OGH 6Ob173/11a

OGH6Ob173/11a14.9.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R***** G*****, vertreten durch Mag. Wolfgang Vinatzer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei W***** GmbH, *****, vertreten durch Korn Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Unterlassung (Streitwert 6.450 EUR) und Widerrufs (Streitwert 6.540 EUR), über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 30. Mai 2011, GZ 30 R 11/11z-10, womit das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 30. Dezember 2010, GZ 30 Cg 124/10b-5, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Rekurs wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 838,44 EUR (darin 139,74 EUR USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens zu ersetzen.

Text

Begründung

Die beklagte Partei ist Medieninhaberin der W***** Zeitung. In den Printausgaben vom 19. 3. 2010 und 20. 3. 2010 erschienen folgende Artikel:

« Wiener Ex-Heimkind erhebt schwere Vorwürfe: Bus-Lieferdienst brachte Pädophilen Minderjährige auf Bestellung

Zum Schulausflug in die Sex-Sauna

- Ex-Zögling will auch vor Polizei aussagen.

- Bezahlte Putz- und Sex-Dienste statt Schule.

- Hauptverdächtiger ging 2002 wegen „Mangel an Beweisen“ frei.

Wien. Schwere Vorwürfe gegen ein privates Wiener Kinderheim und einen in dessen Nähe ansässigen Geschäftsmann erheben ein heute 28-jähriger ehemaliger Heimzögling und ein Ex-Lehrer. Die ohnehin aus Problemfamilien stammenden Heimkinder seien „abgerichtet“ und dann bei Sexpartys in Wohnungen des Unternehmens an Gäste vermietet worden.

Es habe einen regelrechten Bus-„Lieferdienst“ für solche Orgien gegeben, die Kinder hätten auch Geld bekommen, selbst für Vergewaltigungen.

Der Hauptverdächtige wurde zwar 2002 in zwei Instanzen „mangels Beweisen“ freigesprochen. Die Polizei untersucht nun die neuen Vorwürfe. Es gilt die Unschuldsvermutung. [...]

„Es gab eine Reinigungsfirma gleich neben dem Heim, deren Chef bei uns aus und ein gegangen ist“, erinnert sich der Zeuge. „Als ich zwölf war, wurden wir eines Tages gefragt, ob wir etwas dazuverdienen wollen mit Arbeit. Bei einem Taschengeld von monatlich nur 120 Schilling haben natürlich viele ja gesagt“, so der Betroffene weiter.

Auch Frauen als Partygäste

Die Putzdienste, zu denen man die Kinder dann auch oft während der Schulzeit eingeteilt habe, hätten in Firmen, aber auch in Privatwohnungen stattgefunden, „von denen einige dem Firmenchef gehört haben sollen. Dort sah es oft wild aus, wie nach Orgien, und wir mussten leere Flaschen, gebrauchte Kondome und Sex-Spielzeug wegräumen.“ Danach sei die „Putzpartie“ mit dem Bus wieder ins Heim gebracht und jene „abgerichteten“ Kinder seien abgeholt worden, die man für die nächste Party als Sexobjekte brauchte, so der Zeuge, der selbst solchen Festen beiwohnte.

„Zu den Partys sind Frauen und Männer gekommen, und auch Kinder von woanders, auch Mädchen“, so der Bursche. „Zur Sache“ gegangen sei es in den Schlafzimmern, der Sauna und in einer Art Folterkeller, wo auch professionelle Kinderpornos gedreht worden seien.

Viele Heim-Kinder, so der Zeuge, seien vorher schon im Elternhaus misshandelt oder missbraucht worden, „wo hätten sich die beschweren sollen?“ Verschont von den Übergriffen seien nur jene worden, die sich „massiv gewehrt hätten“. Dennoch habe es „auch immer wieder Vergewaltigungen gegeben“. Als „Lohn“, erinnert sich der Ex-Zögling, habe es „fürs Putzen bis zu 70 Schilling pro Tag, für Sex mehr“ gegeben. Einige Kinder hätten gar „Dienstzimmer“ in den Party-Wohnungen gehabt und seien über Monate von der Schule abgemeldet worden für „Erlebnispädagogik“ oder „Privatunterricht“. Das Heim beherbergte damals rund 110 Kinder ab sechs Jahren. [...]

„Dünne Suppe“ bei Gericht

Nach Anzeigen und Ermittlungen gab es ein Gerichtsverfahren, wo allerdings nur der Reinigungsfirmen-Chef angeklagt war - und im Zweifel freigesprochen wurde. Seitens der Polizei heißt es, die Suppe sei damals „zu dünn“ gewesen, Zeugen hätten sich widersprochen oder seien nicht greifbar gewesen.

Ex-Lehrer S., der etliche ehemalige Opfer kennt, spricht hingegen von „massiver Einschüchterung und Bedrohung“ der ohnehin vielfach traumatisierten Jugendlichen bis hin zu Bestechungsversuchen durch den Anwalt des Beschuldigten, der einige Zeugen nach dem Prozess auch verklagt habe. [...] »

***

« Sex-Partys mit Heimkindern: Weitere Opfer melden sich

- Gibt es Wiener „Pädophilen-Mafia“?

- Jugendamt prüft Heime nur nach Voranmeldung

Wien. Immer neue Details aus dem Umfeld jenes Hietzinger Kinderheimes, in dessen Umfeld es in den 1990er Jahren zu Sex-Orgien mit Heimkindern gekommen sein soll, werden nun bekannt. Bei der „W***** Zeitung“ meldeten sich ein weiteres Opfer, das nun aussagen möchte. Seitens des Leiters des August-Aichhorn Heimes - er war auch in der fraglichen Zeit der Missbräuche schon in führender Funktion tätig - gibt es bisher keine Stellungnahme. [...]

Herbert S., jener ehemalige Lehrer, der den potenziellen Missbrauchs-Skandal der von ihm unterrichteten Heimkinder ins Rollen brachte, präsentierte der „W***** Zeitung“ eine Liste damaliger Opfer. Einige dieser als Kinder missbrauchten Personen sind mittlerweile selbst einschlägig straffällig geworden. „Ehemalige Opfer werden später zu Tätern, vor allem dann, wenn ihre Leiden nie aufgeklärt wurden und sie keine Chance zur Aufarbeitung hatten“, so der Pädagoge.

Täter noch immer aktiv?

Umgekehrt hätte sich auch an den damaligen Rahmenbedingungen wenig geändert. Das ehemalige Aichhorn Heim in der Hietzinger Seuttergasse wurde zwar in kleinere Wohngemeinschaften abgesiedelt, diese liegen aber neuerlich im 13. Bezirk. Und dort logiert auch nach wie vor jener Unternehmer, dem vorgeworfen wird, damals gut besuchte Kindersex-Partys organisiert zu haben. „Pädophile gesunden nicht von heute auf morgen, das heißt, die Kindersex-Mafia könnte nach wie vor aktiv sein“, befürchtet S.

Es gilt natürlich die Unschuldsvermutung. »

Der Kläger begehrt Unterlassung und Widerruf dieser Behauptungen. Für jeden unbefangenen Leser sei klar, dass er Initiator der organisierten Kindersexpartys, der Sexsauna, des Folterkellers, der Kinderpornos und der im Bus transportierten Putzpartie gewesen sein müsse. Dadurch sei der Tatbestand der üblen Nachrede erfüllt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Berichterstattung sei im Wesentlichen ausgewogen. Es werde vom Freispruch des Hauptverdächtigen berichtet und davon, dass die Polizei nun die neuen Vorwürfe untersuche. Abschließend werde auf die Unschuldsvermutung hingewiesen.

Das Berufungsgericht hob diese Entscheidung auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.

Die Frage der Aktivlegitimation hätten die Parteien im Rechtsmittelverfahren nicht releviert. Im Übrigen genüge für die Aktivlegitimation nach § 1330 ABGB, wenn die Identifizierbarkeit nur für einige mit dem Betroffenen in Kontakt stehende Personen bestehe.

Entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts sei die Berichterstattung nicht neutral und ausgewogen. Schon zu Beginn des ersten Artikels setze der Artikelverfasser die Begründung für den Freispruch, nämlich den Mangel an Beweisen, unter Anführungszeichen. Damit werde suggeriert, dass es im seinerzeitigen Strafverfahren gegen den Kläger nicht an Beweisen gemangelt habe, sondern dass nur behauptet worden sei, es habe an Beweisen gefehlt. In diesem Zusammenhang habe die Verwendung der Anführungszeichen eine unterschwellige, aber auch vom Durchschnittsleser nicht ignorierbare distanzierende Wirkung. Durch den Artikel entstehe der Eindruck, auch der Artikelverfasser selbst habe Zweifel, ob es seinerzeit wirklich an den Beweisen gemangelt habe. Dass ein ehemaliger Heimzögling als „Zeuge“ bezeichnet werde, suggeriere beim unbefangenen Leser, es sei eine Aussage wiedergegeben worden, die unter Wahrheitspflicht abgelegt worden sei. Tatsächlich sei der Zeuge aber erst nach Erscheinen des Artikels von der Polizei einvernommen worden.

Auch die Verwendung der Begriffe „Opfer“ und „Täter“ ließen nicht auf eine ausreichende inhaltliche Distanzierung des Berichterstatters zum geäußerten Verdacht schließen. Durch die Formulierung, wonach „natürlich“ die Unschuldsvermutung gelte, werde zum Ausdruck gebracht, der Artikelverfasser komme „augenzwinkernd“ nur einer gesetzlichen Verpflichtung nach, sei aber selbst eher von der Schuld als von der Unschuld des Verdächtigten überzeugt.

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil Rechtsprechung zum konkreten Maßstab der „Wertneutralität“ bei der Wiedergabe eines von dritter Seite geäußerten Verdachts sowie zur allenfalls herabgeminderten Bedeutung der floskelhaften Erwähnung der Unschuldsvermutung fehle.

Rechtliche Beurteilung

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Der Rekurs ist entgegen dem - den Obersten Gerichtshof nicht bindenden - Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.

1. Voraussetzung der Aktivlegitimation zur Geltendmachung von Ansprüchen wegen Verletzung des § 1330 ABGB ist ein hinreichender Bezug des Äußerungsinhalts zu einer bestimmten Person, dem Betroffenen (RIS-Justiz RS0031766; 6 Ob 162/10d). Für die persönliche Betroffenheit des Einzelnen ist die Namensnennung nicht erforderlich. Es reicht aus, wenn die Identifizierbarkeit nur für einige mit dem Betroffenen im Kontakt stehende Personen besteht. Es kommt darauf an, wie das Publikum - zumindest ein nicht unbeträchtlicher Teil davon - die Äußerung auffasst und mit wem es den darin enthaltenen Vorwurf in Verbindung bringt (RIS-Justiz RS0031757, RS0067196). Dabei handelt es sich um eine Frage der Auslegung, die so sehr von den Umständen des einzelnen Falls abhängt, dass ihr regelmäßig keine darüber hinausgehende Bedeutung zukommt; sie bildet daher regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO (RIS-Justiz RS0031757; 6 Ob 162/10g).

2.1. Die Dispositionsmaxime ist ein tragender Grundsatz des Verfahrensrechts (Fasching in Fasching/Konecny 2 Einl II/1 Rz 6 ff; Zechner in Fasching/Konecny 2 § 503 ZPO Rz 140). Soweit die Dispositionsmaxime reicht, definiert sie auch den Gegenstand und den Umfang des Rechtsmittelverfahrens (Zechner aaO; Buchegger in ÖJZ 1983, 648). Daher entspricht es völlig herrschender Auffassung, dass das Berufungsgericht den Mangel der Sachlegitimation des Klägers aus spezifischen Gründen nicht ohne Einwendung wahrnehmen darf (Zechner aaO; 4 Ob 2154/96k). Soweit die mangelnde Aktivlegitimation sich daher nur aus zusätzlichen Sachverhaltselementen und nicht bereits aus dem im Rahmen der rechtlichen Beurteilung ohnedies umfassend zu würdigenden eigenen Vorbringen des Klägers ergibt, erfordert deren Wahrnehmung eine entsprechende Einwendung bereits in erster Instanz. Der erstmaligen Geltendmachung dieses Einwands in zweiter oder - wie hier - in dritter Instanz steht das Neuerungsverbot des § 482 ZPO entgegen.

2.2. Im Übrigen hat sich das Berufungsgericht entgegen der Rechtsansicht der beklagten Partei mit der Frage der Betroffenheit des Klägers ohnedies auch inhaltlich auseinandergesetzt und darauf verwiesen, dass für die Aktivlegitimation nach § 1330 ABGB ausreiche, wenn die Identifizierbarkeit nur für einige mit dem Betroffenen in Kontakt stehende Personen bestehe (4 Ob 224/04s). Im zweiten Artikel „Sexparties mit Heimkindern, weitere Opfer melden sich“ wurde ausdrücklich ausgeführt, dass sich das betroffene Heim in der Hietzinger Seuttergasse im 13. Bezirk befindet. Im ersten Artikel wird ein Zitat eines ehemaligen Heimzöglings wiedergegeben, wonach sich die Reinigungsfirma gleich neben dem Heim befindet. Wenn das Berufungsgericht hier bei der gebotenen Gesamtbetrachtung zu der Einschätzung gelangte, dass der Kläger als gewerberechtlicher Geschäftsführer eindeutig identifizierbar sei, ist darin keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung zu erblicken. Dass der Kläger keine organschaftliche Funktion in diesem Unternehmen bekleidet, spielt für die Identifizierbarkeit keine Rolle.

3.1. Der Oberste Gerichtshof hat sich zuletzt in den Entscheidungen 6 Ob 256/08b und 6 Ob 248/08a mit der Frage der Zulässigkeit der Berichterstattung über anhängige Strafverfahren und mit der dabei vorzunehmenden Interessenabwägung zwischen Meinungsäußerungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz befasst. Dabei hat er klargestellt, dass im heiklen, weil die Persönlichkeitsinteressen der Betroffenen besonders tangierenden Bereich der Berichterstattung im Zusammenhang mit Gerichtsverfahren der Gesetzgeber durch Einführung der (einfach gesetzlichen) Bestimmungen der §§ 7a ff MedienG eine Konkretisierung der grundrechtlichen Spannungslage zwischen Meinungsäußerungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz vorgenommen hat, deren Wertungen in die erforderliche Abwägung einzubringen sind (vgl auch RIS-Justiz RS0102056). Orientieren sich die Vorinstanzen an diesen Grundsätzen, so kommt der Frage, ob eine andere Beurteilung der festgestellten Äußerung in Betracht kommt, in der Regel keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu (RIS-Justiz RS0107768).

3.2. In der Entscheidung 6 Ob 256/08b hat der Oberste Gerichtshof auch bereits zur Bedeutung der ausdrücklichen Erwähnung der Unschuldsvermutung in der Berichterstattung Stellung genommen. Der Hinweis auf die Unschuldsvermutung stellt jedoch nur ein stets im Gesamtzusammenhang mit dem übrigen Inhalt der Berichterstattung zu beurteilendes Element dar. In der Auffassung des Berufungsgerichts, insgesamt liege keine neutrale und ausgewogene Wiedergabe und Berichterstattung vor, ist jedenfalls keine vom Obersten Gerichtshof im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung zu erblicken. Auch die Bedeutung der Frage, ob durch Beifügung des Wortes „natürlich“ im Rahmen des Hinweises auf die Unschuldsvermutung eine „augenzwinkernde“ (süffisant-ironische) Distanzierung von der Unschuldsvermutung zu erblicken ist, geht über den Einzelfall nicht hinaus, zumal diese Frage regelmäßig nur aufgrund einer Auslegung des gesamten Artikelinhalts erfolgen kann.

4. Damit bringt der Rekurs aber keine Rechtsfragen der in § 502 Abs 1 ZPO geforderten Bedeutung zur Darstellung, sodass der Rekurs spruchgemäß zurückzuweisen war.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO (RIS-Justiz RS0123222).

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