OGH 4Ob206/11i

OGH4Ob206/11i20.12.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Schenk als Vorsitzende und die Hofräte Dr. Vogel, Dr. Jensik, Dr. Musger und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Erlagssache der Erlegerin A***** AG, *****, vertreten durch Mag. Helmut Rieger, Rechtsanwalt in Wien, wider die Erlagsgegnerin M***** Privatstiftung, *****, vertreten durch Ewald Weninger Rechtsanwalts GmbH in Wien, wegen 4.111.272,78 EUR, über den Revisionsrekurs der Erlegerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 21. September 2011, GZ 45 R 262/11d, 45 R 477/11x-43, mit welchem infolge von Rekursen der Erlagsgegnerin der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 3. Jänner 2011, GZ 2 Nc 46/10z-16, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses dieses Gerichts vom 1. März 2011, GZ 2 Nc 46/10z-25, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass die Rekurse der Erlagsgegnerin zurückgewiesen werden.

Die Erlagsgegnerin ist schuldig, der Erlegerin die mit 14.713,68 EUR bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin 222 EUR Barauslagen, 2.491,68 EUR Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Die Erlagsgegnerin ist Eigentümerin von Bankschuldverschreibungen der Erlegerin im Nominale von 4.100.000 EUR. Diese waren in einem Depot bei der Erlegerin verwahrt. Die Parteien streiten über die Frage, ob die Erlegerin nach § 1425 ABGB zum Erlag der Wertpapiere bei Gericht befugt war.

Die Erlegerin bringt vor, dass sie wegen der beabsichtigten Zurücklegung ihrer Bankkonzession die Geschäftsbeziehung mit der Erlagsgegnerin gekündigt und diese aufgefordert habe, ihr Wertpapierdepot binnen angemessener Frist auf eine andere Bank zu übertragen. Da dies nicht geschehen sei, liege Annahmeverzug vor. Sie sei daher nach § 1425 ABGB zum gerichtlichen Erlag berechtigt.

Die Erlagsgegnerin wendet ein, dass Erlagsgründe in der Sphäre der Erlagsgegnerin liegen müssten. Das treffe hier nicht zu, weil die Erlegerin die Kündigung der Geschäftsbeziehung ausschließlich mit der von ihr beabsichtigten Zurücklegung der Bankkonzession begründet habe. Zudem sei eine Auflösung nur des Depotvertrags nicht möglich, weil die Erlegerin als Emittentin nach den Anleihebedingungen auch Verwahrerin sei. Die Annahme des Erlags beeinträchtige die Rechtsstellung der Erlagsgegnerin. Die Erlegerin wolle sich durch den Erlag und die Aufgabe der Bankkonzession „dem Vertrag“ (gemeint: der Verpflichtung aus der Anleihe) entziehen.

Das Erstgericht nahm den Erlag an, ohne dies weiter zu begründen. Als Erlagsgegenstand nannte es zunächst den Kurswert der Anleihen. Später berichtigte es dies durch einen (erkennbaren) Hinweis auf den Erlag der Wertpapiere selbst.

Das Rekursgericht gab Rekursen der Erlagsgegnerin gegen den Annahmebeschluss und dessen Berichtigung Folge und wies den Erlagsantrag ab. Die Erlagsgegnerin sei nach der Entscheidung 1 Ob 2/00a rekurslegitimiert, weil der Erlag ihre materielle Rechtsstellung beeinträchtige. Der zum Erlag berechtigende Grund müsse beim Gläubiger (Erlagsgegner) vorliegen. Das sei hier nicht der Fall, weil Grund des Erlags die von der Erlegerin beabsichtigte Zurücklegung der Bankkonzession sei. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht mit der Begründung zu, dass höchstgerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage fehle.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diese Entscheidung gerichtete Revisionsrekurs der Erlegerin ist zulässig, weil das Rekursgericht zu Unrecht eine Rechtsmittellegitimation der Erlagsgegnerin angenommen hat; er ist aus diesem Grund auch berechtigt.

1. Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels ist nicht nur die formelle, sondern auch die materielle Beschwer (4 Ob 576/94 = SZ 67/230; RIS-Justiz RS0041868, RS0006497; Zechner in Fasching/Konecny 2 Vor § 514 ZPO Rz 66 mwN). Sie liegt vor, wenn der Rechtsmittelwerber in seinem Rechtsschutzbegehren durch die angefochtene Entscheidung beeinträchtigt wird, er also ein Bedürfnis auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen Entscheidung hat (RIS-Justiz RS0041746, RS0043815). Ist das nicht der Fall, so ist das Rechtsmittel auch dann zurückzuweisen, wenn die Entscheidung formal vom Antrag (oder Gegenantrag) abweicht (4 Ob 576/94; RIS-Justiz RS0041868). Das gilt auch im Außerstreitverfahren (6 Ob 45/09z).

2. Auf dieser Grundlage hat die ältere Rechtsprechung ganz allgemein angenommen, dass der Erlagsgegner den Beschluss auf Annahme des Erlags nicht anfechten könne, weil er dadurch in seiner Rechtsstellung nicht berührt werde (vgl RIS-Justiz RS0006723, RS0022644). Davon ist der Oberste Gerichtshof mit der Entscheidung 4 Ob 218/98g (= SZ 71/158) zwar für den Fall eines Erlags wegen einer Mehrheit von Forderungsprätendenten abgegangen: Durch einen solchen Erlag werde eine Auseinandersetzung zwischen den Erlagsgegnern erforderlich, was in deren materielle Rechtsposition eingreife. Hingegen hielt er in dieser und in Folgeentscheidungen (2 Ob 182/99z = ZIK 1999, 213; 7 Ob 266/98p = JBl 2000, 449) die Ansicht aufrecht, dass die materielle Rechtsstellung des Erlagsgegners nicht berührt werde, wenn der Erlag nur zugunsten eines Erlagsgegners erfolge. Denn der Erlag wirke nur schuldbefreiend, wenn ein ihn rechtfertigender Grund vorliege; sonst hafte der Erleger dem Erlagsgegner ohnehin in gleicher Weise wie ohne Erlag. Die weitere Rechtsprechung ist der Entscheidung 4 Ob 218/98g für den Fall einer Mehrheit von Erlagsgegnern gefolgt (RIS-Justiz RS0110882; zuletzt etwa 7 Ob 235/10z und 6 Ob 71/11a).

3. In der vom Rekursgericht zitierten (unveröffentlichten) Entscheidung 1 Ob 2/00a hat der dort erkennende Senat eine Beeinträchtigung der materiellen Rechtsstellung und damit eine Rechtsmittellegitimation des Erlagsgegners auch dann angenommen, wenn es sich dabei um den einzigen Erlagsgegner handelte, und zwar dann, wenn für den Erlag „keine gesetzliche Deckung“ bestehe. Konkret ging es dabei um den Erlag des befriedigten Gläubigers, weil keine Einigkeit darüber bestand, auf welche Forderung die Zahlung anzurechnen sei. Eine nähere Begründung, warum der Erlag in diesem Fall - abweichend von der bisherigen Rechtsprechung - die materielle Rechtsstellung des Gegners beeinträchtigen soll, enthält die Entscheidung nicht.

4. Die Lehre vertritt weiter einhellig die Auffassung, dass der Erlag zugunsten eines einzigen Erlagsgegners dessen materielle Rechtsstellung nicht berühre und dieser Erlagsgegner daher nicht rechtsmittelbefugt sei (Heidinger in Schwimann 3 VI § 1425 Rz 27; Mair in Schwimann, Taschenkommentar ABGB, § 1425 Rz 10; Reischauer in Rummel 3, § 1425 Rz 16; ders, Einige Gedanken zur Hinterlegung nach § 1425 ABGB, ÖJZ 2001, 453 [454]; Sailer, Das Erlagsrecht - eine Unbekannte? Zak 2011, 403 [404]; Stabentheiner in Kletecka/Schauer, ABGB-ON 1.01 § 1425 Rz 27). Der erste Senat des Obersten Gerichtshofs wies mit dieser Begründung zuletzt ein außerordentliches Rechtsmittel zurück; andere höchstgerichtliche Entscheidungen gibt es dazu seit 1 Ob 2/00a nicht.

5. Auch der erkennende Senat hält daran fest, dass der Erlagsgegner nur dann zur Bekämpfung des den Erlag annehmenden Beschlusses befugt ist, wenn er dadurch in seiner materiellen Rechtsstellung beeinträchtigt wird und daher (auch) materiell beschwert ist. Da ein Erlag ohne zureichenden Erlagsgrund den Schuldner nicht befreit (RIS-Justiz RS0033890, vgl auch RS0033727), liegt eine solche Beeinträchtigung beim Erlag zugunsten eines einzigen Erlagsgegners im Regelfall nicht vor. Der Erlagsgegner müsste daher konkret vorbringen, weshalb er durch die Annahme eines solchen Erlags ausnahmsweise doch beschwert ist. Soweit die Entscheidung 1 Ob 2/00a anders zu verstehen ist, wird sie nicht aufrechterhalten.

6. Die Erlagsgegnerin stützt sich in diesem Zusammenhang ausschließlich darauf, dass es die Annahme des Erlags der Erlegerin ermögliche, ihren Bankbetrieb einzustellen; gelinge ihr das, könne sie keinen Überschuss mehr erzielen und müsse die Anleihe daher nicht mehr bedienen. Selbst wenn das zutreffen sollte, handelte es sich dabei aber um eine mittelbare, ausschließlich wirtschaftliche Folgewirkung der Annahme des Erlags; die Rechtsstellung der Erlagsgegnerin aufgrund des Depotvertrags ändert sich dadurch nicht. Nur auf diesen Depotvertrag und die Folgen von dessen Kündigung beziehen sich aber der Erlag und der ihn begründende Antrag der Erlegerin. Die Erlagsgegnerin hat daher keinen Eingriff in ihre materielle Rechtsposition dargetan.

7. Aus diesen Gründen ist der angefochtene Beschluss dahin abzuändern, dass die Rekurse der Erlagsgegnerin gegen die erstinstanzlichen Beschlüsse mangels Beschwer zurückgewiesen werden. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 78 Abs 2 Satz 1 AußStrG.

8. Nur zur Klarstellung ist festzuhalten, dass die Entscheidung des Erstgerichts auch inhaltlich unbedenklich ist.

Im Erlagsverfahren ist ausschließlich die Schlüssigkeit des vom Erleger erstatteten Vorbringens zu prüfen (RIS-Justiz RS0112198). Diese ist hier jedenfalls zu bejahen: Hatte die Erlegerin die Depotvereinbarung wirksam gekündigt, musste sie die Wertpapiere der Erlagsgegnerin ausfolgen. Nahm jene sie nicht an, war sie im Annahmeverzug. Diesen Annahmeverzug (und nicht, wie vom Rekursgericht angenommen, die beabsichtigte Zurücklegung der Bankkonzession) hat die Erlegerin als Erlagsgrund genannt. Er liegt jedenfalls in ihrer Sphäre und berechtigt daher nach § 1425 ABGB zum Erlag (Stabentheiner in Kletecka/Schauer, ABGB-ON 1.01 § 1425 Rz 13; Heidinger in Schwimann 3 VI § 1425 Rz 12; Koziol in KBB3 § 1425 Rz 7; Reischauer in Rummel 3, § 1425 Rz 1b; alle mwN).

Ob das Vorbringen der Erlegerin zutrifft - ob also eine Kündigung des Depotvertrags möglich war und sich die Erlagsgegnerin daher tatsächlich im Annahmeverzug befand - ist im Erlagsverfahren grundsätzlich nicht zu prüfen. Zwar kann bei der nach § 1425 ABGB erforderlichen Schlüssigkeitsprüfung zu berücksichtigen sein, dass der Inhalt einer Urkunde mit dem Vorbringen des Erlegers in unlösbarem Widerspruch steht (8 Ob 31/11h = Zak 2011, 395). Das trifft hier aber nicht zu. Denn anders als von der Erlagsgegnerin vorgebracht besteht nach den von ihr vorgelegten Urkunden kein untrennbarer Zusammenhang zwischen der Depotführung und der Verpflichtung aus der Anleihe. § 8 der Anleihebedingungen legt ausdrücklich fest, dass „Zahlstelle“ die Erlegerin (deren Rechtsvorgängerin) ist; Tilgungszahlungen erfolgen demgegenüber über die „jeweilige, für den Inhaber der Bankschuldverschreibungen depotführende Stelle“. Als Verwahrer kommen daher schon nach dem Wortlaut dieser Bestimmung auch andere Stellen als die Emittentin in Betracht.

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