OGH 10ObS167/11y

OGH10ObS167/11y20.12.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Prof. Mag. Dr. Thomas Keppert (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Helmut Tomek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Z*****, vertreten durch Dr. Markus Hager, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram ua, Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13. September 2011, GZ 11 Rs 117/11x-19, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Steyr als Arbeits- und Sozialgericht vom 11. Mai 2011, GZ 9 Cgs 175/10m-14 bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 21. 2. 1955 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt und war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag als Hilfsarbeiterin in unterschiedlicher Verwendung beschäftigt, ua als Küchenhilfe, Reinigungskraft, Verpackerin in der Lebensmittelindustrie sowie als Hilfsarbeiterin in einer Wäscherei.

Sie hat zum Stichtag 382 Versicherungsmonate erworben, davon 276 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit. Die Klägerin ist seit 23. 2. 2010 nicht mehr erwerbstätig und bezieht seit 1. 3. 2010 Pensionsvorschuss und Krankengeld.

Das Erstgericht traf folgende weitere Feststellungen:

„Aufgrund ihres näher festgestellten Leidenszustands kann die Klägerin bei maximal normalem Arbeitstempo nur mehr Tätigkeiten mit einem dauernden Tragen von Lasten bis 5 kg und dauerndem Heben bis 10 kg verrichten. Die Arbeiten können im Sitzen, Gehen und Stehen ausgeführt werden. Alle 45 bis 60 Minuten ist ein kurzzeitiger Positionswechsel für ca. fünf Minuten erforderlich, bevor wieder in der Ausgangshaltung weitergearbeitet werden kann. Der Wechsel aus Arbeiten im Stehen oder Gehen hat in die sitzende Position zu erfolgen.

Des weiteren sind folgende Arbeiten ausgeschlossen:

- mit Extremhaltungen des Nackens und des Rumpfes,

- in unwegsamem Gelände oder auf unebenem Untergrund,

- im Knien oder in tiefer Hocke,

- mit häufigem Begehen von Treppen,

- Arbeiten, die ein häufiges oder länger dauerndes Bücken bis zum Boden oder längere konstant vorgebeugte Körperhaltung erfordern,

- Arbeiten, die häufig oder über einen längeren Zeitraum mit beiden Armen über Schulterhöhe verrichtet werden müssen,

- Arbeiten, die ein abruptes Ziehen, Drücken, Stoßen erfordern,

- Arbeiten auf Leitern, Gerüsten und in schwindelexponierten Lagen,

- Arbeiten, die eine völlig ungestörte Feinmotorik oder auch eine Kraftentfaltung aller zehn Finger verlangen.

- Nacht-, Akkord-, und Schichtarbeit.

- Tätigkeiten mit deutlich erhöhter Eigen- oder Fremdverantwortung

- Tätigkeiten mit deutlich erhöhter Eigen- oder Fremdgefährdung

- verstärkt monotone Tätigkeiten (beispielsweise eintönige Überwachungs- und Kontrolltätigkeiten).

- Arbeiten mit erhöhtem Verletzungsrisiko.

Die Konzentrationsfähigkeit und das Auffassungsvermögen sind gering bis mäßig eingeschränkt. Rauch, Staub, Kälte, Chemikalien sowie andauernde Tätigkeiten in Hitze, Nässe, Zugluft und bei starken Temperaturschwankungen sind nicht zumutbar. Die Klägerin kann ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen und eine Wegstrecke von 500 m innerhalb von 20 bis 25 Minuten bewältigen. Sie kann nur mehr 6 Stunden pro Tag arbeiten. Leidensbedingte Krankenstände im Ausmaß von 4 Wochen pro Jahr sind zu erwarten (inklusive Kuraufenthalte). Dieser Zustand besteht seit 1. 3. 2010. Eine Verbesserung des Leistungskalküls ist nicht ganz ausgeschlossen.

Die Klägerin kann noch leichte Hilfstätigkeiten, wie etwa Tisch- oder Verpackungsarbeiten verrichten.

Wenngleich mehr als 100 Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, besteht für die Klägerin aufgrund ihrer gravierenden körperlichen Einschränkungen und ihres vorgerückten Alters selbst bei Ausschöpfung aller Serviceleistungen des AMS geringe Vermittlungswahrscheinlichkeit. Geht man von einem Arbeitsmarkt aus, den die Klägerin innerhalb von einer Stunde Fahrzeit (in einer Richtung) erreichen kann, ist die Vermittlungswahrscheinlichkeit nicht gegeben.“

Mit Bescheid vom 2. 6. 2010 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 23. 2. 2010 auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 1. 3. 2011 bis 28. 2. 2013 die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass die Voraussetzungen der „Härtefallregelung“ des § 255 Abs 3a ASVG erfüllt seien. Die Klägerin habe das 50. Lebensjahr vollendet, stehe seit 1. 3. 2010 nicht mehr im Erwerbsleben (§ 12 Abs 1 AlVG) und habe zumindest 360 Versicherungmonate, davon zumindest 240 Beitragsmonate aufgrund einer Erwerbstätigkeit erworben. Da sie nur noch leichte Arbeiten mit durchschnittlichem Zeitdruck, verbunden mit einem Positionswechsel alle 45 bis 60 Minuten, verrichten könne, sei die Voraussetzung einer Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil iSd § 255 Abs 3a ASVG gegeben. Zudem bestehe innerhalb eines Jahres am regionalen Arbeitsmarkt keine Vermittlungschance.

Das Berufungsgericht gab der von der beklagten Partei gegen diese Entscheidung erhobenen Berufung nicht Folge. Rechtlich ging das Berufungsgericht davon aus, dass das von der Klägerin in der Zeit vom 24. August 2009 bis 31. Oktober 2010 von der beklagten Partei bezogene Übergangsgeld die Verwirklichung der Anspruchsvoraussetzungen nach § 255 Abs 3a Z 2 ASVG nicht hindere. Zu prüfen sei, ob die Klägerin nur noch in der Lage sei, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil auszuüben. Diese Bestimmung sei dahin auszulegen, dass Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil (nur) körperlich leichte Tätigkeiten seien, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder - sofern sie nicht im Sitzen ausgeübt werden - zumindest mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen. Der für die Klägerin erforderliche Haltungswechsel alle 45 bis 60 Minuten reiche somit aus, um die Anspruchsvoraussetzungen des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG zu erfüllen. Da die der Klägerin noch möglichen Tisch- oder Verpackungsarbeiten leichte körperliche Tätigkeiten ohne besonderen bzw überdurchschnittlichem Zeitdruck seien, vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden können und mehrmals täglich einen Wechsel zwischen stehender und sitzender Haltung ermöglichten, seien die Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Invaliditätspension nach § 255 Abs 3a ASVG zu bejahen.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil zur Auslegung des Begriffs „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ iSd § 255 Abs 3a und Abs 3b ASVG keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.

Die beklagte Partei hält in ihrer Revision die ursprünglich vertretene Rechtsansicht nicht mehr aufrecht, das von der Klägerin bezogene Übergangsgeld sei im Hinblick auf die Härtefallregelung anspruchsschädlich; vielmehr sei richtig, dass der Bezug des Übergangsgelds keine Änderung der Stellung des Versicherten als Arbeitsloser bewirke. Dennoch seien aber die Voraussetzungen der Härtefallreglung nicht erfüllt, weil bei dem gegebenen Leistungskalkül und einer darauf abgestellten Verweisungstätigkeit nicht von einer Tätigkeit „mit geringstem Anforderungsprofil“ auszugehen sei, die der Gesetzgeber dieser Bestimmung zugrunde legen habe wollen. Gemäß der ersten Fallvariante des § 255 Abs 3b ASVG sollen in den Genuss der Härtefallregelung solche versicherten Personen kommen, die nur mehr leichte körperliche Tätigkeiten bei durchschnittlichem Zeitdruck vorwiegend im Sitzen verrichten können und bei denen mehrmals täglich ein Haltungswechsel ermöglicht wird. Die zweite Fallvariante des § 255 Abs 3b ASVG, die durch den Wortlaut“oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen“ beschrieben werde, regle - wie sich aus den Materialien ergebe - einen nicht kontinuierlichen Arbeitsablauf. Ungeachtet welche der in § 255 Abs 3b ASVG genannten Fallvarianten in concreto zur Anwendung gelange, komme dem Haltungswechsel in beiden Varianten eine tragende Rolle zu. Hinsichtlich des für die Klägerin nötigen Wechsels der Körperhaltung werde ausdrücklich bestritten, dass dessen erforderliche Häufigkeit im vorliegenden Fall jenes Ausmaß erreiche, welches der Bestimmung des § 255 Abs 3b ASVG zugrunde liege. Unter einem „Haltungswechsel“ im Sinne der ersten Fallvariante dieser Bestimmung sei das Aufstehen von zwei bis vier Mal pro Stunde zu verstehen. Bei der zweiten Fallvariante sei der Häufigkeit des Haltungswechsels ein noch größerer Stellenwert beizumessen.

Rechtliche Beurteilung

Dazu ist auszuführen:

1. Nach § 255 Abs 3 ASVG gilt eine Versicherte die - wie die Klägerin - nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen im Sinne des Abs 1 und 2 tätig war, als invalid, wenn sie infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr im Stande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihr unter billiger Berücksichtigung der von ihr ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

1.1 Versicherten in ungelernten Berufen gebührt - sofern, wie bei der Klägerin, die Voraussetzungen des Abs 4 nicht erfüllt sind - eine Invaliditätspension daher erst dann, wenn sie nicht mehr im Stande sind, eine auf dem Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit zu verrichten. Das Verweisungsfeld ist somit mit dem gesamten Arbeitsmarkt ident (Sonntag in Sonntag, ASVG² § 255 Rz 126 mwN).

2. Nach § 255 Abs 3a ASVG in der Fassung des BudgetbegleitG 2011 (BGBl I 2010/111) gilt eine versicherte Person auch dann als invalid, wenn sie

1. das 50. Lebensjahr vollendet hat,

2. mindestens 12 Monate unmittelbar vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) als arbeitslos iSd § 12 AlVG gemeldet war,

3. mindestens 360 Versicherungsmonate, davon 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit, erworben hat und

4. nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind, ausüben kann und zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer der physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann.

2.1 Unter den Tätigkeiten nach § 255 Abs 3a Z 4 ASVG sind nach der Legaldefinition des § 255 Abs 3b ASVG leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, zu verstehen.

2.2 Die Bestimmung des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG trat gemäß der Schlussbestimmung des § 658 Abs 1 ASVG mit 1. 1. 2011 in Kraft und wird mit Ablauf des 31. 12. 2015 wieder außer Kraft treten (§ 658 Abs 2 ASVG).

2.3 Nach den Gesetzesmaterialien (RV 1981 BlgNR 24. GP 205) soll mit dieser neuen Härtefallregelung für stark leistungseingeschränkte ungelernte ArbeitnehmerInnen und für bestimmte selbständig Erwerbstätige (nämlich Bäuerinnen und Bauern), die das 50. Lebensjahr erreicht bzw überschritten, aber das 57. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder die die Voraussetzungen für den besonderen Berufsschutz etwa nach § 255 Abs 4 ASVG nicht erfüllen, ein spezieller Verweisungsschutz die derzeit judizierte weite Verweisung auf den gesamten Arbeitsmarkt zu einer Verweisbarkeit in einem engen Segment einschränken und so diesen Menschen einen Zugang zu einer Invaliditäts- oder Erwerbsunfähigkeitspension bzw zu einer entsprechenden Rehabilitation öffnen. Ziel der vorgeschlagenen Regelung ist es also, jene Berufsverweisungen, die bisher zu Härtefällen geführt haben, zu vermeiden. Unter Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil sind leichte Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck zu verstehen, wobei ein Haltungswechsel möglich sein muss. Die neue Härtefallregelung wird in der Praxis für Bäuerinnen und Bauern sowie ungelernte ArbeiterInnen, die ein sehr stark medizinisch eingeschränktes Leistungskalkül haben (dh nur mehr leichte Tätigkeiten im Sitzen oder in einem nicht kontinuierlichen Arbeitsablauf ausüben können), relevant werden und soll auf eine sehr kleine Zahl von Härtefällen beschränkt bleiben.

3. Strittig ist die Auslegung der zitierten Bestimmung des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG, insbesondere des Begriffs „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“.

3.1 Die Gesetzesauslegung hat mit der Erforschung des Wortsinns der Norm zu beginnen. Eine darüber hinausgehende Auslegung ist erforderlich, wenn die Formulierung mehrdeutig, missverständlich oder unvollständig ist, wobei der äußerste Wortsinn die Grenze jeglicher Auslegung bildet. Bleiben im Rahmen des möglichen Wortsinns Unklarheiten über die konkrete Bedeutung eines Wortes oder Rechtssatzes bestehen, muss der Rechtsanwender versuchen, aus dem Bedeutungszusammenhang ein eindeutiges Auslegungsergebnis zu erzielen (systematisch-logische Auslegung). Diese Auslegung zieht zum besseren Verständnis einer Norm andere damit im Kontext stehende Normen heran, um Wertungswidersprüche innerhalb eines Gesetzes bzw der Rechtsordnung zu vermeiden. Bleibt die Ausdrucksweise des Gesetzes zweifelhaft und unklar, soll auf die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes und die Absicht des Gesetzgebers zurückgegriffen werden. Anhaltspunkte für den Willen des Gesetzgebers finden sich etwa in Regierungsvorlagen oder Ausschussberichten. Erläuternde Bemerkungen können das Verständnis einer unklaren Gesetzesstelle fördern, weshalb sie zur Auslegung heranzuziehen sind, sofern sie nicht eindeutig im Widerspruch zum Gesetz stehen. Ein Rechtssatz, der im Gesetz nicht einmal angedeutet ist, kann aber auch nicht durch Auslegung Geltung erlangen. Wenn die Auslegung einer Norm mit Hilfe des Wortlauts, des Bedeutungszusammenhangs und nach der Absicht des Gesetzgebers zu widersprechenden Ergebnissen führt, kommt letztlich der teleologischen Auslegung, die den Sinn einer Bestimmung unter Bedachtnahme auf den Zweck der Regelung zu erfassen sucht, das entscheidende Gewicht zu (vgl Posch in Schwimann, ABGB3 § 6 Rz 5 ff mwN).

3.2 Im Recht der Pensionsversicherung gilt der Grundsatz der „abstrakten Verweisung“, wonach es für die Frage der Invalidität, Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit ohne Bedeutung ist, ob der Versicherte im Verweisungsberuf auch tatsächlich einen Dienstposten finden wird (stRsp seit 10 ObS 50/87, SSV-NF 1/23). Ungelernte Arbeiter müssen sich gemäß § 255 Abs 3 ASVG auf alle Tätigkeiten des (allgemeinen) Arbeitsmarkts verweisen lassen, die sie aufgrund ihres Leistungskalküls noch ausüben können. Ungelernten Arbeitern gebührt somit erst dann eine Pension, wenn sie sämtliche der am allgemeinen Arbeitsmarkt angebotenen Tätigkeiten nicht (mehr) ausüben können. Dazu gehören auch leichte Tätigkeiten wie beispielsweise Botengänger, Museumswärter oder Parkgaragenkassier. Insbesondere bei schwereren gesundheitlichen Beeinträchtigungen sinken naturgemäß die Chancen, eine Beschäftigung zu erlangen oder weiterbeschäftigt zu werden. So ist mehr als die Hälfte der Invaliditätspensionswerber am Pensionsstichtag bereits längere Zeit arbeitslos oder im Krankenstand. Bei schweren Erkrankungen ist der Anteil noch höher.

3.3 Die neue Härtefallregelung des § 255 Abs 3a ASVG sieht nunmehr vor, dass auch Versicherte, die noch in der Lage sind, am allgemeinen Arbeitsmarkt Verweisungstätigkeiten, von diesen jedoch nur mehr die besonders leichten (Tätigkeiten mit dem „geringsten Anforderungsprofil“) zu verrichten, künftig als invalid (erwerbsunfähig) gelten (Ivansits/Weissensteiner, Die Härtefallregelung - Zugangserleichterungen in die Invaliditätspension für Versicherte ab 50, DRdA 2011, 175 ff).

3.4 Die Definition der „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ erfolgt im § 255 Abs 3b ASVG. Danach handelt es sich dabei um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen. Diese Tätigkeiten werden somit nach ihrem Schweregrad, dem mit ihnen verbundenen Zeitdruck und der Körperhaltung umschrieben. Es handelt sich dabei nach den bereits zitierten Ausführungen in der RV (981 BlgNR 24. GP 206) um leichte Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck, wobei ein Haltungswechsel möglich sein muss. Ziel der Härtefallregelung ist die Gewährung einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit an Personen, die - wie bereits oben ausgeführt - ein sehr stark eingeschränktes medizinisches Leistungskalkül haben. Die Definition in Abs 3b beschreibt allerdings nicht das medizinische (Rest-)Leistungskalkül von Versicherten, sondern jene Tätigkeiten unter allen in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen. Anders ausgedrückt: Um den Anspruchsvoraussetzungen der Härtefallregelung zu genügen, darf der Pensionswerber nur mehr in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben (Ivansits/Weissensteiner aaO DRdA 2011, 177).

3.5 Eine (Verweisungs-)Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil kann daher nach § 255 Abs 3b ASVG nur dann vorliegen, wenn sie leicht ist, bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden kann und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht. Die Formulierung „und/oder“ deutet auf das Vorliegen kumulativer, aber auch alternativer Anspruchsvoraussetzungen hin. Eine (Verweisungs-)Tätigkeit mit dem geringsten Anforderungsprofil ist demnach eine leichte körperliche Tätigkeit, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt wird und (kumulativ) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht (erste Fallgruppe). Das Wort „oder“ für die zweite Fallgruppe ist nicht als Alternative zu leichten Tätigkeiten oder zu Tätigkeiten unter durchschnittlichem Zeitdruck, sondern als Alternative zu vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübten Tätigkeiten zu verstehen. Es könnte daher die Härtefallregelung dahin verstanden werden, dass die zweite Fallgruppe der Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil eine leichte körperliche Tätigkeit, die bei durchschnittlichem Zeitdruck ausgeübt wird und mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht, umfasst. Bei einer solchen Auslegung würde es sich aber bei den beiden Fallgruppen im Ergebnis um keinen alternativen Kreis von Anspruchsberechtigten handeln, da der Kreis der Anspruchsberechtigten nach der ersten Fallgruppe jedenfalls auch von der zweiten Fallgruppe umfasst wäre. Im Übrigen würde bei einer solchen Auslegung auch eine grundsätzlich im Gehen ausgeübte Tätigkeit, die von einer - mitunter auch nur mehrmals täglich einzunehmenden - stehenden Tätigkeit abgelöst wird, als Tätigkeit mit dem geringsten Anforderungsprofil anzusehen und damit bereits der Härtefallregelung zu unterstellen sein. Eine solche Tätigkeit stellt jedoch nach Ansicht des erkennenden Senats keine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil dar und es findet die gegenteilige Ansicht auch in den zitierten Gesetzesmaterialien keine Deckung.

3.6 Ivansits/Weissensteiner aaO DRdA 2011, 177 f vertreten in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass folgende zwei Gruppen von „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ zu unterscheiden seien:

- leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (zB die Tätigkeit eines Parkgaragenkassiers).

- leichte (körperliche) Tätigkeiten, die vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden, oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals einen Haltungswechsel ermöglichen (zB die Tätigkeit einer Näherin).

Die Alternative bei dieser Auslegungsvariante besteht somit darin, ob der mehrmalige tägliche Haltungswechsel während der Ausübung der Tätigkeit möglich ist oder nicht. Für diese Auslegung findet sich im Gesetzeswortlaut des § 255 Abs 3b ASVG durch die Bezugnahme auf die „ausgeübte Tätigkeit“ eine gewisse Stütze. Für diese Auslegung spricht aber auch der weitere Umstand, dass in den Gesetzesmaterialien in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf einen „nicht-kontinuierlichen Arbeitsablauf“ Bezug genommen wird. Der erkennende Senat folgt daher auch in der Frage der Auslegung des Begriffs „Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil“ der Ansicht von Ivansits/Weissensteiner aaO, wonach es sich dabei einerseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (erste Fallgruppe) und andererseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, handelt. Mit dieser Auslegung wird nach Ansicht des erkennenden Senats im Hinblick auf die vorliegende unklare Gesetzeslage der ausdrücklich erklärten Absicht des Gesetzgebers, die Härtefallregelung nur für eine sehr kleine Zahl sehr stark leistungseingeschränkter Versicherter schaffen zu wollen, sowie dem Zweck der Regelung (als „Härtefallregelung“) am ehesten Rechnung getragen (in diesem Sinn auch 10 ObS 105/11f und 10 ObS 113/11g).

Unter dem Begriff „Haltungswechsel“ im gegebenen Zusammenhang ist ein kurzes Aufstehen von zwei bis vier Mal pro Stunde zu verstehen (Ivansits/Weissensteiner aaO 177).

4. Wie bereits oben ausgeführt, beschreibt die Legaldefinition der Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil in § 255 Abs 3b ASVG nicht das für eine Anwendung der Härtefallregelung noch zulässige medizinische (Rest-)Leistungskalkül, des Versicherten, sondern das Anforderungsprofil für jene Tätigkeiten unter allen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen und in diesem Fall nicht als mögliche und zumutbare Verweisungstätigkeiten in Betracht kommen. Entscheidendes Kriterium für die Anwendung der Härtefallregelung ist daher nicht bereits die Einschränkung des medizinischen Restleistungskalküls der versicherten Person, sondern - wie der Gesetzeswortlaut („Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil“) und insbesondere die zitierten Gesetzesmaterialien zeigen - die vom Gesetzgeber im Hinblick auf das eingeschränkte Leistungskalkül der versicherten Person vorgesehene Einschränkung der Verweisbarkeit der versicherten Person auf dem Arbeitsmarkt.

5. Aus diesen Ausführungen ergibt sich, dass die Sache noch nicht spruchreif ist.

Die Ansicht des Berufungsgerichts, die der Klägerin noch möglichen Verweisungstätigkeiten entsprächen den Voraussetzungen des § 255 Abs 3b ASVG, stimmt mit dem oben dargelegten Verständnis dieser Bestimmung nicht überein. Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren zu prüfen haben, ob die Klägerin nur mehr in der Lage ist, die in § 255 Abs 3a ASVG umschriebenen Tätigkeiten (wie sie im Sinne der Ausführungen zu Punkt 3.6 zu verstehen sind) und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben. Sollten etwa Tätigkeiten im Gehen oder Stehen vorhanden sein, die der Klägerin trotz ihrer weiteren Einschränkungen möglich sind, wären die Voraussetzungen des § 255 Abs 3b ASVG nicht erfüllt. Erst wenn feststehen sollte, dass die Klägerin nur mehr in der Lage ist, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen und darüber hinaus keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben, wäre das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung der Härtefallregelung zu bejahen, wenn weiters zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer der physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung vom Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es aber ergänzender Feststellungen zum Anforderungsprofil der, der Klägerin noch möglichen Verweisungstätigkeiten.

Aus diesen Gründen erweist sich die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen als unumgänglich.

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Verfahrenskosten beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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