OGH 10ObS45/03w

OGH10ObS45/03w4.3.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Wolf (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Leopold Smrcka (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Helmuth P*****, Tischler, ***** vertreten durch Dr. Gerda Mahler-Hutter, Rechtsanwältin in Berndorf, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. September 2002, GZ 9 Rs 206/02h-16, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 8. März 2002, GZ 3 Cgs 278/01m-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 9. 6. 1944 geborene Kläger hat den Beruf eines Tischlers erlernt. In den letzten 15 Jahren vor dem 1. 6. 2001 hat der Kläger als Montagetischler gearbeitet. Da der Kläger nur mehr mittelschwere Arbeiten in allen Körperhaltungen verrichten kann und bei der Tätigkeit eines Montagetischlers das Kalkül mittelschwer zeitweise überschritten wird, sind ihm Montagearbeiten nicht mehr möglich. Der Kläger wäre aber weiterhin in der Lage, als Tischler in Werkstätten in Gewerbebetrieben und in der industriellen Fertigung (Arbeiten an CNC-Maschinen, Endfertigung, Renovierung von Stilmöbeln) zu arbeiten.

Mit Bescheid vom 11. 9. 2001 hat die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter den Antrag des Klägers vom 30. 5. 2001 auf Gewährung der Invaliditätspension mit der Begründung abgelehnt, dass der Kläger in der Lage sei, weiterhin der in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend ausgeübten Tätigkeit nachzugehen, bzw seien ihm Änderungen innerhalb seines Tätigkeitsbereichs zumutbar.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Der Kläger könne den in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend ausgeübten Beruf eines Tischlers weiterhin ausüben. Auf die Bestimmung des § 255 Abs 4 ASVG habe sich der Kläger nicht berufen; die diesbezüglichen Voraussetzungen erfülle er am Stichtag 1. 6. 2001 noch nicht.

Das Berufungsgericht gab der auf Zuspruch einer Invaliditätspension nach § 255 Abs 4 ASVG ab 1. 7. 2001 gerichteten Berufung der klagenden Partei nicht Folge. Wohl wäre zu prüfen, ob beim Kläger die erleichterten Voraussetzungen für eine Invaliditätspension gemäß § 255 Abs 4 ASVG idF SVÄG 2000, BGBl I 2000/43, vorlägen. Der Kläger, der den Beruf eines Tischlers erlernt habe, könne weiterhin ohne Kalkülsüberschreitung als Tischler in Werkstätten, Gewerbebetrieben und in der industriellen Fertigung arbeiten. Er könne nur mehr den Tischlerberuf in der bisher ausgeübten Form eines Montagetischlers nicht mehr verrichten. Ein Wechsel in ein anderes arbeitskulturelles Umfeld, der einen anderen Tätigkeitsbereich als den bisherigen unzumutbar machen würde, müsse aber verneint werden, wenn der Kläger im Rahmen des von ihm erlernten und ausgeübten Berufs lediglich auf eine andere Berufssparte verwiesen werden könne. Somit könne auch die Vollendung des 57. Lebensjahres nicht zum Zuspruch der Invaliditätspension führen.

Dagegen richtet sich die Revision der klagenden Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des Eventualantrags berechtigt.

Vorweg ist festzuhalten, dass die Bezeichnung der beklagten Partei von Amts wegen von "Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter" auf "Pensionsversicherungsanstalt" zu berichtigen war, weil mit 1. 1. 2003 alle Rechte und Verbindlichkeiten der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter auf die neu errichtete Pensionsversicherungsanstalt als Gesamtrechtsnachfolger übergingen (§ 538a ASVG idF 59. ASVG-Nov BGBl I 2002/1).

Die Abweisung des auf Zuspruch einer Invaliditätspension vom 1. 6. 2001 bis 30. 6. 2001 gerichteten Begehrens ist mangels Anfechtung in der Berufung in Rechtskraft erwachsen. Strittig ist allein noch das Begehren auf Zuspruch einer Invaliditätspension unter den erleichterten Voraussetzungen nach § 255 Abs 4 ASVG ab 1. 7. 2001.

Zutreffend hat das Berufungsgericht dargestellt, dass dann, wenn eine Änderung des Gesundheitszustandes, eine Gesetzesänderung oder eine sonstige Änderung der Anspruchsvoraussetzungen (etwa auch die Erreichung eines bestimmten Lebensjahres, wenn dies zur Anwendung geänderter Voraussetzungen für den Anspruch auf die begehrte Leistung führt) während des aufgrund des Leistungsantrags eingeleiteten Verfahrens eintritt, die sich daraus ergebende Änderung bei der Entscheidung zu berücksichtigen ist. Es wird durch diese Änderungen, sofern sie für den erhobenen Anspruch von Bedeutung sind, ein neuer Stichtag ausgelöst und die Anspruchsvoraussetzungen sind zu diesem Stichtag zu prüfen (RIS-Justiz RS0085994 [T1] = RS0084533 [T1]). Da der am 9. 6. 1944 geborene Kläger zum Stichtag 1. 6. 2001 das für die Anwendung des § 255 Abs 4 ASVG erforderliche 57. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, sind die Leistungsvoraussetzungen zum 1. 7. 2001 zu prüfen.

Nach § 255 Abs 4 ASVG idF SVÄG 2000, BGBl I 2000/43, gilt als invalid der (die) Versicherte, der (die) das 57. Lebensjahr vollendet hat, wenn er (sie) infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte außerstande ist, einer Tätigkeit, die er (sie) in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Kalendermonate hindurch ausgeübt hat, nachzugehen. Dabei sind zumutbare Änderungen dieser Tätigkeit zu berücksichtigen.

In den Gesetzesmaterialien (Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales AB 187 BlgNR XXI. GP 3 f) wird die Neuregelung folgendermaßen begründet:

"Aufgrund des am 23. Mai 2000 verkündeten Urteils des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in der Rechtssache C-104/98, Buchner, wird die österreichische Rechtslage, nach der das Anfallsalter für die vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit (wegen Erwerbsunfähigkeit) für Frauen 55, für Männer 57 Jahre beträgt, als dem EG-Recht widersprechend angesehen, da dieser geschlechtsspezifische Unterschied der Richtlinie des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (Abl. 1979, L 6, S 24) widerspricht. Nach der vorhergehenden Judikatur des EuGH zu dieser Richtlinie hat dieses Urteil zur Folge, dass das benachteiligte Geschlecht solange Anspruch auf dieselben Vergünstigungen hat, als der nationale Gesetzgeber die EG-Widrigkeit nicht behoben hat. Daher haben de facto aufgrund dieses Urteils auch Männer einen Anspruch auf diese vorzeitige Alterspension bereits nach Vollendung des 55. Lebensjahres.

Mit Rücksicht darauf, dass im Entwurf eines SRÄG 2000 ohnehin die Aufhebung des § 253d ASVG samt Parallelbestimmung mit Wirksamkeit vom 1. Oktober 2000 vorgesehen ist, erweist es sich als notwendig, im Interesse der Rechtssicherheit sofort wirksame gesetzliche Maßnahmen zu setzen:

Entsprechend den im Entwurf eines SRÄG 2000 vorgesehenen Maßnahmen soll die vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit (wegen Erwerbsunfähigkeit) aufgehoben werden, und zwar bereits mit Wirksamkeit vom 1. Juli 2000. ...

Als flankierende Maßnahme zur Abfederung von Härten infolge der Aufhebung der vorzeitigen Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit (wegen Erwerbsunfähigkeit) soll unter einem der Berufsschutz für Personen, die das 57. Lebensjahr bereits vollendet und durch 10 Jahre während der letzten 15 Jahre vor dem Pensionsstichtag eine bestimmte Tätigkeit ausgeübt haben, verbessert werden. Können diese Personen aufgrund einer Krankheit (eines sonstigen Gebrechens) die besagte Tätigkeit nicht mehr ausüben, so gelten sie unter den erwähnten Voraussetzungen als invalid (berufs- bzw erwerbsunfähig), es sei denn, dass ihnen im konkreten Fall noch eine Änderung dieser Tätigkeit bzw eine Umorganisation des Betriebes in sachlicher wie personeller Hinsicht zugemutet werden kann".

Weiters wurde im Ausschuss für Arbeit und Soziales in der Sitzung vom 31. 5. 2000 mit Stimmenmehrheit folgende Ausschussfeststellung angenommen:

"Der Ausschuss für Arbeit und Soziales geht davon aus, dass mit § 255 Abs 4 (§ 273 Abs 3) ASVG insbesondere für ungelernte Arbeiter und Angestellte in niedrigen Verwendungsgruppen ein wirksamer Berufsschutz geschaffen werden soll. Ein anderer Tätigkeitsbereich als bisher ist jedenfalls unzumutbar, wenn er eine wesentliche Änderung des beruflichen Umfelds des Versicherten bedeuten würde wie zB das Anlernen gänzlich neuer Tätigkeiten oder der Verweis auf eine Tätigkeit, die in einem anderen arbeitskulturellen Umfeld erbracht werden muss (zB Bauhilfsarbeiter in die Textilbranche). Im Ergebnis soll mit der neuen Regelung auch bewirkt werden, dass entgegen der bisherigen Judikatur zu ungelernten Arbeiten die berufliche Entwicklung des Anspruchswerbers bei der Anspruchsprüfung berücksichtigt werden und beispielsweise für eine Person, die im Baubereich ungelernte Tätigkeiten verrichtet hat, der Verweis auf die Tätigkeit als Portier ausgeschlossen sein soll."

Der Oberste Gerichtshof hat in den Entscheidungen 10 ObS 185/02g, 10 ObS 352/02s und 10 ObS 367/02x bereits eingehend zu den Anspruchsvoraussetzungen des § 255 Abs 4 ASVG Stellung genommen. Der Gesetzgeber hat der auf einen reinen Tätigkeitsschutz hinweisenden Formulierung, wonach der Versicherte nicht mehr in der Lage sein darf, der "einen" durch mindestens 120 Kalendermonate hindurch ausgeübten Tätigkeit nachzugehen, den von Schrammel (Der Invaliditäts-/Berufsunfähigkeits- und Erwerbsunfähigkeitsbegriff nach dem SVÄG 2000, ecolex 2000, 886 ff [888]) zu Recht als "kryptisch" bezeichneten Satz angefügt: "Dabei sind zumutbare Änderungen dieser Tätigkeit zu berücksichtigen." (vgl auch Tomandl, Die Verweisung im Recht der Pensionsversicherung, in Tomandl [Hrsg], Wiener Beiträge zum Arbeits- und Sozialrecht Band 43 die Verweisung im Sozialrecht, 1 ff [6]). Aus den im Zuge der Beratungen des SVÄG 2000 im Ausschuss für Arbeit und Soziales getroffenen Feststellungen ergibt sich, dass ein anderer Tätigkeitsbereich als bisher jedenfalls unzumutbar ist, wenn er eine wesentliche Änderung des beruflichen Umfelds des Versicherten bedeuten würde wie zB das Anlernen gänzlich neuer Tätigkeiten oder der Verweis auf eine Tätigkeit, die in einem anderen arbeitskulturellen Umfeld erbracht werden muss (zB Bauhilfsarbeiter in die Textilbranche). Im Ergebnis soll mit der neuen Regelung auch bewirkt werden, dass entgegen der bisherigen Judikatur zu ungelernten Arbeitern nach § 255 Abs 3 ASVG die berufliche Entwicklung des Anspruchswerbers bei der Anspruchsprüfung berücksichtigt werden soll und beispielsweise für eine Person, die im Baubereich angelernte Tätigkeiten verrichtet hat, der Verweis auf die Tätigkeit als Portier ausgeschlossen sein soll.

Daraus ist zu folgern, dass es einerseits - anders als nach der Rechtslage zur Vorgängerbestimmung des § 253d ASVG - nach der neuen Bestimmung des § 255 Abs 4 ASVG nicht ausreicht, dass der Versicherte diese "eine" durch 10 Jahre während der letzten 15 Jahre hindurch ausgeübte Tätigkeit nicht mehr verrichten kann (vgl § 253d Abs 1 Z 4 ASVG: "durch diese Tätigkeit" - § 255 Abs 4 ASVG: "einer Tätigkeit"), dass aber andererseits nach § 255 Abs 4 ASVG insbesondere ein sonst in Betracht kommendes Verweisungsfeld auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nach § 255 Abs 3 ASVG wesentlich eingeschränkt werden soll. Die zumutbaren Änderungen der Tätigkeit sind somit offenkundig eng zu interpretieren (RIS-Justiz RS0100022 [T4]).

Wie der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 185/02g vom 17. 9. 2002 ausgeführt hat, muss eine Verweisung jedenfalls dann als zumutbar angesehen werden, wenn die Verweisungstätigkeit bereits bisher als eine Teiltätigkeit ausgeübt wurde und das Arbeitsumfeld dem bisherigen ähnlich ist (Schrammel aaO 889). Kriterien sind dabei neben dem arbeitskulturellen Umfeld unter anderem auch die Kontakte mit Mitarbeitern sowie die räumliche Situation, etwa ob die Arbeiten im Freien oder am Fließband auszuüben sind (vgl Röhrenbacher, Gedanken und Überlegungen zum neuen Invaliditätsbegriff, SozSi 2001, 846 ff [852]). Der Branche kann keine allein ausschlaggebende Bedeutung zukommen; sie kann aber bei der Konkretisierung des Umfelds eine Rolle spielen.

Da das Erstgericht eine Verweisbarkeit nach § 255 Abs 4 ASVG nicht geprüft hat, fehlt es an Feststellungen, die eine Beurteilung erlauben, inwieweit die vorgeschlagenen Verweisungstätigkeiten der in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 1. 7. 2001 ausgeübten Tätigkeit als Montagetischler ähnlich ist. Es ist daher notwendig, im fortgesetzten Verfahren einerseits Feststellungen dazu zu treffen, welche Tätigkeiten der Kläger als Montagetischler verrichtet hat und in welchem Arbeitsumfeld dies geschehen ist, andererseits Feststellungen dazu, welche Tätigkeit in den vorgeschlagenen Verweisungstätigkeiten auszuführen ist und in welchem Arbeitsumfeld dies geschieht.

Dazu bedarf es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz. In diesem Sinn sind die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache ist an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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