Spruch:
In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde der Antrag der Staatsanwaltschaft Wien auf Unterbringung des Seabedin H***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB abgewiesen.
Dem Antrag zufolge habe der Genannte am 7. November 2010 in Wien „unter dem Einfluss einer Geisteskrankheit in Form einer paranoiden Schizophrenie, sohin eines seine Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruhte, Gerald W***** dadurch, dass er ihm ein Messer in den Brustbereich stieß, eine schwere Körperverletzung, nämlich eine penetrierende Bruststichwunde samt Verletzung der linken inneren Brustkorbarterie sowie eine leichte Impression vorderer Abschnitte des Herzens, absichtlich zugefügt“ ... „und hiedurch eine Tat begangen, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist und ihm, wäre er zur Tatzeit zurechnungsfähig gewesen, als Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB zuzurechnen gewesen wäre, wobei nach Person und Zustand des Betroffenen, sowie der Art der Tat zu befürchten ist, dass er sonst unter dem Einfluss einer geistigen oder seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde“ (ON 75).
Rechtliche Beurteilung
Gegen das genannte Urteil richtet sich die von der Staatsanwaltschaft nominell aus den Nichtigkeitsgründen des § 433 Abs 1 StPO iVm § 281 Abs 1 Z 5 und 9 lit a StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde, welche sich als berechtigt erweist.
Ausgehend davon, dass der Betroffene nach dem angefochtenen Urteil eine dem Tatbestand des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB subsumierbare Anlasstat begangen habe, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist und nur deshalb nicht bestraft werden kann, weil sie unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), nämlich einer paranoiden Schizophrenie (US 3) begangen wurde, erblickt die Staatsanwaltschaft in der Unterlassung der Anordnung einer Maßnahme nach § 21 Abs 1 StGB eine rechtsfehlerhafte Beurteilung der Frage des Vorliegens einer geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades und der gesetzlichen Kriterien der Gefährlichkeitsprognose.
Sie macht damit ‑ weil die Anordnung einer Maßnahme nach § 21 Abs 1 StGB einen Ausspruch nach § 260 Abs 1 Z 3 StPO darstellt (Lendl, WK‑StPO § 260 Rz 35) ‑ der Sache nach Nichtigkeit aus § 281 Abs 1 Z 11 erster und zweiter Fall StPO geltend (vgl RIS‑Justiz RS0113980; Ratz in WK² Vorbem zu §§ 21 bis 25 Rz 8 mwN).
Den tatrichterlichen Urteilsannahmen zufolge leidet der Betroffene an paranoider Schizophrenie (US 3) und beging die Anlasstat „als Ausfluss eines akut psychotischen Zustands“ aufgrund der genannten Erkrankung (US 4).
Wie die Beschwerdeführerin zutreffend ausführt, liegt eine ‑ als (entgegen der Annahme des Erstgerichts [US 7] einem Sachverständigenbeweis nicht zugängliche [RIS‑Justiz RS0090441; Hinterhofer, WK‑StPO § 127 Rz 12 f]) Rechtsfrage zu beurteilende ‑ geistige oder seelische Abartigkeit von höherem Grad vor, wenn der Zustand ‑ wie hier ‑ eindeutig außerhalb der Variationsbreite des Normalen liegt und so ausgeprägt ist, dass er die Willensbildung wesentlich beeinflussen kann. Auch nur periodisch auftretende Zustände dieser Art zählen dazu (Ratz in WK² § 21 Rz 10 mwN). Dies verkennt das Erstgericht, indem es ausführt, es wären „keineswegs die zwischenmenschlichen Beziehungen andauernd und ständig durch Aggressionshandlungen beeinträchtigt“ (US 5). Unverständlich ist die Ansicht des Schöffengerichts, weshalb das Vorliegen einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad „losgelöst von der Erkrankung“ (US 10) beurteilt werden sollte.
Zutreffend weist die Rechtsmittelwerberin der Sache nach auch darauf hin, dass das Erstgericht die allein maßgebenden gesetzlichen Erkenntnisquellen für die Gefährlichkeitsprognose (Person und Zustand des Betroffenen sowie Art der Tat) verkannt hat. Bestehende Therapiebereitschaft steht einer Maßnahme nach § 21 Abs 1 StGB nicht entgegen. Eine solche ist nämlich auch anzuordnen, wenn eine stationäre Anhaltung zur Verhinderung der Prognosetat nicht erforderlich ist, die Unterbringungsanordnung jedoch nach Maßgabe der (normativ verstandenen) Gefährlichkeit, wie sie sich nach den gesetzlich abgegrenzten Erkenntnisquellen darstellt, gerechtfertigt ist. Wird eine bestehende Gefährlichkeit durch eine medikamentöse oder andere Behandlung lediglich eingedämmt (hintangehalten), aber nicht dauerhaft beseitigt, und verlangt deren weitere Eindämmung die Fortsetzung der Behandlung, steht die solcherart durch Therapie lediglich unter Kontrolle gebrachte Gefährlichkeit einer Anwendung der Bestimmung des § 21 Abs 1 StGB nicht entgegen (RIS‑Justiz RS0127350). Nur wenn zwischen Anlasstat und Hauptverhandlung ein (von den Behandlungsaussichten zu unterscheidender; vgl dazu Ratz in WK² Vorbem zu §§ 21 bis 25 Rz 5) Behandlungserfolg eintritt, der die Gefährlichkeit in einem Maß reduziert erscheinen lässt, dass von einer Unterbringung im Maßnahmenvollzug Abstand genommen werden kann, so liegt ‑ unabhängig davon, ob dies im Rahmen der vorläufigen Anhaltung nach § 429 StPO, der vorläufigen Unterbringung nach § 438 StPO oder aufgrund einer ärztlichen Behandlung auf freiem Fuß erfolgt ‑ gar kein Fall der Unterbringung nach § 21 StGB vor, weil ohne die vom Gesetz verlangte (stets auf den Urteilszeitpunkt bezogene) Gefährlichkeit die freiheitsentziehende vorbeugende Maßnahme nach dem Gesetzlichkeitsprinzip des § 1 Abs 1 StGB (vgl Art 7 Abs 1 MRK) überhaupt nicht, auch nicht bedingt angeordnet werden darf (RIS‑Justiz RS0121151, RS0119302; Ratz in WK² § 45 Rz 10).
Würde sich die Gefährlichkeitsprognose nach § 21 Abs 1 StGB nach dem Erfordernis des Vollzugs der Maßnahme richten, bliebe für die Anwendung des § 45 Abs 1, der ausdrücklich an den Gefährlichkeit hintanhaltenden Behandlungserfolg anknüpft, kein Raum (12 Os 73/11v = EvBl 2012/56, 372).
Die vom Schöffensenat angenommene Therapiebereitschaft (US 5) steht daher der Anordnung der von der Staatsanwaltschaft beantragten Maßnahme nicht entgegen, sodass sich die Verneinung der Gefährlichkeitsprognose angesichts des vom Schöffengericht zu den Prognosekriterien angeführten Sachverhalts als offenbar unzureichend begründet erweist (vgl Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 718).
Somit war der Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Folge zu geben, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien zu verweisen.
Lediglich der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass im Falle der Abweichung der Angaben zweier Sachverständiger die Bestimmung des § 127 Abs 3 StPO zu beachten ist.
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