OGH 6Ob36/13g

OGH6Ob36/13g14.3.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr.

Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Außerstreitsache der Antragstellerin K***** A*****, Deutschland, vertreten durch Dr. Peter Zöchbauer, Rechtsanwalt in St. Pölten, gegen den Antragsgegner J***** K*****, vertreten durch Mag. Martin Dohnal, Rechtsanwalt in Wien, wegen Rückführung der mj M***** K*****, geboren am *****, nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen, über den Revisionsrekurs des Antragsgegners gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 15. Jänner 2013, GZ 23 R 16/13w‑36, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts St. Pölten vom 12. Dezember 2012, GZ 13 Ps 134/12s‑31, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0060OB00036.13G.0314.000

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Begründung

Antragstellerin und Antragsgegner sind die unehelichen Eltern des im Juni 2001 in F***** geborenen Kindes. Der Vater ist Deutscher, die Mutter ist Staatsangehörige der Türkei. Das Kind besitzt die deutsche und die türkische Staatsbürgerschaft. Die Eltern vereinbarten die gemeinsame elterliche Sorge gemäß § 1626a dBGB. Sie trennten sich im Jahr 2007. Der Vater zog aus der gemeinsamen Wohnung in F***** aus. Anlässlich der Trennung vereinbarten die Eltern vor Gericht, dass das geteilte Sorgerecht aufrecht bleibt, der gewöhnliche Aufenthalt der Tochter bei der Mutter ist, die Tochter sich tagsüber beim Vater aufhält und die Nacht bei der Mutter verbringt. Die Regelung wurde ausgeübt. Im Laufe der Zeit übernachtete das Kind kaum noch bei seiner Mutter. Die Mutter zog in das benachbarte N*****. Das Kind wohnte weiter beim Vater in F***** und verbrachte jedes zweite Wochenende bei der Mutter.

Am 22. 10. 2010 vereinbarten die Eltern vor dem Amtsgericht F*****, dass in Abweichung von der zuletzt geschlossenen Vereinbarung der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes beim Vater ist. Sie waren sich weiter einig, dass sie auch in Zukunft die elterliche Sorge gemeinsam ausüben wollen. Das Kind verbrachte weiterhin jedes zweite Wochenende (Freitag bis Sonntag, manchmal kürzer) bei der Mutter. An Elternabenden in der Schule nahm die Mutter nicht teil. Sie zahlte auch den Kindesunterhalt nicht.

Am 10. 6. 2012 sagte der Vater der Mutter, er beabsichtige nach Österreich zu übersiedeln. Die Mutter schlug vor, diese Frage und die Regelung der Ferienbesuchskontakte am 15. 6. 2012 zu besprechen. Sie kam jedoch weder zu dem vereinbarten Termin noch zur Geburtstagsfeier der Tochter am 16. 6. 2012. Seit dem 10. 6. 2012 gab es keine persönlichen Kontakte zwischen den Eltern mehr. Die Kontakte zwischen Mutter und Tochter fanden aber weiter statt.

Anfang August 2012 übersiedelte der Vater mit der Tochter nach Österreich, ohne zuvor die Zustimmung der Mutter eingeholt zu haben. Nachdem die Mutter weder die Tochter noch den Vater telefonisch hatte erreichen können, wartete sie den Schulbeginn ab. Da sie beide noch immer nicht erreichen konnte, wandte sie sich an die Polizei und erfuhr, dass die beiden nach Österreich übersiedelt waren.

Mit dem am 6. 12. 2012 beim Erstgericht eingelangten Schriftsatz stellte die Mutter den Antrag auf Rückführung des Kindes nach dem Haager Übereinkommen vom 25. 10. 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ). Sie sei mit dem Verbleib ihrer Tochter in Österreich nicht einverstanden.

Der Vater sprach sich gegen eine Rückführung aus.

Das Erstgericht gab dem Rückführungsantrag statt. Die Mutter habe das die Aufenthaltsbestimmung umfassende Mitsorgerecht tatsächlich ausgeübt, zumal geplant gewesen sei, dass die Tochter die zweite Ferienhälfte bei ihr verbringt und die Mutter im Jahr 2010 dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes beim Vater zugestimmt habe. Es liege auch kein Rückführungshindernis vor.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Es vertrat die Auffassung, dass der Vater die Tochter widerrechtlich im Sinn des Art 3 HKÜ nach Österreich verbracht habe, weil er in das nach dem maßgeblichen deutschen Recht gegebene elterliche Sorgerecht der Mutter, insbesondere in deren (gemeinsam auszuübendes) Aufenthaltsbestimmungsrecht eingegriffen habe, sei er doch mit der Tochter ohne Einverständnis der Mutter übersiedelt. Auch im Übrigen billigte es die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts.

Das Rekursgericht sprach aus, der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ein bloßes „Umgangsrecht“ für die tatsächliche Ausübung des elterlichen Sorgerechts im Sinn des Art 3 HKÜ nicht genüge, jüngere Entscheidungen jedoch ein gewisses Umdenken erkennen ließen.

Rechtliche Beurteilung

Der von der Mutter beantwortete Revisionsrekurs des Vaters ist entgegen dem ‑ den Obersten Gerichtshof nicht bindenden ‑ Ausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig.

Hat das Gericht zweiter Instanz den ordentlichen Revisionsrekurs zugelassen, macht das Rechtsmittel aber nur solche Gründe geltend, deren Erledigung nicht von der Lösung erheblicher Rechtsfragen abhängt, so ist das Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof trotz Zulässigerklärung durch das Gericht zweiter Instanz zurückzuweisen (6 Ob 109/11i; RIS-Justiz RS0102059). Der Revisionsrekurswerber muss zumindest eine erhebliche Rechtsfrage für eine sachliche Erledigung seines Rechtsmittels aufwerfen (6 Ob 109/11i; RIS-Justiz RS0080388; RS0048272). Die Zurückweisung eines ordentlichen Revisionsrekurses wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Auf die vom Rekursgericht als erheblich bezeichnete Rechtsfrage kommt der Rechtsmittelwerber nicht zurück. Mit seinen Ausführungen im Revisionsrekurs zeigt er keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG auf:

1. Zweck des HKÜ ist es, die ursprünglichen tatsächlichen Verhältnisse wiederherzustellen, um zu gewährleisten, „dass das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht auf persönlichen Verkehr in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird“ (Art 1 HKÜ). Das Übereinkommen soll verhindern, dass für das Kind im Zufluchtsland eine Aufenthaltszuständigkeit begründet wird, die eine Abänderung der Obsorgeregelung im Herkunftsland ermöglicht (RIS‑Justiz RS0109515). Das Übereinkommen strebt die Wiederherstellung der ursprünglichen Tatsachenverhältnisse nach einem unter Ausblendung von Rechtsfragen durchgeführten Schnellverfahren an (RIS‑Justiz RS0074532).

2. Sachliche Anwendungsvoraussetzung für das HKÜ ist die „Entführung“, das ist das „widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten“ des Kindes außerhalb des Herkunftslands (6 Ob 73/12x; Nademleinsky/Neumayr , Internationales Familienrecht Rz 09.04).

3. Gemäß Art 3 Abs 1 HKÜ gilt das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes als widerrechtlich, wenn

a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Herkunftsstaats zusteht, und

b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

4. Die in dieser Bestimmung angeführten Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (RIS‑Justiz RS0106624). Bei der Beurteilung der Widerrechtlichkeit der Verbringung von Kindern nach dem HKÜ und der Frage des Bestehens eines (Mit‑)Sorgerechts nach dem anzuwendenden Sachrecht knüpft Art 3 HKÜ unmissverständlich an den Zeitpunkt unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten des Kindes an (RIS‑Justiz RS0119948). Es ist daher entgegen der Ansicht des Rechtsmittelwerbers für die Frage der tatsächlichen Ausübung des Mitsorgerechts unerheblich, ob die Mutter nach dem Verbringen in Deutschland alleinige Personensorge nicht beantragte oder ihr Recht auf (Mit-)Bestimmung des Aufenthalts geltend machte oder ob die Mutter seit September 2012 keinen Versuch unternommen hat, ihre Tochter telefonisch oder persönlich zu erreichen. Die Frage, ob die Besuchsrechte der Mutter im vorliegenden Fall mehr als bei einem Wohnsitzwechsel innerhalb Deutschlands mit weiteren Entfernungen beeinträchtigt sind, ist entgegen der Meinung des Revisionsrekurswerbers nicht zu prüfen, betrifft sie doch keine Voraussetzung der Anwendung des HKÜ.

5. Der Rechtsmittelwerber meint, das Rekursgericht habe die „Voraussetzung der tatsächlichen Ausübung des Sorgerechts“ rechtlich nicht richtig gewürdigt. Da die gemeinsame Obsorge nicht nur das Aufenthaltsbestimmungsrecht umfasse, sondern auch „mehrere Angelegenheiten regelt, die jedoch tatsächlich niemals ausgeübt worden sind“ und der Revisionsrekurswerber sämtliche Entscheidungen in den letzten drei Jahren alleine getroffen habe, könne davon ausgegangen werden, dass die „Mutter kein wahrhaftes Interesse an der gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts hat bzw hatte“. Dem ist zu erwidern, dass die Verletzung des Aufenthaltsbestimmungsrechts unter Mitsorgeberechtigten hinreichende Anwendungsvoraussetzung des HKÜ ist (Art 3 Abs 1 lit a iVm Art 5 lit a HKÜ; RIS-Justiz RS0074536). Auf die vom Rekursgericht gebilligte Rechtsauffassung des Erstgerichts, es reiche für eine tatsächliche Ausübung des Sorgerechts der Antragstellerin aus, dass die Eltern im Jahr 2010 vor Gericht gemeinsam bestimmten, ihre Tochter solle sich beim Vater aufhalten (vgl OLG Rostock FamRZ 2002, 46; Schoch , Die Auslegung der Ausnahmetatbestände des Haager Kindesentführungs-Übereinkommens 114 mwN), geht der Rechtsmittelwerber nicht ein. Er stützt sich nicht einmal auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wonach die Anwendungsvoraussetzung der tatsächlichen Ausübung des Sorgerechts oder Mitsorgerechts bei einer Trennung der Eltern in der Regel nur der Elternteil erfüllt, bei dem das Kind wohnt, und die Ausübung eines bloßen Umgangsrechts nicht genügt (RIS‑Justiz RS0106625; ablehnend Nademleinsky/Neumayr , Internationales Familienrecht Rz 09.07; Baetge , IPrax 2000, 146; Schoch , Die Auslegung der Ausnahmetatbestände des Haager Kindesentführungs-Übereinkommens 101 ff mit Darstellung der neueren deutschen und US-amerikanischen Rechtsprechung zu Art 3 Abs 1 lit b HKÜ; vgl Pirrung in Staudinger , BGB [1994], Vorbem zu Art 19 EGBGB Rz 644; Siehr in MünchKomm z BGB 5 HEntfÜ, Anh II zu Art 21 EGBGB Rz 37; aus jüngerer Zeit zB OLG Saarbrücken FamRZ 2011, 1235; vgl aber auch die Entscheidung 2 Ob 291/00h ZfRV 2001, 194, worin der Oberste Gerichtshof es für die tatsächliche Ausübung des Sorgerechts genügen ließ, dass sich der Antragsteller nach Auszug aus der gemeinsamen Wohnung vor allem am Wochenende um das Kind kümmerte).

6. Dass die Rückgabe einen „gewaltigeren Eingriff in das Leben“ des Rechtsmittelwerbers nach seiner Auffassung bedeutet, ist nach Art 13 HKÜ kein die Rückführung hindernder Umstand.

7. Das Rekursgericht hat sich mit den vom Rechtsmittelwerber behaupteten Verfahrensmängeln erster Instanz auseinandergesetzt und diese verneint. Ein vom Rekursgericht verneinter Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens kann aber vom Obersten Gerichtshof ‑ abgesehen von hier nicht vorliegenden Ausnahmefällen wie rechtlich unhaltbarer oder aktenwidriger Begründung ‑ nicht wahrgenommen werden (6 Ob 150/12w; RIS-Justiz RS0050037). Ob im Einzelfall aus Gründen des Kindeswohls eine Durchbrechung dieses Grundsatzes in Betracht kommt, ist eine Frage des Einzelfalls und in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG (6 Ob 150/12w; RIS-Justiz RS0050037).

8. Der Revisionsrekurswerber hält es für verantwortungslos und dem Kindeswohl nicht Rechnung tragend, das Kind „in der (Anm: näher beschriebenen) jetzigen Situation ohne eine vorhergehende Begutachtung der Kindesmutter zur vorbehaltlosen Betreuung zu übergeben“. Um eine Kindeswohlgefährdung ausschließen zu können, wäre die Einholung eines Gutachtens erforderlich gewesen.

Eine im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG erhebliche Rechtsfrage wird damit nicht dargetan. Nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ kann die Rückgabe verweigert werden, wenn die Person, die sich der Rückgabe widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf anderer Weise in eine unzumutbare Lage bringt. Dieser Ausnahmetatbestand ist nach der Rechtsprechung eng auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken (6 Ob 150/12w; RIS-Justiz RS0074568 [T8]). Ob das Kindeswohl im Sinn des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ bei einer Rückgabe gefährdet ist, ist eine von den jeweiligen Umständen abhängige Frage, die im Einzelfall zu entscheiden ist. Diese Frage bedarf daher regelmäßig nur dann einer Beurteilung durch den Obersten Gerichtshof, wenn die Vorinstanzen bei ihren Entscheidungen in unvertretbarer Weise von den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen abgewichen sind (6 Ob 150/12w; RIS-Justiz RS0112662 [T5]). Eine derartige Abweichung zeigt der Rechtsmittelwerber nicht auf. Die Beurteilung der Vorinstanzen, dass es bei einer Rückführung nach Deutschland nicht zu einer Trennung des Kindes vom Vater kommen muss und dem Vater die Rückkehr gemeinsam mit dem Kind nach den Umständen des Falls zumutbar ist, bedarf keiner Korrektur durch den Obersten Gerichtshof.

Für den Revisionsrekurs besteht Neuerungsverbot (§ 66 Abs 2 AußStrG), sodass die Behauptung, aufgrund der Kenntnis der Rekursentscheidung sei es zu massiven Schlafstörungen und zum Bettnässen des Kindes gekommen, nicht zu beachten ist.

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