OGH 14Os72/11m

OGH14Os72/11m30.8.2011

Der Oberste Gerichtshof hat am 30. August 2011 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Steinbichler als Schriftführerin in der Strafsache gegen Sandor Z***** wegen des Verbrechens des Mordes nach §§ 15, 75 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom 4. März 2011, GZ 603 Hv 2/10k-167, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde werden das angefochtene Urteil sowie der gemeinsam mit dem Urteil gefasste Beschluss auf Absehen vom Widerruf bedingter Strafnachsicht, nicht aber der Wahrspruch der Geschworenen zu den Hauptfragen nach den Verbrechen des Mordes und der absichtlichen schweren Körperverletzung sowie nach dem Vergehen der Körperverletzung und zu den darauf bezogenen Zusatzfragen nach dem Rechtfertigungsgrund der Notwehr und dem Schuldausschließungsgrund der Zurechnungsunfähigkeit, aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Geschworenengericht beim Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde ebenso wie die Berufung der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf die Kassation des Strafausspruchs verwiesen.

Gründe:

Rechtliche Beurteilung

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Sandor Z***** aufgrund des Wahrspruchs der Geschworenen der Verbrechen des Mordes nach §§ 15, 75 StGB (I/1) und der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB (I/2) sowie des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (I/3) schuldig erkannt.

Danach hat er am 31. Dezember 2008 in Wien

(1) Peter K***** zu töten versucht, indem er ihn mit einem Messer mehrfach in die Brust und ins Gesicht stach;

(2) Heinz W***** eine schwere Körperverletzung, nämlich eine Durchtrennung des dreiköpfigen Oberarmmuskels mit einer starken Blutung aus einem Muskelgefäß und aus zwei Blutadern, absichtlich zugefügt, indem er ihn mit einem Messer in den linken Oberarm stach;

(3) Andreas P***** durch Schläge und Tritte gegen das Gesicht und den Oberkörper, wodurch der Genannte eine Prellung der Rippen und einen Bluterguss am Oberarm erlitt, vorsätzlich am Körper verletzt.

Der dagegen aus den Gründen der Z 5, 6 und 9 des § 345 Abs 1 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten kommt aus dem letztgenannten Nichtigkeitsgrund Berechtigung zu.

Entgegen der Verfahrensrüge (Z 5) wurden durch das ablehnende Zwischenerkenntnis (ON 166 S 41) über den in der Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Einholung eines Ergänzungsgutachtens, „erstens grundsätzlich zur Schuldfähigkeit bzw auch zur Überprüfung seiner intellektuellen Fähigkeiten, inwieweit er in der Lage ist, die Tragweite der Verhandlung und die an ihn gestellten Fragen zu verstehen und demgemäß zu antworten“ (ON 166 S 37), Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht geschmälert. Denn dem Antrag mangelt es zum ersten Beweisthema an der mit Blick auf § 127 Abs 3 erster Satz StPO gebotenen Darlegung, inwiefern das zur Frage der Zurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt bereits vorliegende schriftliche, in der Hauptverhandlung mündlich erörterte Gutachten der Sachverständigen Dr. Sigrun R***** (ON 124, ON 166 S 97 ff) mangelhaft sei. Das (gerade noch erkennbare) Beweisthema fehlender Verhandlungsfähigkeit betreffend enthielt er hinwieder keinerlei Hinweis auf im Verfahren hervorgekommene tatsächliche Umstände, die es einem Sachverständigen erlauben könnten, zu den für den rechtlichen Schluss auf Verhandlungsunfähigkeit erforderlichen Sachverhaltsannahmen zu gelangen, womit das Begehren auf eine im Hauptverfahren unzulässige Erkundungsbeweisführung gerichtet war (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 331, 347).

Da bei der Prüfung der Berechtigung eines Antrags stets von der Verfahrenslage im Zeitpunkt der Stellung des Antrags und den bei seiner Stellung vorgebrachten Gründen auszugehen ist, bleibt das ergänzende Beschwerdevorbringen außer Betracht (RIS-Justiz RS0099618), wobei der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen ist, dass weder die dort zitierten Passagen aus der Expertise der beigezogenen Sachverständigen noch die ins Treffen geführten „ständig wechselnden Verantwortungen“ des Angeklagten Zweifel an dessen Verhandlungsfähigkeit indizieren.

Die Fragenrüge (Z 6) kritisiert das Unterbleiben von Zusatzfragen nach Putativnotwehr.

Die begehrte Fragestellung setzt voraus, dass in der Hauptverhandlung entsprechende Tatsachen vorgebracht worden sind (§§ 313 und 314 StPO). Darunter ist nichts anderes zu verstehen als das Vorkommen einer erheblichen Tatsache, einer solchen also, die, wäre sie im schöffengerichtlichen Verfahren vorgekommen, bei sonstiger Nichtigkeit aus § 281 Abs 1 Z 5 zweiter Fall StPO erörterungsbedürftig gewesen wäre. Demgemäß bedarf es zur prozessordnungskonformen Darstellung einer Rüge aus Z 6 des konkreten Hinweises auf derartige Tatsachen und zwar samt Angabe der Fundstelle in den Akten (Ratz, WK-StPO § 345 Rz 23, 42 f; RIS-Justiz RS0124172).

Mit dem pauschalen Verweis auf die Aussage des Angeklagten (der sich übrigens niemals mit irriger Annahme einer Notwehrsituation verantwortet, sondern behauptet hatte, von mehreren Personen angegriffen, zu Boden geworfen, geschlagen und an einem Auge so verletzt worden zu sein, dass er nichts mehr sehen konnte, weshalb er sich gewehrt und blind mit seinem Messer in die Luft geschlagen habe; ON 151 S 13 ff, ON 166 S 7, 37) wird die Rüge diesen Anforderungen ebenso wenig gerecht wie mit der Bezugnahme auf den Inhalt des Schlussvortrags des Verteidigers, dessen Worten sich „der Angeklagte … angeschlossen“ habe (vgl dazu erneut Ratz, WK-StPO § 345 Rz 42; zuletzt 15 Os 30/06k).

Indem sie schließlich auf die Aussage des Zeugen Heinz W***** (wonach sich der Täter [gemeint der Angeklagte] drohend vor ihm aufstellte, nachdem er ihm - alarmiert durch einen Schrei vor dem Lokal - nachgegangen war; ON 15 S 11) sowie auf allgemeine, nicht auf den gegenständlichen Sachverhalt bezogene - in der Beschwerde zudem aus dem Zusammenhang gerissen und isoliert zitierte - Ausführungen der Sachverständigen Dr. R***** zur Persönlichkeit des Beschwerdeführers (ON 124 S 73 bis 77; vgl dagegen im Übrigen ON 124 S 107) rekurriert, spricht sie kein die begehrte Fragestellung nach gesicherter allgemeiner Lebenserfahrung ernsthaft indizierendes Verfahrensergebnis an (vgl erneut Ratz, WK-StPO § 345 Rz 23).

Insoweit war die Nichtigkeitsbeschwerde daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§§ 285d Abs 1, 344 StPO).

Zutreffend zeigt sie jedoch aus Z 9 auf, dass die Geschworenen zwar die zu den (bejahten) Hauptfragen 1, 2 und 3 gestellten Zusatzfragen nach dem Rechtfertigungsgrund der Notwehr (A, D und G) verneinten (Beilage A zu ON 166 S 4, 7 und 9; US 4, 7, 9 f), die gerade für den Fall der Verneinung dieser Zusatzfragen weiters gestellten Zusatzfragen nach Notwehrüberschreitung aus asthenischem Affekt (B, E und H) jedoch - entgegen der anderslautenden Rechtsbelehrung - unbeantwortet ließen (Beilage A zu ON 166 S 4, 7 und 9; US 4 f, 7 f, 10), womit die Antwort der Geschworenen auf die gestellten Fragen unvollständig geblieben ist.

Dies erfordert die Aufhebung des Urteils - mit Blick auf die stimmeneinhellige Verneinung der übrigen Zusatzfragen (vgl 14 Os 97/10m, 11 Os 61/07s) nicht aber des von der Nichtigkeit nicht betroffenen Wahrspruchs der Geschworenen (§ 349 Abs 2 StPO; vgl dazu auch 13 Os 51/07k, 11 Os 108/04) - samt des - von der Rechtskraft des Urteils abhängigen - nach § 494a Abs 1 Z 2 StPO gefassten Beschlusses (vgl RIS-Justiz RS0101886; zuletzt 13 Os 17/11a) bereits bei der nichtöffentlichen Beratung (§§ 285e, 344 StPO).

Im zweiten Rechtsgang wird der von der Aufhebung nicht betroffene Wahrspruch - also die Bejahung der Hauptfragen nach den Verbrechen des Mordes und der absichtlichen schweren Körperverletzung sowie nach dem Vergehen der Körperverletzung (Hauptfragen 1, 2 und 3) und zu den darauf bezogenen Zusatzfragen nach dem Rechtfertigungsgrund der Notwehr und dem Schuldausschließungsgrund der Zurechnungsunfähigkeit (Zusatzfragen A, C, D, F, G und J) - der Entscheidung mit zugrunde zu legen sein (§ 349 Abs 2 StPO).

Werden die Zusatzfragen nach Notwehrexzess aus asthenischem Affekt bejaht, sind jeweils die Eventualfragen nach den Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung (allenfalls unter besonders gefährlichen Verhältnissen) infolge fahrlässiger Notwehrüberschreitung (Eventualfragen III, V und VI) zu beantworten.

Mit seiner Berufung war der Angeklagte auf die Kassation des Strafausspruchs zu verweisen.

Die Berufung der Staatsanwaltschaft war hingegen als unzulässig gemäß § 296 Abs 2 iVm § 294 Abs 4 StPO zurückzuweisen, weil der Anmeldung des Rechtsmittels (unmittelbar nach Urteilsverkündung) keine Festlegung über die Richtung der Sanktionsanfechtung (zu Gunsten oder zum Nachteil des Angeklagten) zu entnehmen war und zufolge Zustellung des Aktes samt Urteilsausfertigung am 29. März 2011 (ON 1 unjournalisiert) die eine Erhöhung der Freiheitsstrafe anstrebende Berufungsausführung verspätet am 2. Mai 2011 (ON 174 sowie ON 1 unjournalisiert) eingebracht wurde (RIS-Justiz RS0100042, RS0099919, RS0100560; Ratz, WK-StPO § 295 Rz 7 und § 296 Rz 5).

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