Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revision selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger war vom 1. 2. 1992 bis 18. 4. 2007 bei der Gemeinschuldnerin K***** Inc beschäftigt, die mit Metall- und Börsenhandel befasst war. Er wurde von seiner Dienstgeberin nicht zur Sozialversicherung angemeldet. Die von ihm erbrachten Leistungen wurden auf Honorarbasis abgerechnet, wobei vom Kläger jeweils Honorarnoten ausgestellt wurden. Vom 1. 1. 1998 bis 31. 1. 2007 war er nach dem GSVG versichert. Ein schriftlicher Dienstvertrag wurde nicht abgeschlossen, ein Dienstzettel nicht ausgestellt. Lohnabrechnungen oder Urlaubs- und Krankenaufzeichnungen wurden ebenfalls nicht geführt. Nach dem Tod des Firmengründers erklärte dessen Witwe (am 18. 4. 2007) gegenüber dem Kläger, dass er im Unternehmen der (späteren) Gemeinschuldnerin nicht mehr erwünscht sei.
Mit Beschluss des Landesgerichts Korneuburg vom 4. 6. 2007 wurde über das Vermögen der Gemeinschuldnerin zu ***** das Konkursverfahren eröffnet. In diesem Verfahren meldete der Kläger seine Ansprüche mit 78.842 EUR (Pensionszusage 49.279 EUR; Abfertigung drei Monatsentgelte 11.394 EUR netto; Kündigungsentschädigung vom 19. 4. 2007 bis 30. 9. 2007 16.556 EUR netto; Zinsen 1.162 EUR; Kosten 451 EUR) an. Diese Forderungen wurden von der Masseverwalterin anerkannt. Mit Bescheid vom 19. 11. 2008 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung von Insolvenz-Entgelt ab.
Der Kläger begehrte die Zahlung von 78.842 EUR netto. Entgegen der Meinung der Beklagten liege ein reguläres Arbeitsverhältnis vor. Gegenüber der Dienstgeberin habe er wiederholt die Anmeldung bei der Wiener Gebietskrankenkasse urgiert. Auf eine solche Anmeldung komme es für die Gewährung von Insolvenz-Entgelt allerdings nicht an. Bei ordnungsgemäßer Kündigung hätte das Dienstverhältnis erst am 30. 9. 2007 enden können.
Die Beklagte entgegnete, dass der Kläger von der Dienstgeberin nie zur Sozialversicherung angemeldet worden sei. Gehaltsabrechnungen hätten nicht stattgefunden; die monatlichen Zahlungen an den Kläger seien in unterschiedlicher Höhe erfolgt. Nach den Behauptungen des Klägers im vorgelagerten Verwaltungsverfahren habe er im Jahr 1999 das behauptete Verlangen auf Anmeldung zur Sozialversicherung gegenüber der Dienstgeberin aufgegeben. Er habe sich aber während der gesamten langen Beschäftigungsdauer nie wirklich ernsthaft um die Anmeldung bemüht. Das Verhalten des Klägers halte einem Fremdvergleich daher nicht stand, weshalb ein Missbrauchsfall vorliege. Davon abgesehen stamme die Pensionszusage nicht von der Gemeinschuldnerin, sondern von der K***** GmbH.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es sei zwar von einem echten Arbeitsverhältnis des Klägers zur Gemeinschuldnerin auszugehen. Der Fremdvergleich schlage aber zu Lasten des Klägers aus, weil ein redlicher Arbeitnehmer in einer vergleichbaren Situation das Dienstverhältnis von sich aus aufgelöst oder die Anmeldung zur Sozialversicherung erforderlichenfalls durch Anzeige erwirkt hätte. Auf diese Weise habe er eine Schädigung Dritter, darunter auch der Beklagten, zumindest billigend in Kauf genommen. Das Anerkenntnis der Masseverwalterin binde weder die Beklagte noch das Sozialgericht.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Das Arbeitsverhältnis des Klägers zur Gemeinschuldnerin sei als atypisch zu beurteilen, weil er 16 Jahre lang als unselbständig Erwerbstätiger gearbeitet habe, ohne bei der Sozialversicherung angemeldet gewesen zu sein. Selbst wenn man von (erfolglosen) Versuchen ausginge, eine Anmeldung zur Sozialversicherung zu erwirken, halte die Vorgangsweise des Klägers einem Fremdvergleich nicht stand. Ein typischer Arbeitnehmer in der Situation des Klägers hätte die Vertragsgestaltung nicht über einen derart langen Zeitraum akzeptiert. Er habe auch annehmen müssen, dass es um die Finanzkraft der Dienstgeberin schlecht bestellt sein müsse, wenn sich diese nicht einmal die Beiträge zur Sozialversicherung leisten könne. Die Geltendmachung von Insolvenz-Entgelt erweise sich daher als sittenwidrig. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil ein vergleichbarer Fall vom Höchstgericht noch nicht entschieden worden sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass der Klage zur Gänze stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Mit ihrer Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte, die Revision der Gegenseite nicht zuzulassen, in eventu dieser den Erfolg zu versagen.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil zur Frage des Bestehens eines Leistungsausschlusses zufolge Sittenwidrigkeit bei Abschluss eines Scheinwerkvertrags in der vorliegenden Konstellation keine Rechtsprechung des Höchstgerichts vorliegt. Sie ist aber nicht berechtigt.
1. Die behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens liegt - wie der Oberste Gerichtshof geprüft hat - nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO). Behauptete Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens, die vom Berufungsgericht verneint wurden, können in dritter Instanz nicht mehr geltend gemacht werden (RIS-Justiz RS0106371; RS0042963). Die Pflicht nach § 182a ZPO kann nicht bezwecken, das Gericht zur Erörterung eines Vorbringens zu zwingen, dessen Mängel bereits der Prozessgegner aufgezeigt hat (vgl 3 Ob 207/10b).
2. Die Beklagte bestreitet in ihrer Revisionsbeantwortung die Eigenschaft des Klägers als „echter Arbeitnehmer im Sinn des Arbeitsrechts“. In dieser Hinsicht verweist sie lediglich pauschal auf einen Fremdvergleich „mit den anderen im Unternehmen der Gemeinschuldnerin tätigen Personen“, ohne diese Überlegungen zu substantiieren, sowie auf „das Nichterhalten von Sonderzahlungen“ als typische Gehaltsbestandteile. Mit Rücksicht auf die festgestellten Tätigkeiten des Klägers für die Gemeinschuldnerin und das durch die Handhabung der Vertragsbeziehung zum Ausdruck kommende Vertragsverständnis ist im Einklang mit den Vorinstanzen jedenfalls von einem Überwiegen der für das Vorliegen einer Arbeitnehmereigenschaft sprechenden Merkmale (vgl RIS-Justiz RS0021284; RS0021306) auszugehen.
So wie in der Entscheidung 8 ObS 204/00h stellt sich damit auch hier die Frage, inwieweit die durch den Abschluss eines Scheinwerkvertrags bewirkte Nichtabfuhr der Arbeitgeberbeiträge nach dem IESG einen Leistungsausschluss bewirken kann.
3.1 In der zitierten Entscheidung 8 ObS 204/00h wurde zunächst unter Hinweis auf die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben (RL 80/987/EWG , ABl 1980 L 283/23, seit Oktober 2008 neu kodifiziert durch die RL 2008/94/EG , ABl 2008 L 283/36) klargestellt, dass die Leistungspflicht nach dem IESG grundsätzlich nicht die richtige Bezeichnung und vorherige Anmeldung des versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses und damit die Entrichtung der IESG-Beiträge zur Voraussetzung hat. Bei als typisch vorausgesetzten Verhandlungspositionen mit nur geringen Einflussmöglichkeiten des Arbeitnehmers bei der Vertragsgestaltung und der Nachteiligkeit der Gestaltung für den Arbeitnehmer kann im Allgemeinen auch nicht von einer Sittenwidrigkeit iSd § 879 ABGB ausgegangen werden. In der Judikatur ist allerdings ebenso anerkannt, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine die Beitragsaufbringung beeinträchtigende Vertragsgestaltung die Geltendmachung von Insolvenz-Entgelt sittenwidrig machen kann. In diesem Sinn hat der Oberste Gerichtshof schon wiederholt ausgesprochen, dass „völlig atypisch gestaltete“ Arbeitsverhältnisse, die nicht auf die Erzielung von Entgelt für die Bestreitung des Lebensunterhalts gerichtet sind, auch nicht nach den Bestimmungen des IESG gesichert sind (RIS-Justiz RS0111281; 8 ObS 206/00b; 8 ObS 254/01p; vgl auch RIS-Justiz RS0110971).
3.2 Nach der bereits zitierten Entscheidung 8 ObS 204/00h ist ein Sittenwidrigkeitsurteil zudem dann gerechtfertigt, wenn eine atypische Verhandlungsposition vorlag und die Vertragsgestaltung vom Arbeitnehmer bewusst zu seinem eigenen Vorteil beeinflusst wurde. Wirken in einer solchen Situation Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen, so ist im Rahmen eines Fremdvergleichs von zumindest bedingtem Vorsatz der Schädigung des Insolvenz-Entgelt-Fonds auszugehen. Das Institut des sogenannten Fremdvergleichs ist dabei als relevantes verfahrensrechtliches Mittel für die Beurteilung der sicherungsschädlichen Übertragung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds anerkannt (8 ObS 206/00b).
3.3 Die Wertungen dieser Rechtsprechung sind unter Heranziehung des Grundsatzes „venire contra factum proprium“ (vgl 1 Ob 318/99t; 7 Ob 236/05i; auch 8 ObS 204/00h unter Hinweis auf Mader, Rechtsmissbrauch und unzulässige Rechtsausübung 110) weiterzuentwickeln und auf ähnliche Fälle einer atypischen Vertragsgestaltung zu erstrecken. Der beschriebenen Konstellation atypischer Verhandlungssituationen sind nach der Gewichtigkeit der Interessenbeeinträchtigung und den Wertungen der Rechtsgemeinschaft auch andere Fälle atypischer Gestaltung des Arbeitsverhältnisses gleichzuhalten, wenn der Arbeitnehmer nach dem Rechtsgefühl aller billig und gerecht denkenden Menschen zur Vermeidung einer Schädigung des Fonds gehalten ist, zumutbare Gegenmaßnahmen zu ergreifen und ein Verstoß zu einer bewussten Ausbeutung des Fonds führt. Dabei ist zu beachten, dass nach der jüngeren Judikatur des Obersten Gerichtshofs die zeitliche Komponente allein, also die Dauerhaftigkeit eines Zustands, für die Begründung eines Missbrauchsfalls noch nicht ausreicht. Werden aber bei ungewöhnlicher Vertragsgestaltung in einer einem Fremdvergleich nicht standhaltenden Weise effektive Maßnahmen zur Änderung der (hier) Ausbeutungssituation, gegebenenfalls auch die Androhung der Auflösung des Arbeitsverhältnisses, nicht ergriffen, so muss die bewusste Inkaufnahme einer Ausbeutung des Fonds und die dadurch bewirkte Überwälzung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds grundsätzlich ebenfalls als sittenwidrig angesehen werden.
3.4 Worin der besondere Nachteil des Klägers aus der unterbliebenen Anmeldung zur Sozialversicherung im Vergleich zur Situation der Klägerin im Designvertrags-Verfahren (8 ObS 204/00h) gelegen sein soll, wird in der Revision nicht schlüssig dargelegt. Die dortige Klägerin war - in Wirklichkeit als Arbeitnehmerin - auf Honorarbasis für die spätere Gemeinschuldnerin tätig und ebenfalls bei der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft versichert. Eine Gehaltsabrechnung erhielt sie nicht; sie reklamierte auch weder Weihnachts- noch Urlaubsgeld. Auf diese Weise berief sie sich 13 Jahre lang nicht auf ihre Arbeitnehmereigenschaft. So wie der Kläger ist auch sie des „sozialversicherungsrechtlichen Schutzes verlustig gegangen“. So wie er war auch sie nach dem GSVG versichert, sodass kein Zuschlag für den Fonds zu entrichten war. Entgegen den Überlegungen des Klägers kann auch im Vergleichsfall eine voraussehbare Insolvenzgefahr bereits bei Vertragsabschluss nicht unterstellt werden.
Das Vorliegen einer atypischen Vertragskonstruktion für die Dienstnehmertätigkeiten des Klägers ist nicht zweifelhaft. Er erbrachte die Leistungen auf Honorarbasis und war nach dem GSVG versichert. Es gab keine Lohnabrechnungen und Aufzeichnungen über Urlaube und Krankenstände; er erhielt keine Sonderzahlungen und Lohnfortzahlungen.
3.5 Im vorliegenden Fall ist maßgeblich, dass durch die atypische Vertragskonstruktion eine Ausnützungssituation zu Lasten des Fonds begründet wurde, obwohl eine Risikoteilnahme in Form der gesetzlich vorgesehenen Finanzierungsbeiträge unterblieben ist. Das Sittenwidrigkeitsurteil ist unter diesen Voraussetzungen grundsätzlich dann gerechtfertigt, wenn die Ausbeutungssituation vom zumindest bedingten Vorsatz getragen war und es der Arbeitnehmer zudem unterlassen hat, ihm zumutbare, effektive Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Nach seinem Vorbringen hat der Kläger die Anmeldung zur Sozialversicherung gegenüber seiner Dienstgeberin wiederholt verlangt. Ein typischer Arbeitnehmer hätte bei Erfolglosigkeit der mehrfachen ernstlichen und berechtigten Bestrebungen auf Anmeldung bei der Sozialversicherung das gesetzwidrige Verhalten des Arbeitgebers nicht auf Dauer hingenommen. Auf das Bestehen einer besonderen Drucksituation kann sich der Kläger nicht berufen. Gerade mit Rücksicht auf die behauptete Persönlichkeit des Geschäftsführers der späteren Gemeinschuldnerin, der „seine Macht hätte ausspielen und ein Abhängigkeitsverhältnis hätte schaffen wollen“, wäre der Kläger gehalten gewesen, auf die Aussichtslosigkeit der Durchsetzung seiner Forderungen in geeigneter Weise zu reagieren. Das Berufungsgericht hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, dass der Kläger bei Aufnahme seiner Tätigkeit für die Gemeinschuldnerin erst 21 Jahre alt war. Warum er keinen gleichwertigen Arbeitsplatz hätte finden können, ist nicht ersichtlich. Nach Maßgabe des anzustellenden Fremdvergleichs hat der Kläger somit in vorwerfbarer Weise die atypische Gestaltung des Arbeitsverhältnisses hingenommen, obwohl nicht die den rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechende Vorgangsweise eingehalten worden war. Er musste daher mit der Finanzierung von Entgeltforderungen durch den Fonds auch ernstlich rechnen, weshalb das Vertragsverhältnis vom bedingten Vorsatz getragen war, das Finanzierungsrisiko zumindest teilweise auf den Fonds zu übertragen.
Der Kläger hat schließlich auch keine Gegenmaßnahmen ergriffen. Schon das Berufungsgericht hat dazu festgehalten, dass der Kläger nicht einmal seinen Austritt aus dem Dienstverhältnis gegenüber seinem Dienstgeber angedroht hat. Dadurch hat sich der Kläger aber außerhalb der Gemeinschaft der Versicherten gestellt. Nicht ersichtlich ist, warum ihm nicht zumutbar gewesen sein soll, das Vertragsverhältnis zur späteren Gemeinschuldnerin nach dem Scheitern seiner behaupteten Aufforderungen zur Anmeldung bei der Sozialversicherung aufzulösen. Eine tragfähige Begründung wird vom Kläger dazu nicht angeführt, worauf schon das Berufungsgericht hingewiesen hat.
4. Zusammenfassend ergibt sich: Wird durch die ungewöhnliche Vertragsgestaltung zu einem Arbeitsverhältnis zu Lasten des Insolvenz-Entgelt-Fonds eine Ausbeutungssituation geschaffen und diese Situation vom Arbeitnehmer in einer einem Fremdvergleich nicht standhaltenden Weise (hier rund 15 Jahre) bewusst in Kauf genommen, so ist der Arbeitnehmer verpflichtet, geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Bei Unterbleiben solcher Maßnahmen ist die Überwälzung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds grundsätzlich als rechtsmissbräuchlich zu beurteilen.
Das Verhalten des Klägers hält einem Fremdvergleich nicht stand. Die Geltendmachung von Insolvenz-Entgelt erweist sich damit als sittenwidrig. Da die Entscheidung der Vorinstanzen mit der Rechtslage im Einklang steht, war der Revision der Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden weder behauptet noch haben sich dafür Anhaltspunkte ergeben.
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