark leistungseingeschränkte ungelernte Arbeiter bzw Arbeiterinnen, die das 50. Lebensjahr, aber noch nicht das 57. Lebensjahr vollendet haben oder die die Voraussetzungen für einen besonderen Berufsschutz etwa nach § 255 Abs 4 ASVG nicht erfüllen, einen speziellen Verweisungsschutz zu schaffen. In den Genuss dieser Regelung sollen bei Erfüllung der übrigen allgemeinen Voraussetzungen Versicherte kommen, die nur mehr in der Lage sind, Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil zu verrichten (10 ObS 167/11y, SSV‑NF 25/113).

2.2. Die Definition der „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ erfolgt in § 255 Abs 3b ASVG. Danach handelt es sich dabei um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (erste Fallgruppe) und andererseits um, leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (zweite Fallgruppe ‑ RIS‑Justiz RS0127383). Die „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ werden somit nach ihrem Schweregrad, dem mit ihnen verbundenen Zeitdruck und der Körperhaltung umschrieben. „Vorwiegend in sitzender Haltung“ bedeutet sitzende Arbeit in mehr als zwei Drittel der Gesamtarbeitszeit; Haltungswechsel bedeutet im gegebenen Zusammenhang ein Aufstehen zwei bis vier Mal pro Stunde (RIS‑Justiz RS0127383 [T6]).

2.3. Die Definition des § 255 Abs 3b ASVG beschreibt somit nicht das medizinische (Rest‑)Leistungskalkül von Versicherten, sondern jene Tätigkeiten unter allen in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen. Anders ausgedrückt: Um den Anspruchsvoraussetzungen der Härtefallregelung zu genügen, darf der Pensionswerber nur mehr in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben. § 255 Abs 3b ASVG definiert somit ein bestimmtes Profil von Tätigkeiten, die der Versicherte zwar noch ausüben könnte, auf die er aber nach dem Willen des Gesetzgebers nicht verwiesen werden kann (RIS‑Justiz RS0127382).

2.4. Zur Beantwortung dieser Frage, bedarf es genauer Feststellungen zum Anforderungsprofil sämtlicher dem Pensionswerber noch möglicher Verweisungstätigkeiten (10 ObS 105/11f ua). Kann ein Versicherter eine Tätigkeit ausüben, die nicht in vorwiegend sitzender Haltung, sondern auch gehend und stehend ausgeübt werden kann (etwa die Tätigkeit einer Reinigungskraft in Büros oder Ordinationen), fällt er nicht in den Anwendungsbereich der Härtefallregelung (10 ObS 150/11y; 10 ObS 69/13i).

2.5. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, dass die Feststellungen zu den Anforderungen in den Verweisungsberufen ausschließlich dem Tatsachenbereich angehören (RIS‑Justiz RS0043118). Da der Oberste Gerichtshof nicht Tatsacheninstanz ist, ist er an die dazu getroffenen Feststellungen gebunden; die Richtigkeit dieser Feststellungen kann in dritter Instanz nicht überprüft werden (RIS‑Justiz RS0042903 [T4, T5, T7]). Nach den im vorliegenden Fall getroffenen Feststellungen ist das medizinische Leistungskalkül des Klägers nicht so weit eingeschränkt, dass dieser nur mehr in der Lage wäre, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil und keine weiteren Verweisungstätigkeiten mehr auszuüben. Er kann trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen noch einer Reihe von Tätigkeiten (als Schalttafelwärter, Parkgaragenkassier oder Portier) nachgehen, die nach den ‑ für den Obersten Gerichtshof bindenden ‑ Festellungen der Vorinstanzen nicht nur vorwiegend im Sitzen, sondern auch im Gehen oder Stehen verrichtet werden können. Wenngleich im Schrifttum gerade der Beruf des Parkgaragenkassiers als Beispiel für leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, genannt wurde (Ivansits/Weissensteiner, Die Härtefallregelung - Zugangserleichterungen in die Invaliditätspension für Versicherte ab 50, DRdA 2011, 176 f) handelt es sich nach den im vorliegenden Fall getroffenen ‑ bindenden -Feststellungen weder bei diesem Beruf noch jenem eines Portiers oder Schalttafelwärters um Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil iSd § 255 Abs 3b ASVG. Ausgehend von diesen Feststellungen steht die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dem Kläger komme kein Anspruch auf Invaliditätspension zu, mit der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in Einklang.

3.1. Der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, dass mittlerweile mit 1. 7. 2013 (vgl § 680 Abs 1 Z 1 ASVG idF BGBl I 2013/139) die Neufassung des Begriffs der Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil in § 255 Abs 3b ASVG durch das 2. SVÄG 2013 (BGBl I 2013/139) in Kraft getreten ist. Nunmehr gelten Tätigkeiten auch dann als vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt, wenn sie durch zwischenzeitliche Haltungswechsel unterbrochen werden.

3.2. Ob eine Gesetzesänderung für ein laufendes Verfahren zur Anwendung gelangt, ist nach den Übergangsbestimmungen zu beurteilen (RIS‑Justiz RS0031419). Da sich für § 255 Abs 3b ASVG idF des SVÄG 2013 (BGBl I 2013/139) keine Übergangs-bestimmungen finden, ist diese Rechtslage erst für Stichtage ab dem 1. 7. 2013 ‑ somit nicht für den vorliegenden Fall zur Anwendung zu bringen (siehe oben Pkt 1).

4. Zusammenfassend gelingt es dem Kläger nicht, in seiner Revision aufzuzeigen, welche Rechtsfrage unrichtig gelöst wurde, vertritt er doch nur weiterhin die Ansicht, er falle deshalb in den Anwendungsbereich der Härtefallregelung, weil sein Leistungskalkül dem in § 255 Abs 3b ASVG beschriebenen (Rest‑)Leistungskalkül entspreche.

Die Revision ist daher nicht erfolgreich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Berücksichtigungswürdige Einkommens‑ und Vermögensverhältnisse des Klägers, welche einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden auch im Revisionsverfahren nicht geltend gemacht und sind aus der Aktenlage nicht ersichtlich.

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