OGH 10Ob43/09k

OGH10Ob43/09k29.9.2009

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Simon-Marvin S*****, geboren am 31. Juli 1993, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie-Rechtsvertretung für den 2. und 20. Bezirk, Meldemannstraße 12-14, 1200 Wien), über den Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 23. April 2009, GZ 45 R 131/09m-U45, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom 10. Juni 2008, GZ 44 P 35/08x-U12, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Der Vater hat die Kosten seiner Revisionsrekursbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Begründung

Der Antragsteller und seine Eltern sind deutsche Staatsbürger. Die Mutter lebt mit dem Antragsteller in Österreich; der Vater wohnt in Deutschland und bezieht dort eine Unfallrente sowie Arbeitslosengeld. Mit einstweiliger Verfügung des Erstgerichts vom 16. 4. 2008, ON U2, wurde der Vater zu einer vorläufigen monatlichen Unterhaltsleistung von 105,40 EUR an den Antragsteller verpflichtet.

Mit Beschluss vom 10. 6. 2008, ON U12, bewilligte das Erstgericht dem Antragsteller monatliche Unterhaltsvorschüsse gemäß § 4 Z 5 UVG in der Höhe von 105,40 EUR für die Zeit vom 1. 6. 2008 bis 31. 12. 2008. Es begründete seine Entscheidung damit, dass der Unterhaltsschuldner trotz rechtswirksamer Zustellung der einstweiligen Verfügung am 6. 5. 2008 den vorläufigen Unterhalt innerhalb eines Monats ab Zustellung der einstweiligen Verfügung an den Minderjährigen nicht zur Gänze geleistet habe. Der Antragsteller habe daher Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse gemäß § 4 Z 5 UVG in der Höhe der einstweiligen Verfügung.

Das Rekursgericht hob diesen Beschluss unter Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs gegen den Aufhebungsbeschluss zulässig sei. Es verwies auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats des Obersten Gerichtshofs in vergleichbaren Fällen. Danach würde die Mutter des Antragstellers, wenn sie seit dem Zeitpunkt der gegenständlichen Antragstellung in Österreich als Arbeitnehmerin unselbständig oder als Selbständige erwerbstätig oder als arbeitslose Arbeitnehmerin sozialversichert wäre, nach den Kollissionsnormen der VO 1408/71 allein österreichischem Recht unterliegen. Ausgehend davon hätte der Antragsteller einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach dem österreichischem UVG. Daran würde sich selbst dann nichts ändern, wenn der Vater ebenfalls als Arbeitnehmer im Sinne der VO 1408/71 anzusehen wäre, weil im Falle eines Zusammentreffens von Ansprüchen aus mehreren Mitgliedstaaten der Anspruch im Wohnsitzstaat des Antragstellers vorgehen würde. Das Verfahren erweise sich somit insoweit als ergänzungsbedürftig, als das Erstgericht nicht festgestellt habe, ob die Mutter des Antragstellers seit dem Zeitpunkt der gegenständlichen Antragstellung in Österreich als Arbeitnehmerin unselbständig oder als Selbständige erwerbstätig oder als arbeitslose Arbeitnehmerin sozialversichert gewesen sei. Den Revisionsrekurs gegen seinen Aufhebungsbeschluss erklärte das Rekursgericht für zulässig, weil - soweit überblickbar - für Fälle, in denen die Eltern und der bereits über 12 Jahre alte Antragsteller (Unterhaltsvorschuss gebühre in Deutschland nur bis zum 12. Lebensjahr des Kindes) deutsche Staatsbürger seien und der Unterhaltsschuldner als Arbeitnehmer/Selbständiger in Deutschland tätig sei, bisher keine einheitliche Rechtsprechung vorliege. Gegen den Aufhebungsbeschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Minderjährigen mit dem Antrag, „der Oberste Gerichtshof möge im Sinne der Ausführungen des Rekursgerichts zur Zulässigkeit des Revisionsrekurses die Rechtsfrage klären, damit eine einheitliche Rechtsprechung vorliege".

Der Vater beantragt in seiner Revisionsrekursbeantwortung, dem Revisionsrekurs keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist im Hinblick auf die mittlerweile vorliegende, einheitliche Rechtsprechung des erkennenden Senats nicht zulässig. Der erkennende Senat, der nach der Geschäftsverteilung des Obersten Gerichtshofs seit 1. 1. 2008 als Fachsenat für Rechtssachen nach dem UVG (ausschließlich) zuständig ist, ist jüngst in mehreren Fällen (vgl RIS-Justiz RS0124515) von der in den Entscheidungen 4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g (vgl RIS-Justiz RS0122131) vertretenen Ansicht abgegangen, dass der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinne der Wanderarbeitnehmerverordnung 1408/71 daran anknüpfe, in welches System der sozialen Sicherheit der Geldunterhaltsschuldner eingebunden sei.

Die Rückkehr zur früheren Rechtsprechung (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77;

9 Ob 157/02g = RIS-Justiz RS0115509 [T3] ua) wurde in den

Entscheidungen 10 Ob 75/08i, 10 Ob 78/08f, 10 Ob 83/08s und 10 Ob 87/08d (= iFamZ 2009/102, 144 [Neumayr]) jeweils vom 27. 1. 2009, ausführlich begründet und kann folgendermaßen zusammengefasst werden:

1. Für die Anspruchsberechtigung nach der Wanderarbeitnehmer-VO 1408/71 (im Folgenden: „VO") ist neben der Familienangehörigen-Eigenschaft in erster Linie entscheidend, ob ein Elternteil des anspruchsberechtigten Kindes in eine - in Bezug auf Familienleistungen - von der VO erfasste Gruppe (tätige oder arbeitslose Arbeitnehmer, Selbständige) fällt.

2. Der weiters als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu fordernde gemeinschaftliche, grenzüberschreitende Bezug setzt voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände können in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen gesehen werden.

Im vorliegenden Fall besteht der grenzüberschreitende Gesichtspunkt darin, dass die Mutter und der Antragsteller, die beide deutsche Staatsbürger sind, nach Österreich übersiedelt sind und hier nunmehr ihren Wohnsitz haben.

3. Schließlich ist zu prüfen, ob auf den Antragsteller nach den Koordinierungsregeln der VO das österreichische Unterhaltsvorschussgesetz oder (im Hinblick auf den Wohnort des Geldunterhaltsschuldners in Deutschland) das deutsche Unterhaltsvorschussgesetz anzuwenden ist.

3.1. Abgesehen von hier nicht relevanten Ausnahmen unterliegen Personen, für die die VO gilt, den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats (Art 13 Abs 1 der VO); dieser ist nach Titel II der VO zu bestimmen. Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staats (Beschäftigungslandprinzip, Art 13 Abs 2 lit a der VO).

3.2. Grundsätzlich ist das Recht des Mitgliedstaats anwendbar, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, der die Anwendung der VO begründet. Eine Einschränkung der Anknüpfung ausschließlich an die Stellung des Geldunterhaltsschuldners ist den Koordinierungsregelungen der VO nicht zu entnehmen. Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften des Mitgliedstaats gewährt, in dem derjenige Arbeitnehmer bzw Selbständige beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen vermittelt wird.

3.3. Daraus ist zu folgern, dass auch dann, wenn der geldunterhaltspflichtige Elternteil den Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse nach dem Recht seines Beschäftigungsstaats vermittelt, nicht ausgeschlossen ist, dass auch ein Anspruch auf Vorschüsse in einem anderen Mitgliedstaat durch den betreuenden Elternteil vermittelt wird. Für den Fall, dass für ein und dasselbe Kind in mehreren Mitgliedstaaten Anspruch auf Familienleistungen besteht, ist für Familienleistungen, die - wie der österreichische Unterhaltsvorschuss - nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit abhängig sind, die Prioritätenregel des Art 10 der Durchführungs-VO 574/72 maßgebend. Es ist dabei im vorliegenden Fall die Prioritätsregelung des Art 10 Abs 1 lit b sublit i der VO 574/72 heranzuziehen: Unterliegen die Eltern gemäß Art 13 ff VO 1408/71 den Rechtsvorschriften verschiedener Staaten, so ist demnach für die Familienleistungen vorrangig der Wohnsitzstaat, in welchem sich die Familie mit dem Kind ständig aufhält, zuständig, während im anderen, nachrangig zuständigen Staat Ausgleichszahlungen gebühren, wenn die Familienleistungen des vorrangig zuständigen Staats niedriger sind.

Im vorliegenden Fall hätte daher der Antragsteller im Sinne der Rechtsprechung des erkennenden Senats einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach dem österreichischen UVG, wenn seine Mutter - was noch zu prüfen sein wird - seit dem Zeitpunkt der gegenständlichen Antragstellung in Österreich als Arbeitnehmerin unselbständig oder als Selbständige erwerbstätig oder als arbeitslose Arbeitnehmerin sozialversichert war. In diesem Fall wäre Österreich auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Vater des Antragstellers in Deutschland Arbeitslosengeld bezieht, als Wohnsitzstaat für die Gewährung des Unterhaltsvorschusses vorrangig zuständig. Die Frage, ob der Antragsteller auch in Deutschland Anspruch auf Unterhaltsvorschuss hätte, müsste daher in diesem Fall nicht geprüft werden (vgl in diesem Sinne bereits 9 Ob 157/02g). Die dem Aufhebungsbeschluss des Rekursgerichts zugrundeliegende Rechtsansicht steht somit im Einklang mit der gefestigten Rechtsprechung des erkennenden Senats in vergleichbaren Fällen (10 Ob 33/09i; 10 Ob 23/09v; 10 Ob 13/09w ua). Da auch in den Rechtsmittelausführungen keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG geltend gemacht wird, war der Revisionsrekurs zurückzuweisen.

Da es im Unterhaltsvorschussverfahren auch nach dem neuen Außerstreitrecht keinen Kostenersatz gibt (vgl 10 Ob 84/08p mwN), hat der Vater die Kosten seiner Revisionsrekursbeantwortung selbst zu tragen.

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