OGH 3Ob11/08a

OGH3Ob11/08a10.4.2008

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Prückner, Hon.-Prof. Dr. Sailer und Dr. Jensik sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Sandra O*****, vertreten durch Dr. Farhad Paya, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wider die beklagte Partei L*****gesellschaft, *****, vertreten durch Dr. Ernst Maiditsch M.B.L.-HSG Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Klagenfurt, wegen 7.500 EUR sA und Feststellung (Feststellungsinteresse 1.000 EUR), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Berufungsgericht vom 12. Oktober 2007, GZ 4 R 297/07d-75, womit das Urteil des Bezirksgerichts Klagenfurt vom 4. Juni 2007, GZ 42 C 266/06g-69, bestätigt wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 665,66 EUR (darin 110,94 EUR an 20 % USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Die damals 35-jährige Klägerin unterzog sich am 16. September 2002 drei Tage nach der Geburt eines gesunden (4.) Kindes in einem von der beklagten Partei betriebenen Landeskrankenhaus einer in Vollnarkose vorgenommenen Sterilisationsoperation. Obwohl die Narkose nach dem derzeitigen Wissen und den geltenden anästhesiologischen Standards sowie nach den gängigen Erfahrungen in Bezug auf Medikamentenkombination und -dosierung erfolgt war, kam es zu einer relativen Unterdosierung, weswegen die Klägerin während der Operation wach wurde. Sie erlebte Teile der Operation bewusst mit, ohne sich bemerkbar machen zu können. Die unzureichende Narkosetiefe wurde zum frühesten Zeitpunkt behoben und wieder eine Narkotisierung vorgenommen. Als Folge trat bei der Klägerin eine akute Belastungsreaktion sowie eine leicht bis mäßig ausgeprägte posttraumatische Belastungsstörung auf. Sie erlitt (zusammengefasst) einen Tag starke, zwei Tage mittelstarke und 60 Tage leichte Schmerzen. Dauerfolgen in Form einer Wesensänderung sind nicht auszuschließen.

Das Risiko einer intraoperativen Wachheit liegt bei 0,2 bis 0,4 % und stellt eine vorhersehbare Komplikation einer Vollnarkose dar. Die Klägerin war vor der Operation zwar über die möglichen Komplikationen und Risken der Vollnarkose aufgeklärt worden, eine Aufklärung über das Risiko einer intraoperativen Wachheit war jedoch nicht erfolgt. Wäre sie auch über dieses Risiko aufgeklärt worden, hätte sie sich keine Vollnarkose, sondern eine Rückenmarksvereisung = „Kreuzstich" (Periduralanästhesie) verabreichen lassen.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin an Schmerzengeld 7.500 EUR sA zu zahlen und gab dem auf Feststellung der Haftung für sämtliche derzeit noch nicht vorhersehbaren Folgen und Nachteile der Operation gerichteten Begehren statt. In rechtlicher Hinsicht ging es davon aus, dass die intraoperative Wachheit eine typische Komplikation einer Vollnarkose darstelle, auch wenn diese Komplikation relativ selten auftrete. In Ansehung typischer Risken bestehe eine verschärfte Aufklärungspflicht. Im Rahmen der der Klägerin geschuldeten Aufklärung wäre daher ein Hinweis auf dieses Risiko erforderlich gewesen, um ihr eine Entscheidung darüber zu ermöglichen, ob sie den Eingriff unter Vollnarkose durchführen lassen wolle oder nicht. Der Beweis, die Klägerin hätte auch im Fall einer ausreichenden Aufklärung ihre Zustimmung zur Vollnarkose erteilt, sei der beklagten Partei nicht gelungen. Der Zuspruch eines Schmerzengeldbetrags von 7.500 EUR sei als Globalabfindung für alle eingetretenen und nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen angemessen. Da Dauerfolgen nicht zur Gänze ausschließbar seien, sei auch dem Feststellungsbegehren stattzugeben gewesen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 4.000 EUR, aber nicht 20.000 EUR übersteige. Die ärztliche Aufklärungspflicht reiche um so weiter, je weniger der Eingriff vordringlich oder gar geboten sei. Die Rechtsansicht des Erstgerichts, das Risiko einer intraoperativen Wachheit sei ein typisches Risiko einer Vollnarkose, sei zutreffend. Grundsätzlich sei auf alle einem medizinischen Eingriff speziell anhaftenden (typischen) Risken ganz unabhängig von der prozentmäßigen statistischen Wahrscheinlichkeit, also auch bei einer allfälligen Seltenheit ihres Eintritts hinzuweisen. Bislang sei aber unbeantwortet geblieben, wo die Grenze zu ziehen sei, ab der - im Hinblick auf die Seltenheit des Risikoeintritts - keine Aufklärung des Patienten mehr zu verlangen sei. Im Hinblick auf diese Rechtsfrage sei die ordentliche Revision zulässig.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen diesem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) ist die Revision der beklagten Partei nicht zulässig.

1. Da die Anästhesie bei einem operativen Eingriff ein Teil der Heilbehandlung ist, beziehen sich die zur ärztlichen Aufklärungspflicht entwickelten Grundsätze auch auf sie (1 Ob 2318/96f = RdM 1997, 90; RIS-Justiz RS0026328).

2. Die Entscheidung der Vorinstanzen folgt der ständigen Rechtsprechung:

Die Aufklärungspflicht reicht um so weiter, je weniger die Operation aus der Sicht eines vernünftigen Patienten vordringlich oder gar geboten ist (10 Ob 2350/96b = SZ 69/199 uva). Gerade bei nicht dringlichen Operationen - eine solche stellt (unbestrittenermaßen) die von der Klägerin gewünschte Sterilisationsoperation dar - gilt, dass der Patient selbst die Abwägung vornehmen soll, ob er trotz des statistisch unwahrscheinlichen Risikos nachteiliger Folgen sich der geplanten Operation unterziehen oder aber seinen bisherigen Gesundheitszustand unverändert belassen will. Daher kann sich eine Aufklärungspflicht auch ergeben, wenn die Wahrscheinlichkeit des Risikoeintritts zahlenmäßig sehr gering ist (7 Ob 21/07z; RIS-Justiz RS0026375).

Es entspricht weiters der ständigen Rechtsprechung, dass auf ein typisches, dh speziell dem geplanten Eingriff anhaftendes und auch bei größter Sorgfalt nicht vermeidbares Risiko unabhängig von der prozentmäßigen Wahrscheinlichkeit, also auch bei allfälliger Seltenheit ihres Eintritts, hinzuweisen ist; die ärztliche Aufklärungspflicht ist in diesem Fall verschärft (RIS-Justiz RS0026581, RS0026340). Das gilt zwar nur dann, wenn das Risiko geeignet ist, die Entscheidung des Patienten zu beeinflussen (1 Ob 532/94 = SZ 67/9 = JBl 1995, 245 = RdM 1994, 121 ua). Dass dies beim Risiko einer intraoperativen Wachheit im vorliegenden Fall zu bejahen ist, bedarf keiner weiteren Erörterung, war doch die Operation weder dringlich noch geboten; zudem hätte allenfalls auch eine Epiduralanästhesie vorgenommen werden können. Unmaßgeblich zu bleiben hat der Umstand, ob der Arzt dennoch annahm bzw subjektiv der Meinung war, die Klägerin werde - selbst bei entsprechender Aufklärung - ein derart geringes Risiko wie es die intraoperative Wachheit darstellt, nicht in ihre Überlegungen einbeziehen, sondern eine Vollnarkose bevorzugen. Aufgabe des Arztes ist es nämlich, durch entsprechende Aufklärung den in die Vollnarkose einwilligenden Patienten in Stand zu setzen, selbst die Tragweite seiner Einwilligung zu überschauen (1 Ob 743/80 = JBl 1982, 491 und die folgende Rsp; RIS-Justiz RS0026413). Im Hinblick auf diese Gegebenheiten ist die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, es wäre von einem gewissenhaften Arzt zu erwarten gewesen, dass er die Klägerin im vorliegenden Fall auch über das Risiko einer intraoperativen Wachheit aufklärt, nicht zu beanstanden. Infolge der Nichtaufklärung war die Klägerin überrascht, weil sie mit dem Aufwachen während der Operation nicht gerechnet hatte. Gerade dies soll aber durch eine vollständige und ausreichende Aufklärung verhindert werden. Der Arzt hätte die Klägerin auch über allfällige adäquate Maßnahmen (etwa die Periduralanästhesie) informieren und das Für und Wider mit ihr abzuwägen gehabt, sofern jeweils unterschiedliche Risken entstehen können (RIS-Justiz RS0026426). Wäre die Vornahme einer Epiduralanästhesie infolge des bei der Klägerin gegebenen Gesundheitszustands tatsächlich mit weitaus erheblicheren Risken verbunden gewesen, hätte sie - nach entsprechender Aufklärung und Abwägung - gegebenenfalls von der Operation überhaupt Abstand nehmen können.

3. In welchem Umfang der Arzt im Einzelfall den Patienten aufklären muss, ist eine stets anhand der zu den konkreten Umständen des Einzelfalls getroffenen Feststellungen zu beurteilende Rechtsfrage (stRsp, RIS-Justiz RS0026763). Aus diesem Grund wurde bereits ausgesprochen, es könnten keine vom Einzelfall losgelösten (abstrakten) Prozent- oder Promillesätze dafür angegeben werden, bei welcher Wahrscheinlichkeit von Risken oder Schädigungen eine Aufklärungspflicht generell nicht mehr bestehe (8 Ob 646/92). Es ließen sich keine allgemeinen Richtlinien darüber aufstellen, ab welchem Häufigkeitsgrad eines Operationsrisikos aufgeklärt werden müsse. Es komme vor allem darauf an, ob die Risken lebensbedrohend seien oder wichtige Körperfunktionen betreffen; weiters sei maßgeblich, ob die Risken von einem solchen Gewicht seien, dass ein vernünftiger Patient ernsthaft in seine Überlegungen einbeziehen muss, ob er lieber mit den bisherigen Beschwerden weiterleben möchte oder aber die gute Chance einer Verbesserung bzw Heilung mit

demgegenüber viel kleineren Gefahren erkauft (3 Ob 545/82 = SZ 55/114

= JBl 1983, 373 [Holzner] und die folgende Rsp; RIS-Justiz

RS0026437). Es dürfe nicht nur auf allgemein statistische Werte abgestellt werden; die Aufklärungspflicht des Arztes entfalle nicht schon bei einer Risikodichte im Promillebereich (2 Ob 505/96 = RdM 1996, 87). So wurde etwa auch jüngst eine Verletzung der Aufklärungspflicht bei einem 0,32 %igen typischen Risiko, über das nicht aufgeklärt wurde, bejaht (4 Ob 132/06z betreffend eine Darmspiegelung verbunden mit einer Polypenentfernung und das damit typischerweise verbundene Risiko einer Darmperforation). Nur wenn das Risiko eine offenkundige Tatsache darstellte (wie etwa das jedem Eingriff in den menschlichen Organismus innewohnende Infektionsrisiko), wäre eine andere Beurteilung vorzunehmen (RIS-Justiz RS0040163). Dass es sich beim Risiko einer intraoperativen Wachheit aber nicht um eine jedermann bekannte, offenkundige Tatsache handelt, ist nicht zu bezweifeln. Die an den konkreten Umständen des Einzelfalls ausgerichtete rechtliche Beurteilung des Umfangs der Aufklärungspflicht durch die Vorinstanzen stellt jedenfalls keine vom Revisionsgericht aufzugreifende (grobe) Fehlbeurteilung dar.

Da weder die vom Berufungsgericht aufgeworfenen noch die von der beklagten Partei in deren Revision für bedeutsam erachteten Rechtsfragen über die besonderen Verhältnisse des Einzelfalls hinaus von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO sind, ist die Revision als unzulässig zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 50, 41 ZPO. Die Klägerin hat auf die Unzulässigkeit der gegnerischen Revision hingewiesen, sodass die Kosten der Revisionsbeantwortung zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung nötig erscheinen.

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