Spruch:
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Begründung
Die klagende Partei begehrte nach einem Verkehrsunfall 450 EUR sA an Schadenersatz und brachte vor, die Lenkerin des bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Beklagtenfahrzeugs habe den Vorrang des Klagsfahrzeugs verletzt. Der Kaskoversicherer der klagenden Partei habe den am Klagsfahrzeug verursachten Schaden bis auf einen Selbstbehalt von 400 EUR ersetzt. Des weiteren seien der klagenden Partei unfallskausale Spesen von 50 EUR erwachsen.
Die beklagte Partei bestritt das Klagebegehren mit der Behauptung, das alleinige Verschulden an dem Verkehrsunfall treffe die Lenkerin des Klagsfahrzeugs, die mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei. Außerdem wandte sie gegen die Klagsforderung bis zu deren Höhe eine Gegenforderung von 7.880,66 EUR aufrechnungsweise ein. Das Erstgericht erkannte die Klagsforderung mit 400 EUR als zu Recht, „die Gegenforderung, die klagende Partei sei schuldig, der beklagten Partei 7.880,66 EUR zu bezahlen", hingegen als nicht zu Recht bestehend, verpflichtete die beklagte Partei daher zur Zahlung von 400 EUR sA an die klagende Partei und wies das Mehrbegehren von 50 EUR sA ab.
Die beklagte Partei bekämpfte dieses Urteil mit Berufung im Umfang des Ausspruchs über die Gegenforderung (sowie im Kostenpunkt), wobei sie ihr Berufungsinteresse mit dem Betrag der gesamten Gegenforderung bezifferte. Ihr Rechtsmittelantrag lautete, das angefochtene Urteil insoweit als nichtig oder mangelhaft ersatzlos aufzuheben, in eventu im Sinne des Ausspruchs abzuändern, dass die eingewendete Gegenforderung bis zur Höhe der als zu Recht bestehend festgestellten Klagsforderung nicht zu Recht bestehe.
Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Berufungsgericht die Berufung der beklagten Partei zurück. Der erstinstanzliche Ausspruch über die Gegenforderung entspreche zwar nicht der „gängigen Praxis", wonach über die Gegenforderung nur bis zur Höhe der zu Recht bestehenden Klagsforderung zu entscheiden sei. Gemäß § 411 Abs 1 letzter Satz ZPO erwachse diese Entscheidung in dem die Klagsforderung übersteigenden Ausmaß aber nicht in Rechtskraft. Der beklagten Partei fehle es daher in der Hauptsache an der Beschwer, weshalb die Berufung als unzulässig zurückzuweisen sei. Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs der beklagten Partei mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung „nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung" aufzuheben und die Rechtssache „zur gesetzmäßigen Behandlung der Berufung" an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO ungeachtet des Vorliegens erheblicher Rechtsfragen zulässig (RIS-Justiz RS0098745); er ist aber nicht berechtigt.
Vorauszuschicken ist, dass die Beurteilung der Zulässigkeit der Berufung der beklagten Partei hier als reine Verfahrensfrage anhand der Aktenlage vorzunehmen ist, sodass im Einklang mit der herrschenden Rechtsprechung trotz der Bedenken Zechners (in Fasching/Konecny² IV/1 § 519 ZPO Rz 75 f und § 521a ZPO Rz 14) von der Einseitigkeit des Rekurses auszugehen ist (vgl 6 Ob 265/06y; 4 Ob 157/07b; 2 Ob 96/07t mwN; RIS-Justiz RS0098745).
Die Durchführung einer Rekursverhandlung vor dem Obersten Gerichtshof kommt schon nach § 526 Abs 1 Satz 1 ZPO nicht in Betracht (anders nur 2 Ob 258/05p für den hier nicht vorliegenden Fall eines Rekurses nach § 519 Abs 1 Z 2 ZPO).
Die beklagte Partei befasst sich in ihrem Rechtsmittel mit den „bedenklichen Auswüchsen der Lehre von der absoluten Nichtigkeit" und meint, das Berufungsgericht habe die Beschwer wegen „absoluter Nichtigkeit" des bekämpften Teils der erstinstanzlichen Entscheidung verneint.
Davon kann jedoch keine Rede sein:
Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels ist nicht nur die formelle, sondern auch die materielle Beschwer. Diese liegt nur vor, wenn die Entscheidung die materielle oder prozessuale Rechtsstellung des Rechtsmittelwerbers beeinträchtigt; ist das nicht der Fall, so ist das Rechtsmittel auch dann zurückzuweisen, wenn die Entscheidung nicht dem ihr zugrunde liegenden Sachantrag des Rechtsmittelwerbers entspricht (2 Ob 230/02a; 2 Ob 137/04t; 4 Ob 226/06y; RIS-Justiz RS0041868; E. Kodek in Rechberger, ZPO³ vor § 461 Rz 10; Zechner in Fasching/Konecny² IV/1 vor §§ 514 ff ZPO Rz 66). Sie fehlt, wenn die Entscheidung nur mehr theoretisch-abstrakte Bedeutung hätte (2 Ob 110/07a; RIS-Justiz RS0002495; E. Kodek aaO vor § 461 Rz 9).
Der Oberste Gerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Rechtsansicht, dass in einem mehrgliedrigen Urteil, das aufgrund der Einwendung einer Gegenforderung ergeht, weder die Entscheidung über die Klagsforderung noch jene über die Gegenforderung für sich allein, sondern nur die sich daraus ergebende Entscheidung über das Klagebegehren der Rechtskraft fähig ist (2 Ob 248/97b; 6 Ob 284/99d je mwN; RIS-Justiz RS0041026). Die Berufung der beklagten Partei richtete sich ausschließlich gegen den die Gegenforderung betreffenden Teil des mehrgliedrigen Urteils erster Instanz, nicht aber auch gegen den Zuspruch der als zu Recht bestehend erkannten Klagsforderung an die klagende Partei. Dieser ist somit rechtskräftig. Die Stattgebung eines ihrer Berufungsanträge hätte keine Änderung dieses Prozessergebnisses bewirkt. Konnte aber der Zweck der prozessualen Aufrechnungseinrede, den Klagsanspruch abzuwehren (vgl dazu ausführlich 4 Ob 87/07h), im Wege der Berufung nicht mehr erreicht werden, so fehlte es der Rechtsmittelwerberin zunächst jedenfalls unter diesem Aspekt an der für die Anfechtung notwendigen Beschwer.
Eine Beeinträchtigung der Rechtsstellung der beklagten Partei wäre aber auch dann zu bejahen, wenn sie den über die berechtigte Klagsforderung hinausreichenden Teil der Gegenforderung in einem - etwa von dem sich regressierenden Kaskoversicherer angestrengten - Folgeprozess nicht neuerlich einwenden könnte. Das Berufungsgericht hat die Beschwer der beklagten Partei (nur) unter diesem weiteren Gesichtspunkt geprüft und ein Anfechtungsinteresse verneint. Dieses Ergebnis ist aus folgenden Erwägungen nicht zu beanstanden:
Die Entscheidung über den Bestand oder Nichtbestand einer vom Beklagten zur Kompensation geltend gemachten Gegenforderung ist gemäß § 411 Abs 1 Satz 2 ZPO der Rechtskraft nur bis zur Höhe des Betrags teilhaft, mit welchem aufgerechnet werden soll. Die Bestimmung (zu ihrer Entstehungsgeschichte vgl 4 Ob 87/07h) wird in ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs dahin ausgelegt, dass über eine prozessuale Aufrechnungseinrede immer nur dann und soweit entschieden werden „kann", als die Klagsforderung als zu Recht bestehend erkannt wird (RIS-Justiz RS0033887, auch RS0040941). Nur in diesem Umfang begründet die Entscheidung über den Bestand oder Nichtbestand einer vom Beklagten zur Kompensation geltend gemachten Gegenforderung in einem Folgeprozess die Rechtskrafteinrede (RIS-Justiz RS0041281; Fasching/Klicka in Fasching/Konecny² III § 411 ZPO Rz 73). Entscheidet das Gericht über die Gegenforderung in einem darüber hinausgehenden Umfang, so erwächst die Entscheidung insoweit nicht in Rechtskraft (RIS-Justiz RS0041033; Fasching/Klicka aaO Rz 58 und 73; aA Rechberger in Rechberger, ZPO³ § 411 Rz 13 mwN, der eine solche Entscheidung für „nicht wirkungslos" hält). Dies hat zur Folge, dass die restliche Gegenforderung in einem Folgeprozess selbstständig eingeklagt oder neuerlich prozessual eingewendet werden kann (4 Ob 1513/87; 6 Ob 284/99d; RIS-Justiz RS0041033 [T1]). Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung fehlt es aber der beklagten Partei an der materiellen Beschwer, begründet doch der bekämpfte Ausspruch über die Gegenforderung kein rechtliches Hindernis, den 400 EUR übersteigenden Teil in einem allfälligen Folgeprozess neuerlich prozessual einzuwenden.
Eine - zumindest dem Ergebnis nach - gegenteilige Rechtsansicht vertrat allerdings der 7. Senat des Obersten Gerichtshofs in der Entscheidung 7 Ob 304/04p. Dieser lag der Fall zugrunde, dass in einem Vorprozess Gegenforderungen in einem die Höhe der Klagsforderung übersteigenden Umfang eingewendet, aber nur in geringerem Umfang als die Klagsforderung als zu Recht bestehend erkannt worden waren. In einem Folgeprozess wurde der darüber hinausgehende Teil der Gegenforderung eingeklagt. Der 7. Senat hielt dem zuvor Beklagten und nunmehrigen Kläger entgegen, die „materielle Rechtskraft samt Bindungswirkung" schließe auch die Geltendmachung des die seinerzeitige Klagsforderung übersteigenden Teils der Gegenforderung aus; die Klage sei daher zur Gänze zurückzuweisen. Der 4. Senat des Obersten Gerichtshofs hat diese Entscheidung nach eingehender Erörterung der Rechtslage jüngst abgelehnt und zusammenfassend ausgeführt, es sei daran festzuhalten, dass auch die Verneinung des Bestands einer Gegenforderung nur bis zur Höhe der Klagsforderung der Rechtskraft teilhaft wird; eine darüber hinausgehende Wirkung - welcher Art auch immer - gebe es im Folgeprozess nicht (4 Ob 87/07h).
Selbst diese divergierende Rechtsprechung liefert aber kein taugliches Argument für die - etwa aus Gründen der Rechtssicherheit gebotene - Annahme eines rechtlichen Interesses der beklagten Partei an der Beseitigung des „überschießenden" Ausspruchs über die Gegenforderung. Gerade die zitierten Entscheidungen belegen, dass sich die darin behandelte Problematik unabhängig von der Fassung des Spruchs einer mehrgliedrigen Entscheidung stellt. Auch wenn, wie dies von der beklagten Partei im Ergebnis wohl angestrebt wird, der Nichtbestand der Gegenforderung richtigerweise nur bis zur Höhe der berechtigten Klagsforderung festgestellt werden würde, läge darin, weil die gesamte Gegenforderung geprüft werden musste, auch die (implizite) Verneinung des Bestands des darüber hinausgehenden Teils der Gegenforderung.
Das Berufungsgericht hat somit zutreffend erkannt, dass die Entscheidung über den Nichtbestand der Gegenforderung die Rechtssphäre der beklagten Partei nicht nachteilig berührt. Den im Rechtsmittel geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die erörterte Auslegung des § 411 Abs 1 letzter Satz ZPO vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen.
Dem Rekurs ist daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 40, 50 ZPO.
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