Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichtes mit der Maßgabe wiederhergestellt wird, dass sie zu lauten hat:
„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei eine angemessene Integritätsabgeltung zu gewähren, besteht dem Grunde nach im Ausmaß von 100 vH der am 5. 11. 1997 geltenden doppelten Höchstbemessungsgrundlage gemäß § 178 Abs 2 ASVG (unter Berücksichtigung der Anpassung gemäß § 213a Abs 3 ASVG) zu Recht. Der beklagten Partei wird aufgetragen, der klagenden Partei eine vorläufige Zahlung von EUR 70.000 binnen 14 Tagen zu erbringen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 5.915,98 (darin EUR 28 Barauslagen und EUR 337,98 USt) bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen zu ersetzen."
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 5.097,68 (darin EUR 848,78 USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger hatte am 5. 11. 1997 einen Arbeitsunfall. Er wurde von einer umstürzenden Betonplatte, die aus einer Betonfertigteilwand herausgeschnittenen worden war, am Rücken getroffen und schwer verletzt. Dadurch erlitt er eine erhebliche und dauernde Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Integrität, nämlich den Bruch des ersten Lendenwirbelkörpers mit Querschnittlähmung (MdE 100 vH) und bezieht dafür eine 100 %ige Versehrtenrene.
Die beklagte Unfallversicherungsanstalt lehnte seinen Antrag vom 17. 2. 2003 auf Gewährung einer Integritätsabgeltung mit Bescheid vom 4. 3. 2003 ab. Der Arbeitsunfall sei nicht durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht worden.
Mit der dagegen erhobenen Klage begehrt der Kläger eine angemessene Integritätsabgeltung gemäß § 213a ASVG.
Die Beklagte beantragte Klagsabweisung. Eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften liege nicht vor, weil nicht erkennbar gewesen sei und auch nicht damit gerechnet habe werden müssen, dass die Betonfertigteilwand nicht durchgehend aus Beton bestanden habe, sondern in sog „Sandwich-Bauweise" errichtet worden sei. Es sei eine übliche Vorgangsweise gewählt worden. Da herausgeschnittene Betonplatten selbst „ohne Verwahrung" nur mit Mühe herausbringbar seien, sei ein selbständiges Herausfallen nicht vorstellbar gewesen.
Die Vorinstanzen gingen demgegenüber - übereinstimmend - davon aus, dass der Arbeitsunfall durch die Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften, nämlich der §§ 12, 110 Abs 1 und 119 Abs 2 der Bauarbeiterschutzverordnung, BGBl 1994/340 (BauV) verursacht worden sei, welche im Wesentlichen bestimmten, dass vor der Durchführung von Bau- bzw Abbrucharbeiten an bestehenden Bauwerken die betroffenen Bauteile auf ihre Standsicherheit und Tragfähigkeit zu prüfen und allenfalls abzusichern seien, dass der Bauzustand des abzubrechenden Objekts durch eine fachkundige Person zu untersuchen sei, und dass die zu demontierenden Konstruktionsteile bei Teilabbrüchen so fixiert oder gesichert werden müssten, dass sie nach dem Lösen oder Trennen der Verbindung nicht gefahrbringend abstürzten.
Das Erstgericht bejahte auch die grobe Fahrlässigkeit und erkannte die beklagte Partei daher schuldig, dem Kläger eine Integritätsabgeltung iSd § 213a ASVG „im gesetzlichen Ausmaß" zu leisten. Es stellte noch folgenden Sachverhalt fest:
Der am 6. 6. 1968 geborene Kläger war bei der Baufirma B***** GmbH, die das Baumeistergewerbe betreibt, als Bauarbeiter beschäftigt. Von einem holzverarbeitenden Betrieb erhielt das genannte Unternehmen den Auftrag, in einem Abstand von ca 10 Metern zu einer schon bestehenden Betonfertigteilhalle eine neue Halle zu errichten, wobei der Zwischenraum eine überdachte Durchfahrt sein sollte. Die neue Halle sollte durch drei Gleisanlagen, die diese Durchfahrt queren und dem Transport dienen, mit der bestehenden Halle verbunden werden. In der Wand der bestehenden Halle mussten für die zu errichtenden Gleisanlagen drei Türöffnungen geschaffen werden. Bauleiter war Herbert B***** jun, ein Absolvent der HTL für Hochbau, der eine Baumeisterprüfung abgelegt hat. Im Namen der B***** GmbH beauftragte er den Subunternehmer Ladislaus L***** damit, die Türöffnungen mittels Betonschneidearbeiten in der Betonfertigteilwand herzustellen. Dieser ist gelernter Kfz-Mechaniker und übt seit 1994 das Gewerbe des „Betonbohrens und Betonsägens nach vorgefertigten Plänen nach Anordnung durch befugte Personen" aus.
Seitens der B***** GmbH erkundigte sich niemand nach dem inneren Aufbau der auszuschneidenden Betonfertigteilwand. Hätte sich der verantwortliche Bauleiter beim Bauherrn danach erkundigt, hätte er von ihm erfahren, dass die Wandkonstruktion aus horizontal gespannten Betonfertigteilplatten besteht, die in den Stützen der Halle verankert sind, wobei die einzelnen Elemente nicht tragfähig miteinander verbunden, sondern nur mit einem Dämmband ausgestattet sind. Von außen war erkennbar, dass es sich um eine Betonfertigteilwand handelte und es war ersichtlich, dass die Wandflächen in eine Sockelzone (eigenes Betonsandwich-Element) und eine Wandscheibe darüber unterteilt waren. Dabei ist an der Oberkante der jeweils untersten Stelle (Sockelzone) eine deutlich sichtbare, waagrecht verlaufende Nut und sind an den Rändern der Fertigteilplatten Abfassungen, dh gebrochene Kanten, zu sehen. Die Wand zeigt sich also deutlich erkennbar als Fertigteilwand mit den beschriebenen Unterteilungen.
Der Bauleiter Herbert B***** jun nahm an, dass es sich beim Aufbau der Wand entweder um Vollbetonplatten oder um gedämmte Platten handle, erkundigte sich aber weder nach dem Aufbau der Wand noch nach der Zusammensetzung der Platten und veranlasste diesbezüglich auch keine Probeentnahme. Der auf der Baustelle eingesetzte Polier Andreas B***** erhielt weder vom Bauleiter noch von sonst jemandem Mitteilungen über den inneren Aufbau der Fertigteilbetonwand.
Es gibt wesentliche Unterschiede, wie solche Betonfertigteilplatten in Sandwich-Bauweise in sich und zueinander statisch tragfähig miteinander verbunden sind. Das äußere Erscheinungsbild lässt nur bedingt Rückschlüsse auf die Art der Ausführung zu. Die gegenständlichen Sandwich-Elemente waren unterschiedlich zusammengesetzt. Die unterste Reihe der Platten (= Sockelzone) ging bis etwa bis eineinhalb Meter ober Fußbodenniveau. Diese Platten bestanden an der Wandaußenseite aus einer ca 15 cm dicken Betonschicht und innen aus ca 5 cm Wärmedämmung. Die darüber ruhenden Sandwich-Elemente bestanden aus einer äußeren Betonplatte, einer Wärmedämmplatte und einer inneren Betonplatte. Die äußere Betonplatte war 5 bis 7 cm, die Wärmedämmung 5 cm und die innere dickere und tragende Betonplatte 10 bis 12 cm stark. Die äußere und innere Betonplatte der in der Hallenwand verwendeten Sandwich-Elemente waren nur an einigen Stellen durch Haltestifte miteinander verbunden. Große Flächen der Platten hatten jedoch keine Verbindung untereinander. Da die horizontalen Fugen nur mit einem Dämmband ausgestattet waren bestand auch keine direkte Kontaktfläche zwischen den Betonteilen, sondern nur ein im Spalt befindliches weiches Dämmband. Aufgrund der Nut an der Oberkante der Sockelzone (Frostschürze) und der verschiedenen Schichtung der Wärmedämmung, die aus styroporähnlichem Material bestand, lag im vertikalen Schnitt betrachtet die obere Platte auf der Sockelzone nur auf einer Breite von 5 cm mit Beton auf Beton auf. Der Rest verteilte sich auf ein Aufliegen von Dämmmaterial zu Beton.
Alle diese Umstände waren und blieben den Verantwortlichen der B***** GmbH aus den genannten Gründen unbekannt. Sie gingen einfach davon aus, dass es sich dabei um eine in sich und zueinander haltbare Betonkonstruktion handle, sei es dass sie aus Massivbeton gefertigt oder doch ausreichend fest in sich verbunden sei.
Die dargestellte Wandkonstruktion ist in statisch konstruktiver Hinsicht eine für solche Hallen gewöhnliche Ausführung, jedoch nur eine von vielen Möglichkeiten. Aus statischer Sicht gibt es wesentliche Unterschiede in der Art ob solche Fertigteilplatten statisch tragfähig miteinander verbunden sind oder nicht, wobei das äußere Erscheinungsbild nur bedingt Rückschlüsse zulässt, welcher Art der Ausführung gewählt wurde. Baufirmen haben bei Einsatz von Fertigteilen dafür gewöhnlich Sublieferanten, sodass auch sonst erfahrene Bauleiter für Betonarbeiten kein Spezialwissen über solche Sonderkonstruktionen haben bzw haben können.
Auch Ladislaus L***** und dessen Gehilfe Josef S***** hatten über den Wandaufbau keine Informationen und erhielten solche auch weder vom Bauherrn noch von der leitenden Baufirma und deren Auftraggeber, der Firma B*****. Der Wandaufbau ist für den Schneidevorgang an sich ohne Belang; wäre aber bei der Wahl der Sicherungsmaßnahmen für den Fall der Nichtentfernung eines ausgeschnittenen Wandteiles zu berücksichtigen. Es ist nicht möglich den Wandaufbau während des Schneidevorgangs festzustellen. Ebensowenig ist es üblich, dass der beauftragte Betonschneider abklärt, ob durch die betreffende Wand Leitungen gelegt sind. Fragen des Wandaufbaus, der damit zusammenhängenden Statik sowie die Leitungsführung sind vor Durchführung der Schneidearbeiten von einem befugten Baumeister abzuklären. Die Wandstärke betrug 30 cm.
Am 31. 10. 1997 zeigte der Polier Andreas B***** dem Betonschneider L***** und dessen Gehilfen S***** die auszuschneidenden Öffnungen an, worauf die beiden die Schneidearbeiten durchführten. Die Schnittfolge führte von der unteren Seite über die linke Hälfte nach oben und endete am rechten Seitenteil. Beim Herausschneiden der Türöffnungen wurden sowohl eine Teilfläche der Sockelplatte als auch eine Teilfläche der Wandscheibe durchtrennt. Während des Schneidens brachte L***** Holzkeile im Schnittspalt an, um zu verhindern, dass der herauszuschneidende Betonteil verrutscht und sich hiedurch das Sägeblatt verklemmt. Die Schnittspalten wurden jeweils nur an der Wandaußenseite verkeilt. Die Schnittbreite betrug 5 mm, sodass eine Verkeilung auf 3 cm Tiefe möglich war. Die Vorgangsweise wird üblicherweise bei durchgängig betonierten Wänden verwendet. In der Regel wird ein ausgeschnittenes Betonstück auch vom Betonschneider selbst entfernt. Hiefür löst er die angebrachte Verkeilung und schiebt den Betonteil beispielsweise mit einer Winde zum anschließenden Kippen aus der Wand, damit der nicht verklemmt.
Entgegen dem ursprünglichen Auftrag erteilte jedoch der Polier der B***** GmbH im Zuge des Schneidevorganges und über ausdrücklichen Wunsch des Bauherrn die Anweisung, die ausgeschnittenen Elemente als Diebstahlsschutz bis zum Anbringen der neuen Holztüren in der Wand zu belassen. Deshalb wurde dann auch die vierte Schnittfläche von L***** und S***** verkeilt, sodass alle Schnittspalten mit je zwei Holzkeilen verkeilt waren. Die dabei verwendeten Keile waren aus Lärchenholz. Eine weitere Absicherung gegen ein Herauskippen oder ein Herausbrechen erfolgte nicht. Für L***** war damit der ihm erteilte Auftrag erfüllt. Die abgeschlossenen Schneidearbeiten wurden ihm vom Polier bestätigt.
Grundsätzlich haben Keile nicht nur eine Haltefunktion sondern auch eine echte statische Tragefunktion zu erfüllen. Vom Bauleiter B***** jun selbst wurde aber nicht überprüft, ob die gewählte Verkeilung der Statik der herausgeschnittenen, aber noch nicht herausgebrochenen Wandscheiben entsprach.
Für die darauf folgende Woche waren im Bereich der verkeilten Elemente Bagger-, Grab- und Rüttelarbeiten vorgesehen. Bauleiter und Polier waren hierüber informiert. Den Betonschneidern (L***** und S*****) war allerdings - auch aus Anlass des Auftrages der herausgeschnittenen Betonteile in der Wand zu belassen - [davon] nichts mitgeteilt worden.
Zum Zeitpunkt der Schneidearbeiten war der ursprüngliche Asphaltboden vorhanden und eben. Der Asphalt wurde von der B***** GmbH in der darauf folgenden Woche bei allen Türen, an denen Gleise verlegt werden sollten, aufgeschnitten und mit einem Bagger in einem Zug mit dem Aushub des Grabens entfernt. Für die B***** GmbH stellten die in der Wand verbliebenen ausgeschnittenen Betonplatten eine Arbeitsbehinderung insbesondere beim Nivellieren der Gleisauflagen dar. Das Fundament der Gleise reichte bis an das Fundament der Hallenwand. Beim Anbringen des Betons wurde mit einer Rüttelmaschine der Boden verdichtet. Die Arbeiter wurden nicht angewiesen, bei den Verdichtungsarbeiten auf die Keile besonders Acht zu geben oder zusätzlich Sicherungsmaßnahmen zu treffen.
Am 5. 11. 1997 ab 9.00 Uhr arbeitete der Kläger zusammen mit einem Maurer im Bereich vor einer der ausgeschnittenen Türöffnungen. Die beiden waren beim Ausschneiden der Türelemente und den nachfolgenden Grabungsarbeiten eines Fundaments der Gleise nicht dabei gewesen, wussten jedoch davon. Sie führten nun mit anderen Arbeitern Schalungsarbeiten durch und befanden sich dabei im Aushub vor einer solchen ausgeschnittenen Türöffnung, in der sich die ausgeschnittenen Betonelemente noch befanden. Um 10.30 Uhr stürzte plötzlich das obere, auf der Sockelzone (Frostschürze) aufsitzende Betonelement im Ausmaß von 160 x 170 x 30 cm heraus und verletzte den Kläger und Herbert K***** schwer. Zu diesem Zeitpunkt waren jedenfalls die beiden Keile in der unteren Schnittfläche nicht mehr vorhanden, möglicherweise fehlten auch weitere Keile.
Zum Herausstürzen des oberen Fertigbetonelements kam es aus folgenden Gründen:
Durch das Herausschneiden der Türöffnung entstanden von Anfang an zwei Plattenteile. Der obere Teil bestand aber aufgrund der Sandwich-Konstruktion wiederum aus zwei Betonteilen, sodass nach dem Schneidevorgang insgesamt drei Betonteile vorlagen. Dadurch war die Möglichkeit gegeben, dass diese herausgeschnittenen Teile zusammen- oder aufklappen konnten, ähnlich wie bei einer Falltür, nur um eine horizontale Achse. Das untere und obere herausgeschnittene Betonteil hätte jedes für sich, also oberhalb und unterhalb der horizontalen Fuge mit Dämmband, innen wie außen durch eine horizontale Stahlschiene gesichert werden müssen (nach dem Unfall ist das an einer anderen ausgeschnittenen Türe auch geschehen, wobei sich nach vollständiger Durchführung des Schnittes und Entfernung der Stahlschienen ein relativ leichtes Herausfallen der ausgeschnittenen Betonteile zeigte).
Bei der gegebenen Betonkonstruktion hatte die Verkeilung kaum eine Wirkung für die Absicherung; zudem kamen die beiden Keile, die im horizontalen Schnitt eingetrieben waren, bis zum Unfalltag abhanden und zwar im Zuge Bagger-, Bohr- und Rüttelarbeiten, die ja bis unmittelbar vor die gegenständliche Ausschnittstelle reichten, weil auch in diesem Bereich der Boden aufgegraben wurde. Diese beiden Keile sind daher im Zuge der Arbeiten entweder bewusst entfernt oder durch nachlässigen Arbeitsverlauf gelöst worden und dann unter den Aushub gekommen oder sonst wie verschwunden. Da die seitlichen Keile unmöglich das Gewicht der schweren Platte ohne untere Abstützung halten konnten und schon das Absinken der Platte um einen halben Zentimeter jedenfalls zu einer Bewegung im Bereich der seitlichen Keile und damit deren Lockerung bis zur Funktionslosigkeit der oberen Keile führte, hat auch in der Fuge zwischen dem unteren und den oberen Element eine Verschiebung und ein Nachsitzen stattgefunden, sodass in Verbindung mit der Sandwich-Bauweise und der Hohlkehle des Sockelelements das obere Element dadurch abrutschen und herausbrechen konnte. Die Reibungskraft zwischen den seitlich verbliebenen Holzkeilen und der Betonfläche reichte nicht aus, um den oberen Betonteil schwebend in der Position zu halten. Das Absinken geschah in einer Art Kriechvorgang, wobei aber das Aufsitzen am unteren Betonteil durch Quetschung des Dämmbandes aus statischer Sicht äußerst ungünstig dimensioniert und positioniert war, weil die obere Platte auf der unteren Platte keine ordentlichen Auflagevoraussetzungen fand und dadurch eine Tendenz zum Kippen gegeben war. Die Quetschung des Dämmbandes machte zudem den horizontal verlaufenden Spalt, der durch den Schnittvorgang entstanden ist (über dem oberen Element), wesentlich breiter. Die mechanischen Erschütterungen haben zu 50 % Wahrscheinlichkeit den Kriechvorgang des Absitzens und der Lockerung der Keile beschleunigt. Letztlich hat auch die Verbreiterung des oberen horizontalen Spaltes, der durch den Schnittvorgang entstanden war, infolge des Absitzens der Elemente ein Herauskippen des oberen Elementes nicht mehr blockiert.
Bei einem monolithisch ausgeschnittenen Betonblock wäre ein solches Herauskippen, auch bei der gegebenen Art der Verwahrung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht geschehen.
Die herausstürzende Betonplatte prallte gegen den Rücken des unmittelbar vor dem ausgeschnittenen Bereich arbeitenden Klägers. Er erlitt dadurch einen Bruch des ersten Lendenwirbels verbunden mit kompletter Querschnittlähmung (vollständige motorische und sensible Lähmung beider Beine nach Kompressionsbruch des ersten Lendenwirbelkörpers, vollständige Blasen- und Mastdarmlähmung). Der Kläger ist nach Abschluss des Heilverfahrens auf Hilfsmittel wie Rollstuhl, Katheter, Einlagen usw angewiesen. Die Folgen bestehen auf Dauer.
Die Beklagte hat mit Bescheid vom 12. 10. 1999 dem Kläger für die Folgen dieses Arbeitsunfalles eine 100 %ige Dauerrente zuerkannt. Darüber hinaus erkannte die Pensionsversicherungsanstalt mit 28. 8. 1998 dem Kläger die Invaliditätspension ab 1. 3. 1998 zu. Außerdem bezieht der Kläger auch Pflegegeld nach dem Bundespflegegeldgesetz.
In rechtlicher Hinsicht beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt dahin, dass die eingangs genannten Bestimmungen von der bauausführenden Firma und ihrem Bauleiter nicht beachtet worden seien. Es seien weder Erkundigungen über den Aufbau der durchzusägenden Betonfertigteilwand eingeholt, noch Untersuchungen über die konstruktiven Gegebenheiten und die statischen Verhältnisse bzw über Art und Zustand der Bauteile und Baustoffe durchgeführt worden, sodass die Sandwich-Bauweise und der statische Risikofaktor dem Bauleiter und dem Polier verborgen geblieben seien. Insbesondere dem Bauleiter hätte als Sachverständigem aber bewusst sein müssen, dass nur ein Spezialist für Fertigteile mit einiger Sicherheit vermuten könnte, wie der Wandaufbau und die Tragekonstruktion ausgeführt seien. Die Verletzung der Arbeitnehmerschutzbestimmungen sei daher konkret durch den Bauleiter Herbert B***** jun erfolgt, der es unterlassen habe, sich über den Aufbau und die Zusammensetzung der Fertigteilbetonwand zu informieren, aber dennoch den Auftrag zum Heraussägen von beträchtlichen Wandteilen gegeben und die ungenügende Absicherung auf der durch nichts begründeten Annahme aufgebaut habe, es handle sich um einen monolitischen Massivbetonblock. Sein Verhalten sei als grob fahrlässig zu qualifizieren, weil er ganz einfache und naheliegende Überlegungen nicht angestellt habe, die sich ihm schon aufgrund der mangelnden Kenntnis eines nicht auf solchen Bauten spezialisierten Baumeisters hätten aufdrängen müssen. Außerdem sei er schon optisch durch die horizontale Fuge zwischen dem Sockelgeschoß und der darauf aufruhenden oberen Platte als Fachmann auf die Unzulässigkeit seiner Annahme hingewiesen worden.
Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung im klageabweisenden Sinne ab und erklärte die ordentliche Revision für nicht zulässig. Das Erstgericht habe das Verhalten des Bauleiters deshalb als grob fahrlässig beurteilt, weil er nicht hätte annehmen dürfen, dass es sich beim herausgeschnittenen Teil um einen einheitlichen Betonblock handle. Für diesen Schluss böten die Feststellungen aber keine hinreichende Grundlage. Zum Beurteilungsvermögen des Bauleiters in Bezug auf die konkrete Gefahrensituation stehe nämlich lediglich fest, dass auch sonst erfahrene Bauleiter für Betonarbeiten kein Spezialwissen über Fertigteilsonderkonstruktionen hätten bzw haben könnten. Im Hinblick auf den dem Bauleiter zurechenbaren Wissens- und Erfahrungsstand lasse sich daher auch nicht sagen, dass seine Annahme, es handle sich um eine in sich haltbare, massive Betonkonstruktion von vornherein verfehlt gewesen sei, zumal auch das äußere Erscheinungsbild nur bedingt Rückschlüsse auf die Art der Ausführung zugelassen habe. Dass er durch einfache und naheliegende Überlegungen die Gefahrensituation erkannt hätte, lasse sich aus den Feststellungen ebenfalls nicht ableiten. Auch die Sachverständigengutachten böten hiefür keine Grundlage. Der Bauleiter habe wohl gegen die vom Erstgericht zitierten Bestimmungen der Bauarbeiterschutzverordnung verstoßen, weil die konstruktiven Gegebenheiten und die statischen Verhältnisse des zu demontierenden Objekts nicht untersucht und die demontierten Konstruktionsteile nicht so fixiert worden seien, dass sie nicht gefahrbringend abstürzen (§§ 12, 110 Abs 1 und 119 Abs 2 BauV); doch sei dem Bauleiter - im Hinblick auf das nicht vorwerfbare mangelnde Spezialwissen über die Sonderkonstruktion - die Gefahrenlage nicht evident gewesen, sodass sich ihm auch nicht einfache und naheliegende Überlegungen zur Gefahrenvermeidung hätten aufdrängen müssen. Damit reduziere sich der Vorwurf gegenüber dem Bauleiter auf die bloße Unkenntnis einer Schutzvorschrift, was aber allein regelmäßig für die grobe Fahrlässigkeit nicht ausreiche (vgl 9 ObA 41/05b). Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil die Beurteilung des Verschuldensgrades eine Frage des Einzelfalles darstelle.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das klagestattgebende Ersturteil wiederherzustellen; hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.
Die beklagte Partei beantragt in der ihr freigstellten Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist - entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichtes - zulässig, weil die Berufungsentscheidung nicht in Einklang mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes (RIS-Justiz RS0106718) steht, und auch berechtigt.
Die Entscheidung hängt - wie bereits das Berufungsgericht zutreffend aufzeigt - von der Lösung der Rechtsfrage des materiellen Rechts ab, ob der Arbeitsunfall durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde (§ 213a Abs 1 ASVG), wobei hier nur noch strittig ist, ob grobe Fahrlässigkeit vorlag. Das Berufungsgericht hat dies mit der bereits wiedergegebenen Begründung verneint und ist dabei zunächst von der stRsp (auch des erkennenden Senats) zum Begriff der groben Fahrlässigkeit ausgegangen:
Demnach reicht das Zuwiderhandeln gegen Unfallverhütungsvorschriften für sich allein zur Annahme grober Fahrlässigkeit nicht aus (RIS-Justiz RS0052197). Entscheidende Kriterien für die Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades sind auch nicht die Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere der Sorgfaltsverstöße und die für den Arbeitgeber erkennbare Wahrscheinlichkeit des Schadenseintrittes (RIS-Justiz RS0085332). Im Wesentlichen ist zu prüfen, ob der Arbeitgeber als Adressat der Arbeitnehmerschutzvorschriften nach objektiver Betrachtungsweise ganz einfache und naheliegende Überlegungen nicht angestellt hat (10 ObS 71/05x mwN).
Letztlich hat das Berufungsgericht die Verneinung grober Fahrlässigkeit allerdings mit dem Hinweis darauf begründet, dass sich der Vorwurf gegenüber dem Bauleiter auf den (objektiven) Verstoß gegen die zit Bestimmungen der BauV, also auf die Unkenntnis einer Schutzvorschrift reduziere, weil ihm mangelndes Spezialwissen über die Sonderkonstruktion - angesichts der auch für sonst erfahrene Bauleiter nicht evidenten Gefahrenlage - nicht vorgeworfen werden könne.
Dieser Beurteilung ist nicht zu folgen:
Entgegen diesen Ausführungen ergibt sich aus den wiedergegebenen Feststellungen nämlich tatsächlich nicht eine Unkenntnis - eine solche wurde auch nicht geltend gemacht -, sondern die Nichtbeachtung der vom Erstgericht dargestellten Arbeitnehmerschutzvorschriften durch den Bauleiter und den Polier, und der Umstand, dass der Arbeitsunfall durch die Außerachtlassung dieser Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde: Nach § 12 BauV sind bei der Arbeit an bestehenden Bauwerken vor dem Beginn von Bauarbeiten jene Bauwerks- oder Baukonstruktionsteile, auf die sich diese Arbeiten erstrecken oder die durch diese beeinflusst werden, durch eine fachkundige Person auf ihre Standsicherheit und Tragfähigkeit zu prüfen. Sind Standsicherheit und Tragfähigkeit nicht ausreichend gewährleistet, darf erst nach Durchführung der notwendigen Sicherungen mit den Arbeiten begonnen werden. Schon bei der Montage von Fertigteilen am Bau muss die Tragfähigkeit und die Standsicherheit des Bauwerkes während der einzelnen Montagezustände gewährleistet sein (§§ 85 Abs 1, 86 Abs 1 BauV). Vor Durchführung von Abbrucharbeiten bestimmt § 110 Abs 1 BauV als vorbereitende Maßnahmen, dass der Bauzustand des abzubrechenden Objektes von einer fachkundigen Person untersucht werden muss. Die Untersuchung des abzubrechenden Objektes hat sich insbesondere auf die konstruktiven Gegebenheiten, die statischen Verhältnisse, die Art und den Zustand der Bauteile und Baustoffe sowie die Art und Lage von Leitungen und sonstigen Einbauten zu erstrecken. Die fachkundige Person muss über die jeweils erforderliche Kenntnis, insbesondere auf dem Gebiet der Statik verfügen und praktische Erfahrungen besitzen. An allgemeinen Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf Abbrucharbeiten bestimmt § 111 Abs 1 BauV, dass während der Durchführung von Abbrucharbeiten das Verhalten des abzubrechenden Bauwerkes zu beobachten ist. Wenn die Standsicherheit des Bauwerkes durch den Fortgang der Abbrucharbeiten oder sonstige Ereignisse beeinträchtigt wird und dadurch Gefahren für die Arbeitnehmer entstehen, ist die Unterbrechung der Arbeiten anzuordnen. Bei Abbruch eines Teiles einer Wand durch Demontage im Sinne des § 119 BauV hat der Abbruch im Regelfall in umgekehrter Reihenfolge wie bei der Montage zu erfolgen, indem die Verbindungen der einzelnen Konstruktionsteile gelöst oder durch Sägen oder thermisch getrennt werden. Nach § 119 Abs 2 BauV müssen die zu demontierenden Konstruktionsteile so fixiert, oder an Hebezeugen mit Anschlagmitteln gesichert sein, dass sie nach dem Lösen oder Trennen der Verbindungen nicht gefahrbringend abstürzen.
All diese Arbeitnehmerschutzvorschriften wurden hier nicht beachtet. Darüber hinaus steht aber auch noch fest, dass der Bauleiter nicht überprüft hat, ob die gewählte Verkeilung der Statik der herausgeschnittenen (aber noch nicht herausgebrochenen) Wandscheiben entsprach, obwohl er und der Polier darüber informiert waren, dass für die darauf folgende Woche im Bereich der verkeilten Elemente Bagger-, Grab- und Rüttelarbeiten vorgesehen waren.
Davon ausgehend weist die Revision aber zu Recht darauf hin, das Berufungsgericht habe diese Sachverhaltsfeststellungen rechtsirrig nicht dahin beurteilt, dass hier eine Kumulierung der Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften und einer besonderen Gefahrensituation (durch die genannten Arbeiten im Bereich der „losen" [Seite 4 der Revision] Betonteile) vorliege, die für grobe Fahrlässigkeit spreche (RIS-Jusiz RS0106718 = 10 ObS 2338/96p):
Bereits in der Entscheidung 10 ObS 2338/96p (ARD 4827/34/97 = DRdA 1997/38, 318 [Windisch-Graetz]), die den Arbeitsunfall eines Bahnbediensteten bei einem Verschubvorgang betraf, hat der erkennende Senat nämlich festgehalten, für ein grobes Verschulden unter anderem spreche auch, wenn eine Kumulierung der Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften und eine besondere Gefahrensituation aufgrund schwieriger Bedingungen vorliege, und dabei auf Vorjudikatur (DRdA 1996/30 [Mosler]) verwiesen.
Nichts anderes kann im vorliegenden Fall gelten; wurden hier doch - wie bereits das Erstgericht zutreffend ausführt - schon „ganz einfache und naheliegende Überlegungen nicht angestellt" die dazu führen hätten müssen, dass schon angesichts der Bagger-, Bohr- und Rüttelarbeiten, die ja bis unmittelbar vor die gegenständliche (entgegen den unbeachteten Arbeitnehmerschutzvorschriften weder überprüfte noch abgesicherte) Ausschnittstelle reichten, die Möglichkeit eines Schadenseintritts als naheliegend erkannt worden wäre.
Da das Erstgericht das Vorliegen grober Fahrlässigkeit somit zu Recht bejaht hat, war die angefochtene Entscheidung im Sinn einer Wiederherstellung des klagestattgeben Ersturteiles abzuändern. Dabei war jedoch im Grundurteil der Hundertsatz der in Betracht kommenden Bemessungsgrundlage festzusetzen und unter Anwendung § 273 ZPO eine vorläufige Zahlung aufzutragen (stRsp; 10 ObS 304/02g; RS0115845 [T1] = RS0109917 [T2]; zuletzt: 10 ObS 413/02m), wobei die §§ 2 f der dafür maßgebenden Richtlinien der AUVA (SozSi 1991, 137 und 563) zu beachten waren (Grillberger, Österreichisches Sozialrecht6, 69; 10 ObS 17/95 mwN; RIS-Justiz RS0085437).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
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