OGH 15Os184/09m (15Os185/09h, 15Os186/09f)

OGH15Os184/09m (15Os185/09h, 15Os186/09f)17.3.2010

Der Oberste Gerichtshof hat am 17. März 2010 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schmucker als Vorsitzende sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Danek, Dr. T. Solé und Mag. Lendl sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Stuhl als Schriftführerin in der Strafsache gegen Daniela L***** und eine andere Angeklagte wegen des Vergehens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger Personen nach § 92 Abs 2 StGB, AZ 37 Hv 37/09i des Landesgerichts Innsbruck, über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Unterlassung der Rechtsmittelbelehrung, der schriftlichen Ausfertigung und der Zustellung einer Entscheidung des Landesgerichts Innsbruck vom 11. Mai 2009 über die Nichtgewährung des Entschlagungsrechts einer Zeugin, sowie gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Beschwerdegericht vom 26. August 2009, AZ 7 Bs 322/09z, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Text

G r ü n d e :

Mit - in Rechtskraft erwachsenem - Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Geschworenengericht vom 26. September 2008, GZ 731 Hv 2/08b-141, wurde Fritz D***** schuldig erkannt, das Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 und 3 dritter Fall StGB zum Nachteil des unmündigen Luca G***** verübt zu haben.

Weil das durch die Tat zu Tode gekommene Kind bereits früher Verletzungen durch Misshandlungen aufgewiesen hatte, wurden von den Staatsanwaltschaften Innsbruck und Korneuburg sowie von der Oberstaatsanwaltschaft Innsbruck Ermittlungsverfahren gegen verschiedene Personen, ua gegen die Kindesmutter Melanie G***** geführt.

Die Kindesmutter hatte seinerzeit von der Jugendwohlfahrt die Auflage erhalten, sich und ihr Kind von einer Stelle mit der Bezeichnung „K***** F***** W*****“ betreuen zu lassen. Als Betreuerin war Mag. Michaela Gr***** tätig gewesen (vgl ON 9, S 551). Diese wurde am 10. September 2008 von der Staatsanwaltschaft Innsbruck als Zeugin vernommen, wobei sie nach „erfolgten Belehrungen“ (ON 26, S 3: auch über das Aussageverweigerungsrecht gemäß § 157 Abs 1 Z 3 StPO) erklärte, auf das gemäß § 157 Abs 1 Z 1 StPO zuerkannte Entschlagungsrecht zu verzichten (ON 26, S 5).

Am 2. November 2008 wurde Mag. Gr***** von der Oberstaatsanwaltschaft Innsbruck „als Beschuldigte wegen § 92 StGB nacherfasst“ (ON 1, S 9 ff) und am 19. November 2008 als Beschuldigte vernommen, wobei sie sich nicht schuldig bekannte (ON 38). Das Ermittlungsverfahren gegen Mag. Michaela Gr***** wurde von der Staatsanwaltschaft Innsbruck am 4. März 2009 gemäß § 190 Z 2 StPO eingestellt, doch ist ein Fortführungsantrag eines Opfervertreters anhängig (vgl ON 71, S 3).

Zu 37 Hv 37/09i des Landesgerichts Innsbruck legte die Staatsanwaltschaft mit Strafantrag vom 2. März 2009, AZ 19 St 25/09m, der Beamtin der Bezirkshauptmannschaft S***** Daniela L***** und der Kindesmutter Melanie G***** das an Luca G***** begangene Vergehen des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger Personen nach § 92 Abs 2 StGB zur Last (ON 45).

In der Hauptverhandlung vom 11. Mai 2009 wurde die Zeugin Mag. Michaela Gr***** „über das Entschlagungsrecht bei Gefahr der Selbstbelastung“ belehrt, woraufhin sie erklärte, über Empfehlung ihres Rechtsvertreters von ihrem Entschlagungsrecht Gebrauch machen zu wollen. Darauf entgegnete der Einzelrichter, im Umfang ihrer bisherigen Aussagen stehe ihr kein Entschlagungsrecht zu, und verkündete „über Antrag der Verteidiger“ den Beschluss: „Der Zeugin wird kein Entschlagungsrecht wegen Gefahr der Selbstbelastung nach § 157 Abs 1 Z 1 StPO eingeräumt“ (ON 74, S 32).

Eine Protokollierung einer Begründung hiefür (§ 86 Abs 3 zweiter Satz StPO) erfolgte nicht, doch ergibt sich aus dem der Beschlussfassung vorangegangenen Wortwechsel zwischen Einzelrichter und Zeugin die Auffassung des Richters, im Umfang ihrer bisherigen Aussagen könne sich die Zeugin nicht mehr belasten (vgl auch ON 77). Eine Rechtsmittelbelehrung wurde nicht erteilt. Der Beschluss des Einzelrichters wurde nicht schriftlich ausgefertigt und auch nicht zugestellt.

An den Beschluss anschließend legte die Zeugin die Aussage ab (ON 74, S 33-48).

Gegen den ein Entschlagungsrecht versagenden Beschluss des Einzelrichters richtete sich die am 12. Mai 2009 erhobene Beschwerde der Zeugin, in der sie sich dagegegen wandte, ungeachtet ihrer Entschlagungserklärung zu einer Aussage verhalten worden zu sein. Sie beantragte die Feststellung, dass sie in ihrem Recht nach § 157 Abs 3 (gemeint offenbar: Abs 1 Z 3) StPO verletzt worden und die Verwertung dieser Aussage gegen sie - insbesondere bei der Entscheidung über den Fortführungsantrag - unzulässig sei (ON 71).

Das Oberlandesgericht Innsbruck als Beschwerdegericht wies mit Beschluss vom 26. August 2009, AZ 7 Bs 322/09z (ON 100), die Beschwerde im Wesentlichen mit der Begründung als unzulässig zurück, aus § 87 Abs 1 StPO könne ein Beschwerderecht nicht abgeleitet werden, weil ein selbständig nicht anfechtbares Zwischenerkenntnis gemäß § 238 StPO vorliege.

Mit nicht rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 25. Mai 2009 wurden Daniela L***** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung „durch Unterlassung“ nach § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB und Melanie G***** des Vergehens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger Personen nach § 92 Abs 2 StGB schuldig erkannt (ON 91).

Die Generalprokuratur erhebt betreffend die beschriebenen Vorgänge folgende Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes:

Die Unterlassung der Rechtsmittelbelehrung verstößt gegen das Gesetz in der Bestimmung des § 86 Abs 1 StPO, das Unterbleiben der schriftlichen Ausfertigung des in der Hauptverhandlung verkündeten Beschlusses des Landesgerichts Innsbruck vom 11. Mai 2009 und der Zustellung an die zur Beschwerde berechtigte Zeugin (§ 87 StPO) gegen jenes in der Bestimmung des § 86 Abs 2 erster Satz StPO sowie der Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 26. August 2009 gegen jenes in den Bestimmungen des § 87 Abs 1 StPO und des Art 13 MRK.

Es obliegt der Strafverfolgungsbehörde, den Beschuldigten zu überführen, ohne hiefür auf Beweismittel zurückzugreifen, die durch Zwangs- oder Druckmittel ohne den Willen des Beschuldigten erlangt werden (Grabenwarter, EMRK4 § 24 Rz 119; Höller, Schweigen des Beschuldigten, ZÖR 2001, 252; vgl Kirchbacher, WK-StPO § 245 Rz 45: „nemo-tenetur-Prinzip“). Auch eine unter bloß psychologischem Druck abgelegte Aussage ist gegen den Willen des Vernommenen und damit konventionswidrig zustande gekommen (RIS-Justiz RS0121259: Allan gegen das Vereinigte Königsreich).

Dieser unter dem Aspekt der Beschuldigtenrechte entwickelte Grundsatz gilt auch für den Zeugen in Selbstbelastungsgefahr. Demgemäß kann ein Zeuge, der ungeachtet des ihm zustehenden Aussageverweigerungsrechts zu einer selbstinkriminierenden Deposition verhalten wird, in seinem aus Art 6 MRK und Art 90 Abs 2 B-VG abgeleiteten Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, beeinträchtigt werden (Fabrizy, StPO10 § 157 Rz 2; Kirchbacher aaO § 157 Rz 2, § 246 Rz 67; Mayer, B-VG4 Art 90 Anm III: „verfassungsrechtliches Verbot eines Zwangs zur Selbstbezichtigung“).

Das Recht des Zeugen auf Aussageverweigerung (§ 157 StPO) ist ein Recht höchstpersönlicher Natur und unterliegt nicht der Disposition anderer (RIS-Justiz RS0105932). Es ist ein subjektives Recht im Sinne des § 106 Abs 1 Z 1 StPO. Dem Zeugen steht daher im Ermittlungsverfahren der Einspruch wegen Rechtsverletzung zu (vgl Kirchbacher, WK-StPO § 159 Rz 29).

Wenn die Gerichte nicht Urteile fällen (§ 35 Abs 1 StPO), entscheiden sie gemäß § 35 Abs 2 StPO mit Beschluss (§ 86 StPO), soweit sie nicht bloß eine auf den Fortgang des Verfahrens oder die Bekanntmachung einer gerichtlichen Entscheidung gerichtete Verfügung erlassen.

Unter einer Verfügung ist eine meist von einem Einzelrichter getroffene Entscheidung von gewöhnlich geringerer Bedeutung für die Sacherledigung zu verstehen (vgl Harbich, RZ 1977, 142).

Der Bedeutungsgehalt einer Entscheidung über ein Zeugnisverweigerungsrecht (vgl RIS-Justiz RS0111315) geht wegen des - erwähnten - Eingriffs in ein verfassungsrechtlich geschütztes subjektives Recht über jenen einer Verfügung im Sinn des ersten Ausnahmefalls des § 35 Abs 2 StPO weit hinaus, sind Gegenstand dieser Ausnahme doch nur solche Verfügungen, die ausschließlich (arg § 35 Abs 2 StPO: „bloß“) auf den Fortgang des Verfahrens gerichtet sind, wie etwa die An- und Abberaumung der Hauptverhandlung oder Ladungen (vgl St. Seiler, Strafprozessrecht10 Rz 298).

Auch aus der Rechtsmittelbefugnis von betroffenen Dritten (§ 87 Abs 1 StPO) lässt sich ableiten, dass solche gerichtlichen Entscheidungen, die Rechte Dritter berühren, nicht nur den Verfahrensfortgang betreffen und als Beschlüsse daher anfechtbar sein müssen, würde doch sonst den Dritten der für sie vom Gesetzgeber geschaffene Rechtsschutz verweigert werden.

In das subjektive Recht des Zeugen auf Aussageverweigerung wird bereits mit der Ablehnung der Gewährung dieses Rechts und nicht erst mit dem Einsatz eines Beugemittels (§ 93 Abs 2 und 4 StPO) zur Durchsetzung der Zeugnispflicht (§ 154 Abs 2 StPO) eingegriffen. Der Einzelrichter hat daher vorliegend rechtsrichtig in Form eines Beschlusses über die Zeugnispflicht abgesprochen.

Im Übrigen sieht die Zivilprozessordnung in ihrem § 324 ausdrücklich die Entscheidung mittels Beschlusses über die Rechtmäßigkeit einer Aussageverweigerung vor.

Durch die generelle Regel des § 87 StPO sind grundsätzlich alle erstinstanzlichen Beschlüsse anfechtbar. Ein Beschwerdeausschluss, der im Hinblick auf Art 13 MRK und auch verfassungsrechtlich bedenklich sein kann, muss ausdrücklich geregelt sein. Dies ist im Vergleich zur Rechtslage vor Inkrafttreten des Strafprozessreformgesetzes eine ganz wesentliche Neuerung (Tipold aaO Rz 5).

Das nunmehr generelle Recht, Beschwerde an ein Rechtsmittelgericht (vgl § 87 Abs 1 StPO) zu erheben, ersetzt die kasuistischen, schwer überschaubaren Einzelregelungen der StPO in der vor Inkrafttreten des Strafprozessreformgesetzes geltenden Fassung (Tipold aaO Rz 2; vgl Kirnbauer, WK-StPO Synoptische Gegenüberstellung § 87).

Vor Inkrafttreten des Strafprozessreformgesetzes war im Gerichtshofverfahren die Beschwerde nur zulässig, soweit sie das Gesetz ausdrücklich einräumte (SSt 50/60), Defizite im Grundrechtsschutz Dritter - vor allem im Hauptverfahren - wurden wiederholt aufgezeigt und eine auf solcherart Betroffene erweiterte Beschwerdemöglichkeit eingefordert (Ratz in der Steininger-Festschrift, 135).

Im bezirksgerichtlichen Verfahren hingegen stand schon nach der früheren Rechtslage jedermann die Beschwerde zu, der sich durch einen Beschluss beschwert erachtete (vgl Fabrizy, StPO9 § 481 Rz 1).

Nunmehr steht gemäß § 87 Abs 1 StPO neben der Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten - dem Prinzip der Beschwer folgend (RIS-Justiz RS0125078) - jeder anderen Person, der durch den Beschluss unmittelbar Rechte verweigert werden oder Pflichten entstehen oder die von einem Zwangsmittel betroffen ist, die Beschwerde an das Rechtsmittelgericht zu.

Dieser Regelungsteil des § 87 Abs 1 StPO bezieht sich - der Gesetzessystematik folgend - auf das gesamte Strafverfahren.

Auch ein Zeuge, der im Hauptverfahren unter Missachtung einer der Aussagebefreiungsgründe der §§ 155 bis 157 StPO zu einer Aussage veranlasst wird, ist eine Person, der unmittelbar Rechte verweigert werden und der Pflichten entstehen.

Beim vorliegenden Beschluss handelt es sich nicht um ein Zwischenerkenntnis iSd § 238 StPO, weil der Einzelrichter nicht über Beweisanträge zu entscheiden hatte (§ 238 Abs 1 StPO) und keiner der Fälle des § 238 Abs 2 StPO gegeben war, zumal - nach dem vollen Beweis machenden Verhandlungsprotokoll - kein Antrag eines Verfahrensbeteiligten auf eine bestimmte Sachentscheidung vorlag. Auch die zu § 238 StPO aF ergangene Rechtsprechung, wonach „in strittigen Fällen“ über das Vorliegen eines Zeugnisentschlagungsgrundes ein Zwischenerkenntnis iSd § 238 StPO zu fällen sei (RIS-Justiz RS0097673; Fabrizy, StPO10 § 238 Rz 3), bezog sich auf widerstreitende Parteienanträge.

Im Übrigen gilt - unter der Prämisse eines solchen Zwischenerkenntnisses - der im § 238 StPO enthaltene Rechtsmittelausschluss nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 238 Abs 3 letzter Satz StPO nur für die im § 220 StPO taxativ aufgezählten (vgl Fabrizy, StPO10 § 220 Rz 1) „Beteiligten“ des Hauptverfahrens, also - der Ansicht des Oberlandesgerichts Innsbruck zuwider - nicht etwa auch für andere Personen. Dies ergibt sich auch daraus, dass nur ein „selbständiges Rechtsmittel“ ausgeschlossen wird, jedoch die Geltendmachung eines dem Zwischenerkenntnis anhaftenden Verfahrensfehlers den gegen das Urteil rechtsmittelbefugten Beteiligten im Nichtigkeitsverfahren offen steht (vgl Tipold, WK-StPO § 85 Rz 6). Der Zeuge wäre hingegen im Falle des ihn betreffenden Rechtsmittelausschlusses bar jeden Schutzes seiner Rechtssphäre.

Der Beschluss wurde den Beteiligten und der Zeugin durch mündliche Verkündung bekannt gemacht (§ 81 Abs 1 erster Fall StPO). Die - nicht aufschiebende (§ 87 Abs 3 StPO) - Beschwerde stand der Zeugin gemäß § 87 Abs 1 StPO zu und wurde schon am Tag nach der Verkündung des Beschlusses, somit rechtzeitig erhoben, wird doch die Rechtsmittelfrist grundsätzlich durch die Eröffnung des Beschlusses ausgelöst (RIS-Justiz RS0096200; Fabrizy, StPO10 § 81 Rz 3).

Beschlüsse des Einzelrichters sind gemäß § 33 Abs 1 Z 1 StPO mit Beschwerde an das Oberlandesgericht anfechtbar (RIS-Justiz RS0124936). § 33 Abs 1 Z 1 StPO ist insoweit lückenhaft, als darin ausdrücklich nur Entscheidungen des Landesgerichts als Einzelrichter nach § 31 Abs 1 und 4 StPO genannt werden. Gegen jeden nicht als Rechtsmittelgericht (§ 31 Abs 5 Z 1 StPO) oder nach § 38 StPO gefassten Beschluss (§ 35 Abs 2 StPO) des Landesgerichts ist eine Beschwerde an das Oberlandesgericht als Rechtsmittelgericht zulässig (13 Os 56/09y).

Das Oberlandesgericht hätte daher die Beschwerde nicht als unzulässig zurückweisen dürfen.

Dadurch, dass der Zeugin Mag. Gr***** vom Oberlandesgericht Innsbruck eine Sachentscheidung versagt wurde, wurde sie überdies in ihrem von Art 13 MRK garantierten Recht auf wirksame Beschwerde verletzt.

Gemäß Art 13 MRK hat jedermann, der eine Verletzung seiner durch die Konvention geschützten Rechte behauptet, das Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz (Grabenwarter, EMRK4 § 24 Rz 161). Die Verknüpfung der Garantie der wirksamen Beschwerde mit der Verletzung eines Konventionsrechts führt zur Akzessorietät der Gewährleistung (ders aaO Rz 162, 165). Art 13 MRK muss dahingehend interpretiert werden, dass jedem, der mit einer gewissen Plausibilität darlegt, in einem Konventionsrecht verletzt zu sein, die Berufung auf das Recht einer wirksamen Beschwerde zustehen muss (ders aaO Rz 171).

Vorliegend stützte sich die Beschwerdeführerin auf die nachvollziehbare Behauptung, sie sei durch gerichtliche Beschlussfassung über die Versagung eines ihr zustehenden Entschlagungsgrundes, sohin durch Druck (vgl § 154 Abs 2 iVm § 93 Abs 2 zweiter Satz StPO), zu einer Aussage verhalten, somit in ihrem von Art 6 MRK garantierten Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, verletzt worden. Damit erfüllt sie genau die von Art 13 MRK verlangte Voraussetzung, das Recht auf wirksame Beschwerde einzufordern.

Die nationale Instanz hat sich mit dem Beschwerdevorbringen inhaltlich zu befassen und muss in der Lage sein, geeignete Abhilfe zu schaffen (Mayer, B-VG4 Art 13 MRK Anm II 1; Grabenwarter, EMRK4 § 24 Rz 175).

Nur durch das Beschwerdeverfahren kann in zweifelhaften Fällen geklärt werden, ob die Aussage des Zeugen in Selbstbelastungsgefahr in einem späteren Strafverfahren gegen ihn selbst (hier: bei Fortführung des Verfahrens denkbar) verwendet werden darf oder nicht (vgl Kirchbacher, WK-StPO § 159 Rz 26).

Schon das Erstgericht hat insofern gegen das Gesetz verstoßen, als es anlässlich der mündlichen Verkündung die einen Beschlussteil bildende Rechtsmittelbelehrung (RIS-Justiz RS0123942) nicht erteilte und seiner im ersten Satz des § 86 Abs 2 StPO normierten Verpflichtung, den Beschluss schriftlich auszufertigen und der zur Beschwerde berechtigten Zeugin (§ 87 StPO) zuzustellen, nicht nachgekommen ist. Ein diese Verpflichtung aufhebender Beschwerdeverzicht (§ 86 Abs 3 erster Satz StPO) wurde nicht abgegeben.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 35 Abs 2 StPO entscheiden die Gerichte mit Beschluss, soweit sie nicht bloß eine auf den Fortgang des Verfahrens oder die Bekanntmachung einer gerichtlichen Entscheidung gerichtete Verfügung erlassen. In der Hauptverhandlung entscheidet das Schöffengericht überdies immer dann mit Beschluss (also auch hinsichtlich bloß den Fortgang des Verfahrens betreffender Umstände), wenn darüber widerstreitende Anträge der Beteiligten vorliegen oder der Vorsitzende einem unbestrittenen Antrag eines Beteiligten nicht Folge zu geben gedenkt (§ 238 Abs 2 StPO).

Über die Befreiung eines Zeugen von der Aussagepflicht oder sein Recht auf Verweigerung der gesamten oder eines Teils der Aussage hat der Vorsitzende den Zeugen nach dem klaren Wortlaut des § 159 Abs 1 StPO (lediglich) zu „informieren“. Demnach stellt die dieser Information zugrunde liegende richterliche Disposition bloß eine auf den Fortgang des Verfahrens gerichtete Verfügung dar. Dies gilt vergleichsweise auch für die Zulassung oder Nichtzulassung von Fragen an Zeugen (§ 249 StPO), für die Gestattung oder Nichtgestattung der Wahrung der Anonymität des Zeugen (§ 162 StPO), für die Vernehmung eines Zeugen in Abwesenheit des Angeklagten (§ 250 Abs 1 StPO), oder die Verlesung von Aussagen des sich unberechtigt der Aussage entschlagenden Zeugen (§ 252 Abs 1 Z 3 StPO), ja sogar für Maßnahmen der Sitzungspolizei (St. Seiler, Strafprozessrecht10 Rz 298; Tipold, WK-StPO § 85 Rz 9). Eine formelle Beschlussfassung sieht das Gesetz in all diesen Fällen nur dann vor, wenn zu dieser Frage ein Antrag eines Beteiligten gestellt wird (§ 238 Abs 2 StPO).

Dass das Gericht im (konsequenterweise dann wohl: jedem) Fall einer Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung mit (von den Fällen des § 86 Abs 3 erster Satz StPO abgesehen jeweils begründet auszufertigendem, zuzustellendem und vom Zeugen mit Beschwerde anfechtbarem) Beschluss darüber zu entscheiden habe, ob dem Zeugen ein Entschlagungsrecht zukommt oder nicht, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen.

Den Bestimmungen über die Hauptverhandlung vorangestellt definiert die Prozessordnung in § 220 StPO, wem in der Hauptverhandlung die Rolle eines „Beteiligten“, also eines an der Strafsache Mitwirkenden oder von ihr Betroffenen zukommt und gibt in Zusammenhang mit § 238 StPO klar zu erkennen, dass selbst diese Personen nur in eingeschränktem Maß - jeweils abhängig vom Urteil - sie beschwerende Zwischenentscheidungen bekämpfen können. Dass in diesem Sinn „Unbeteiligten“ weitergehende - uU in die Hauptsache eingreifende, verfahrensverzögernde und die Rechte der Beteiligten tangierende - Rechtsmittelmöglichkeiten zukommen sollten, entspricht somit nicht dem Willen des Gesetzgebers. Das Fehlen einer Anfechtungsmöglichkeit für Dritte ergibt sich auch bereits aus dem in § 238 Abs 3 letzter Satz StPO enthaltenen ausdrücklichen Verweis auf § 86 Abs 3 StPO, wonach - entgegen der allgemeinen Regelung des § 86 Abs 2 StPO - bei solchen in der Hauptverhandlung verkündeten Beschlüssen bereits deren Ausfertigung und Zustellung zu unterbleiben haben. Denn gäbe es ein Beschwerderecht Dritter gegen Beschlüsse iSd § 238 Abs 3 StPO, hätte § 86 Abs 3 letzter Fall StPO keinen Anwendungsbereich. Für Zeugen kann auch aus der (ungeachtet § 87 StPO vom Gesetzgeber mittels Neuregelung [BGBl I 2007/93] geschaffenen) expliziten Ausnahmeregelung des § 243 Abs 1 StPO geschlossen werden, dass ihnen in allen anderen Belangen in der Hauptverhandlung kein Beschwerderecht zusteht.

Ein Beschwerderecht eines Zeugen gegen eine Beweisaufnahme hätte überdies im Schöffenverfahren die systemwidrige Konsequenz, dass deren Rechtmäßigkeit zum einen vom Oberlandesgericht im Beschwerdeverfahren, zum anderen aber auch vom Obersten Gerichtshof im Rahmen einer parallelen Anfechtung auch durch einen Beteiligten im Wege des § 281 Abs 1 Z 4 StPO zu prüfen wäre, und beide Rechtsmittelgerichte zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen könnten, zumal im Beschwerdeverfahren - anders als im Nichtigkeitsverfahren - kein Neuerungsverbot besteht.

Art 13 EMRK kann nicht dahin interpretiert werden, dass die Menschenrechtskonvention ein Rechtsmittel zur Bekämpfung des nationalen Rechts verlangen würde (RIS-Justiz RS0121757); das Grundrecht auf Rechtsmittel in Strafsachen wiederum steht gemäß Art 2 7. ZPMRK nur in Bezug auf Verurteilungen wegen strafbarer Handlungen zu. Grundrechtsschutz Dritter kann im gegebenen Zusammenhang demnach nur - aber immerhin - über Antrag und Nichtigkeitsbeschwerde eines Beteiligten (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 357) oder eine Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes sichergestellt werden.

Der - § 15 StPO vernachlässigenden - Argumentation der Wahrungsbeschwerde (zur behaupteten Notwendigkeit eines Beschwerdeverfahrens) zuwider ist die Frage, ob eine Zeugenaussage in ein danach gegen den Zeugen selbst geführtes Verfahren durch Verlesung eingebracht werden darf oder nicht, in letzterem autonom zu prüfen und nicht von der (in welcher Instanz auch immer ergangenen) Entscheidung über das Entschlagungsrecht im ursprünglichen Verfahren abhängig.

Richterliche Dispositionen über die Gewährung oder Nichtgewährung des Entschlagungsrechts eines Zeugen in der Hauptverhandlung haben daher auch seit Inkrafttreten des Strafprozessreformgesetzes und des Strafprozessreformbegleitgesetzes I grundsätzlich nicht in Beschlussform zu ergehen. Nur über Antrag eines Beteiligten (wie hier: beider Angeklagter durch ihre Verteidiger, die erkennbar wie die Zeugin die Einräumung des Entschlagungsrechts begehrten; ON 74, S 32) erfolgt darüber eine formelle Beschlussfassung gemäß § 238 StPO. Im einen wie im anderen Fall hat die Entscheidung über das Entschlagungsrecht jedoch keine Rechtsbelehrung zu enthalten und ist weder auszufertigen noch zuzustellen. Ein abgesondertes Rechtsmittel des Zeugen dagegen ist ebenfalls nicht zulässig (in diesem Sinn bereits Hinterhofer, Zeugenschutz und Zeugnisverweigerungsrechte [2004], 205, 301 f).

Die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes war daher zu verwerfen.

Dass eine Protokollierung der Gründe für den aufgrund Beteiligtenantrags verkündeten Beschluss im konkreten Fall unterblieb, wurde von der Generalprokuratur nicht als Gesetzesverletzung (§ 86 Abs 3 zweiter Satz StPO; s Danek, WK-StPO § 271 Rz 19) gerügt. Amtswegiges Vorgehen des Obersten Gerichtshofs anlässlich einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes kommt in Bezug auf einen von dieser nicht angefochtenen Vorgang nicht in Betracht (vgl RIS-Justiz RS0121618).

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte