Spruch:
DI Dr. Wolfgang L***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Dem Bund wird der Ersatz der mit 800 Euro, zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer, festgesetzten Beschwerdekosten auferlegt.
Text
Gründe:
Mit im Dezember 2011 ergangener Verfügung (Datum unleserlich), GZ 161 Hv 47/12f‑107, veranlasste die Vorsitzende des Schöffensenats des Landesgerichts für Strafsachen Wien (§ 32 Abs 3 StPO) die Vorführung des Angeklagten DI Dr. Wolfgang L***** zu einem Sachverständigen aus dem Gebiet der Psychiatrie und Neurologie, der nach Vertagung der Hauptverhandlung (§ 275 StPO; vgl ON 88 S 29) mit Entscheidung vom 31. März 2011 mit der Erstellung eines Gutachtens zur Verhandlungsfähigkeit des Genannten beauftragt worden war, weil „sich aus dem Inhalt der zahlreichen im Akt befindlichen Eingaben des Angeklagten“ in Verbindung mit dem in der Hauptverhandlung „gewonnenen persönlichen Eindruck Zweifel an dessen Verhandlungsfähigkeit“ ergeben hatten (ON 90). Begründend führte sie aus, dass der Angeklagte bereits mehrfach Ladungen zum Sachverständigen ‑ zuletzt trotz Belehrung über die Folgen seines Nichterscheinens (vgl ON 102) und Kenntnis der Termine ‑ „ohne jedoch einen entsprechenden berücksichtigungswürdigen Grund dafür zu nennen (lediglich: Gutachter ist reiner Willkürakt)“, nicht Folge geleistet habe (ON 107).
Demzufolge wurde der Angeklagte (der dem Gericht am 14. Dezember 2011 ein Privatgutachten vorgelegt hatte, das ihm Verhandlungsfähigkeit bescheinigt; ON 106 S 3 f) am 13. Februar 2012 von Beamten des Stadtpolizeikommandos Innere Stadt zum gerichtlich bestellten Sachverständigen vorgeführt (ON 113). Dieser teilte mit Schreiben vom 16. Februar 2012 dem Gericht mit, dass der Angeklagte (entsprechend seiner Vorankündigung) keine Fragen beantwortet und die Untersuchung abgelehnt habe, weshalb der Akt zur weiteren Verwendung an das Gericht retourniert wurde (ON 109).
Die gegen die Anordnung der Vorführung gerichtete Grundrechtsbeschwerde reklamiert einen ungerechtfertigten Eingriff in das Grundrecht auf persönliche Freiheit, weil dem Gericht der Standpunkt des Angeklagten, wonach er „völlig verhandlungsfähig sei, dem Gutachter nichts zu sagen habe und der Gutachter ein reiner Willkürakt ist“, bekannt gewesen sei und der Angeklagte jeweils vor den Terminen beim Sachverständigen mitgeteilt habe, dass er diese nicht wahrnehmen werde (vgl ON 105 und 108).
Rechtliche Beurteilung
Die Grundrechtsbeschwerde ist zulässig, rechtzeitig und berechtigt.
Nach § 2 Abs 2 StPO hat das Gericht im Hauptverfahren die der Anklage zu Grunde liegende Tat und die Schuld des Angeklagten von Amts wegen aufzuklären. Im Rahmen der von §§ 232 Abs 2, 254 StPO eingeräumten diskretionären Gewalt ist der Vorsitzende ermächtigt, (gerade) auch ohne Antrag der Beteiligten des Verfahrens Zeugen und Sachverständige zu laden und ganz allgemein (und auch schon vor der Hauptverhandlung) die Aufnahme von Beweisen anzuordnen, auch wenn dies mit einem Grundrechtseingriff verbunden ist (vgl 11 Os 22/10k; RIS‑Justiz RS0125728; vgl auch Hinterhofer, WK‑StPO § 126 Rz 43).
Die in §§ 226 Abs 1, 229 Abs 2, und 238 Abs 1 StPO angesprochenen Verfügungen sind allesamt ‑ ungeachtet ihrer gesetzlichen Bezeichnung als „Beschluss“ ‑ prozessleitender Natur (vgl Ratz, Zur Reform der Hauptverhandlung und des Rechtsmittelverfahrens, ÖJZ 2010/47, 394) und solcherart als prozessleitende Verfügungen grundsätzlich nicht selbstständig anfechtbar (vgl Danek, WK‑StPO § 238 Rz 14 ff; RIS‑Justiz RS0125788).
Da die gegenständliche ‑ mit einem Eingriff in das Grundrecht auf persönliche Freiheit nach Art 5 MRK verbundene (vgl Kirchbacher , WK‑StPO § 153 Rz 11) ‑ Anordnung der Vorsitzenden auf Vorführung des Angeklagten demnach kein Beschluss, sondern eine auf den Fortgang des Verfahrens gerichtete Verfügung (vgl § 35 Abs 2 zweiter Fall StPO) ist (vgl zur Rechtslage vor dem Strafprozessreformgesetz 2008 RIS‑Justiz RS0061085: „freiheitsentziehende Verfügung“), steht dem Angeklagten kein Instanzenzug offen (§ 1 Abs 1 GRBG), vielmehr unmittelbar dagegen gerichtete Grundrechtsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof zu.
Die Grundrechtsbeschwerde wurde fristgerecht eingebracht, weil die vierzehntägige Frist (§ 4 Abs 1 GRBG) erst ab Zustellung der Verfügung an den Verfahrenshelfer und nicht ab Kenntnis des Angeklagten zufolge der Vorführung zu laufen begann ( Kier in WK 2 GRBG § 4 Rz 4). Dass dem Verfahrenshelfer nach seinem Vorbringen die Verfügung der Vorsitzenden bis zur Einbringung der Grundrechtsbeschwerde noch nicht fristauslösend (§ 4 Abs 1 erster Satz GRBG) bekannt gemacht war (vgl ON 1 S 48, wonach sie ihm am Tag der Einbringung zugestellt wurde), steht der Wirksamkeit der Anfechtung nicht entgegen (RIS‑Justiz RS0100673).
Die Grundrechtsbeschwerde ist auch berechtigt.
Laut Verfügung vom 2. Dezember 2011 ist die Vorsitzende des Schöffensenats (nach der Aktenlage mit Recht) von einer Weigerung des Angeklagten, an einer Untersuchung zur Feststellung seiner Verhandlungsunfähigkeit durch den gerichtlich bestellten psychiatrischen Sachverständigen (aktiv) mitzuwirken (wozu er nicht verpflichtet ist; vgl Markel , WK‑StPO § 1 Rz 33; Birklbauer , WK‑StPO § 123 Rz 17; Schwaighofer , WK‑StPO § 275 Rz 15; vgl jedoch allgemein zur Zulässigkeit schlichter, nicht invasiver ärztlicher Untersuchungen: Ratz , WK‑StPO § 281 Rz 379), ausgegangen, ohne jedoch zu begründen, weshalb die Zustimmung des Angeklagten zur Untersuchung dennoch nicht ausgeschlossen werden konnte. Solcherart war aber der Zweck des Freiheitsentzugs, nämlich eine erfolgversprechende psychiatrische Untersuchung unter Mitwirkung des Angeklagten nicht zu erreichen, sodass das angewendete Mittel nicht zielführend (§ 5 Abs 2 StPO), sondern vielmehr grundrechtswidrig war.
Anstelle des Grundrechtseingriffs hätte der Sachverständige einerseits aus (von der Vorsitzenden des Schöffensenats als Grundlage ihrer Entscheidung vom 31. März 2011 unter anderem herangezogenen) Aktenbestandteilen Schlüsse ziehen (vgl Markel, WK‑StPO § 1 Rz 33) und andererseits seine Beurteilungsgrundlage durch schlichtes Beobachten des Angeklagten ‑ der seiner Prozesseinlassungspflicht (vgl Achammer , WK‑StPO § 7 Rz 18) unbedingt nachkommen wollte ‑ im Rahmen der Hauptverhandlung erweitern können (vgl Birklbauer , WK‑StPO § 123 Rz 17), um dem Gericht eine ausreichende Basis für die Beurteilung der Rechtsfrage nach der Verhandlungfähigkeit des Angeklagten zu liefern (vgl Ratz , WK‑StPO § 281 Rz 378). Ein solches Vorgehen wäre fallbezogen ‑ wenngleich Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten grundsätzlich Voraussetzung für die Durchführung einer Hauptverhandlung ist (vgl RIS‑Justiz RS0097914; Markel, WK‑StPO § 1 Rz 34; Schwaighofer , WK‑StPO § 275 Rz 16) ‑ mit einem weniger schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte des (auf freiem Fuß befindlichen) Angeklagten verbunden gewesen, als dessen (zwangsweise) Vorführung vor den Sachverständigen.
Der Kostenausspruch beruht auf § 8 GRBG.
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