OGH 7Ob172/12p

OGH7Ob172/12p23.1.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Vizepräsidentin Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hoch, Dr. Kalivoda, Mag. Dr. Wurdinger und Mag. Malesich als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei DI N***** E*****, vertreten durch Mag. Helmut Gruber, Rechtsanwalt in St. Jakob im Haus, gegen die beklagte Partei V*****Aktiengesellschaft, *****, vertreten durch Dr. Franz Essl, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen 25.435,48 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 27. Juni 2012, GZ 6 R 91/12p‑29, womit das Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 27. März 2012, GZ 32 Cg 23/11z‑25, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Zwischen den Parteien besteht ein Unfallversicherungsvertrag, dem die Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung der V***** (AUVB 1/1996; in der Folge AUVB) zugrunde liegen.

Art 6 lautet:

„Begriff des Unfalles

1. Unfall ist ein vom Willen des Versicherten unabhängiges Ereignis, das plötzlich von außen mechanisch oder chemisch auf seinen Körper einwirkt und eine körperliche Schädigung oder den Tod nach sich zieht.

2. Als Unfall gelten auch folgende vom Willen des Versicherten unabhängige Ereignisse

...

‑ ... Zerrungen und Zerreißungen ... von an Gliedmaßen ... befindlichen ... Sehnen ... infolge plötzlicher Abweichung vom geplanten Bewegungsablauf.

Der am 2. April 1947 geborene Kläger ist seit 15 Jahren Hobbyläufer. Er lief bis zum Unfallzeitpunkt etwa drei mal wöchentlich jeweils eine Strecke von ca zehn Kilometer in etwa einer Stunde. Er betrieb auch andere Sportarten wie zB Golf, Schifahren und Radfahren. Im Jahr 2004 oder 2005 nahm er an einem Halbmarathon auf Mallorca (Laufzeit 1 Stunde 53 Minuten) teil. Er hatte bis zum Unfallzeitpunkt keine Probleme mit der Achillessehne des linken Beins.

Am 10. November 2004 unternahm der Kläger auf den Seychellen barfuß einen Lauf auf dem zum Meer abfallenden Sandstrand. Der Kläger lief entlang der Küste ca zwei bis vier Meter vom Wasser entfernt. Der Untergrund war verhältnismäßig kompakt, „jedoch waren einige Stellen fester und andere weicher“. Je nach Beschaffenheit des Untergrundes ist der Kläger mehr oder weniger im Sand eingesunken. Er bewegte sich in „Schlangenlinien“, um möglichst auf festem Untergrund auftreten zu können. Rein optisch konnte der Kläger nicht feststellen, welche Festigkeit der Untergrund vor ihm aufwies. Er lief mit moderater Geschwindigkeit. Nach etwa 15 bis 20 Minuten sank er beim Nach‑Vorne‑Steigen mit dem linken Fuß im weichen Sand ein, ohne eine Vertiefung wahrzunehmen. „Dabei spürte der Kläger einen 'brennenden' Schmerz im linken Fuß bzw Unterschenkel im Bereich der Ferse, welche von der erlittenen Achillessehnenruptur links herrührte. Der Kläger kam beim gegenständlichen Vorfall nicht zu Sturz, obwohl er Übergewicht nach vorne bekam. Ob dieser Umstand darauf beruht, dass zu diesem Zeitpunkt die Achillessehnenruptur schon erfolgt war, oder ob dieser Umstand Auslöser dafür war, kann nicht festgestellt werden. Ein Umknicken oder Umkippen des Klägers mit dem linken Fuß kann gleichfalls nicht festgestellt werden“ (wörtliche Feststellungen des Erstgerichts).

Der Kläger begehrt den Klagsbetrag unter Zugrundelegung einer durch den Vorfall verursachten Beinwertminderung von 10 %. Er sei beim Laufen am Strand mit dem linken Fuß in eine tiefe Unebenheit getreten, wobei er plötzlich mit der Ferse des linken Fußes stark eingesunken und mit dem Fuß nach vorne gekippt sei und sofort einen Schmerz verspürt habe. Der Kläger sei umgekippt.

Die Beklagte bestritt das Vorliegen eines Unfalls im Sinn des Art 6 AUVB. Die Achillessehnenruptur sei ohne Einwirkung von Außen, ohne Fehltritt, ohne Gewalteinwirkung und ohne plötzliche Abweichung vom geplanten Bewegungsablauf eingetreten. Weiters wurden auch Obliegenheitsverletzungen und mangelnde Fälligkeit eingewendet und die behauptete Beinwertminderung sowie der Zinsenlauf bestritten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Den Versicherungsnehmer treffe die Beweislast für das Vorliegen eines Unfalls im Sinn der Bedingungen. Ein Achillessehnenriss, der während der normalen Laufbewegung des Versicherten eintrete, sei kein Unfall. Von einem unerwarteten Ablauf könne nicht gesprochen werden, sei doch der Kläger schon längere Zeit auf gleichartigem Terrain gejoggt. Er habe den linken Fuß in den Sand setzen wollen, sodass von einer gewollten Bewegung auszugehen sei.

Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung. Das Laufen auf einem Strand, bei dem der Läufer regelmäßig mehr oder weniger tief in den Sand einsinke, beanspruche die Achillessehne generell in beträchtlichem Ausmaß. Dies sei schon deshalb der Fall, weil auf einem schrägen Gelände der Fuß schräg aufkomme. Diese Beanspruchung der Achillessehne habe sich aus der vom Kläger gewollten Laufbewegung ergeben. Es verbleibe daher eine beträchtliche Unklarheit, welcher Untergrund unter dem Sand vorhanden gewesen sei und welcher Verletzungsmechanismus zur Ruptur geführt habe. Möglich sei sowohl ein Unfall infolge eines vom Sand zugedeckten Lochs im Boden, in das der Kläger getreten sei, als auch eine Ruptur infolge Überbeanspruchung auf schrägem, ansonsten aber gefahrlosem Gelände. Diese Unklarheit gehe rechtlich zu Lasten des Versicherungsnehmers.

Das Berufungsgericht erklärte in Abänderung seines Ausspruchs im Urteil die ordentliche Revision für zulässig, weil Rechtsprechung dazu fehle, ob ein vom Kläger nicht verschuldeter Beweisnotstand dennoch den strengen Beweis rechtfertige oder ob in solchen Fällen das Beweismaß auf Glaubhaftmachung im Sinn des § 274 Abs 2 ZPO herabzusetzen sei und ein Wahrscheinlichkeitsurteil zu Lasten des Versicherers zu fällen sei.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit einem Abänderungsantrag.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, sie ist auch im Sinn des in jedem Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags berechtigt.

Der Oberste Gerichtshof hat sich mit dem Unfallbegriff in der Unfallversicherung bereits mehrfach befasst und dazu folgende Grundsätze dargelegt:

Dass das eigene Verhalten zum Unfall beitragen, ihn sogar herbeiführen kann, ist in der Unfallversicherung nicht zweifelhaft. Dabei wird zwar ein gewolltes und gesteuertes Verhalten des Versicherungsnehmers nicht als Unfallereignis angesehen werden können, ein Unfall liegt dagegen aber bei einem Vorgang vor, der vom Versicherungsnehmer bewusst und gewollt begonnen und beherrscht wurde, sich dieser Beherrschung aber durch einen unerwarteten Ablauf entzogen und nunmehr schädigend auf ihn eingewirkt hat (RIS‑Justiz RS0082008). Zum Begriff der „Plötzlichkeit“ des Unfalls gehört das Moment des Unerwarteten und Unentrinnbaren. Für den Versicherungsnehmer muss die Lage so sein, dass er sich bei normalem Geschehensablauf den Folgen des Ereignisses im Augenblick ihres Einwirkens auf seine Person nicht mehr entziehen kann (RIS‑Justiz RS0082022). Der Versicherungsnehmer trägt die Beweislast für den Versicherungsfall und die Ursächlichkeit des Unfalls für die Invalidität (RIS‑Justiz RS0122800). Ein Achillessehnenriss, der während der normalen Laufbewegung des Versicherten, also in der vom Läufer völlig beherrschten und auch gewollten Situation, eintritt, ist kein Unfall im Sinne der Bedingungen (7 Ob 1019/92, 7 Ob 118/00d). Ob eine plötzliche Abweichung vom geplanten Bewegungsablauf vorliegt, ist in erster Linie Tatfrage und hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (7 Ob 5/01p, 7 Ob 197/11p).

Nach ständiger Rechtsprechung reicht es zum Nachweis des Versicherungsfalls schon aus, wenn der Versicherungsnehmer Umstände dartut, die die Möglichkeit eines Unfalls naheliegend erscheinen lassen. Sache des Versicherers ist es, Umstände zu behaupten und zu beweisen, die dafür sprechen, dass kein deckungspflichtiger Unfall vorliegt, etwa weil das die körperliche Schädigung herbeiführende Ereignis nicht unabhängig vom Willen des Versicherten gewesen ist. Ist dem Versicherer dies gelungen, so muss der Versicherungsnehmer beweisen, dass er dessen ungeachtet unfreiwillig einen Unfall erlitten hat (RIS‑Justiz RS0080921).

Fest steht, dass der Kläger „in Schlangenlinien“ lief, um möglichst auf festem Untergrund aufzutreten und dass er vor dem die Verletzung auslösenden Auftreten mit dem linken Fuß im Sand keine Vertiefung wahrgenommen hat. Dennoch sank er mit dem linken Fuß im weichen Sand ein und kippte nach vor. Die von den Vorinstanzen verlangte Beweisführung, dass die Achillessehnenruptur nicht beim Einsinken in den Sand, sondern erst beim Nach‑Vorne‑Kippen entstanden ist, entspricht nicht der Rechtsprechung. Die fließende und gewollte Bewegung des Laufens wurde hier durch das Einsinken und Nach‑Vorne‑Kippen unterbrochen. Dies reicht aus, um die Möglichkeit eines Unfalls naheliegend erscheinen zu lassen. Eine genauere Darlegung, in welcher Sekunde die Sehne riss, kann vom Versicherungsnehmer, der von einem solchen Vorfall überrascht wird, nicht verlangt werden. Es ist nun Sache des Versicherers, Umstände zu behaupten und zu beweisen, die dafür sprechen, dass kein deckungspflichtiger Unfall vorliegt. Dies ist dem beklagten Versicherer nicht gelungen. Aus dem Sachverhalt ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, dass die Sehne auch beim normalen Laufen (ohne Einsinken im weichen Sand und Nach‑Vorne‑Kippen) gerissen wäre, die Sehne also eine solche Vorschädigung hatte, dass dies für eine Ruptur bei normaler Laufbewegung sprechen würde. Damit ist von einem deckungspflichtigen Unfall auszugehen.

Aufgrund der vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht der Vorinstanzen fehlen über den Unfallhergang hinausgehende Feststellungen, die zur Beurteilung des Klagsanspruchs notwendig sind. Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren entsprechende Feststellungen zu treffen haben.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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