OGH 10ObS356/02d

OGH10ObS356/02d14.1.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Eveline Umgeher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Thomas Albrecht (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Margaretha W*****, Pensionistin, ***** vertreten durch Dr. Martina Schweiger-Apfelthaler, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1020 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10. Juli 2002, GZ 8 Rs 175/02t-26, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 20. Februar 2002, GZ 17 Cgs 71/01d-22, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Bei der am 5. 7. 1940 geborenen Klägerin liegt unter anderem eine seit der Geburt bestehende infantile Cerebralparese vor, deretwegen sie zur eigenständigen Lebensführung überwiegend auf den selbständigen Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen ist. Der Transfer in und aus dem Rollstuhl ist ohne fremde Hilfe nicht möglich. Eine deutliche Funktionsminderung der oberen Extremitäten ist nicht gegeben.

Mit Bescheid vom 15. 2. 2001 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 31. 10. 2000 auf Erhöhung des ab 1. 1. 1994 in Höhe der Stufe 4 gewährten Pflegegelds ab.

Das Erstgericht sprach der Klägerin Pflegegeld der Stufe 5 zu. In seiner rechtlichen Beurteilung ging es davon aus, dass die Voraussetzungen für eine diagnosebezogene Einstufung vorlägen, da die Klägerin aufgrund der infantilen Cerebralparese zur eigenständigen Lebensführung überwiegend auf den selbständigen Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen sei. Bei der Auslegung der Wortfolge "ein deutlicher Ausfall der Funktionen der oberen Extremitäten" sei ausschlaggebend, ob der Betroffene in der Lage sei, sich selbst, also ohne fremde Hilfe, vom Bett in den Rollstuhl zu setzen und umgekehrt. Liege eine derart schwere Beeinträchtigung der oberen Extremitäten vor, dass zum Transfer in und aus dem Rollstuhl die Hilfe einer anderen Person notwendig sei, sei die Mindesteinstufung in Stufe 5 gerechtfertigt. Verfassungsrechtliche Überlegungen zum Gleichheitssatz würden es verbieten, bei Vorliegen der Unmöglichkeit des Transfers in und aus dem Rollstuhl einen Pflegebedarf der Stufe 5 nur dann anzunehmen, wenn dieser Transfer nur wegen des deutlichen Ausfalls von Funktionen der oberen Extremitäten nicht möglich sei. Vielmehr liege ein Pflegebedarf der Stufe 5 auch dann vor, wenn aus anderen körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderungen der Transfer in und aus dem Rollstuhl nicht mehr möglich sei. Das Berufungsgericht gab der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil im Sinne einer Abweisung des Begehrens auf Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 5 ab. In rechtlicher Hinsicht führte es aus:

"Zwar teilt das Berufungsgericht die Bedenken des Erstgerichtes, dass die Frage aus welchen Gründen ein Transfer in und aus dem Rollstuhl dem Pflegegeldwerber unmöglich ist, ihre Rechtfertigung haben, es vermeint jedoch andererseits, dass all diese Bedenken dem Obersten Gerichtshof anlässlich seiner Entscheidungen bereits bekannt waren und der Oberste Gerichtshof bewusst davon ausgegangen ist, dass die Frage des Transfers in und aus dem Rollstuhl nur im Zusammenhang mit den oberen Extremitäten des jeweiligen Pflegegeldwerbers betrachtet werden kann. Da ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten bei der Klägerin nicht vorliegt und der Transfer in und aus dem Rollstuhl aufgrund anderer gesundheitlicher Probleme nicht möglich ist, ist in einem solchen Fall keine diagnosebezogene Einstufung vorgesehen. Insgesamt erweist sich die Berufung damit als gerechtfertigt, weshalb spruchgemäß zu entscheiden war."

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die Revision geht in erster Linie davon aus, dass für die Bewertung der Gebrauchsunfähigkeit der oberen Extremitäten die Fähigkeit des Betroffenen ausschlaggebend sei, sich selbst, also ohne Hilfe, vom Bett in den Rollstuhl zu setzen und umgekehrt. Auf den Grund des Unvermögens komme es nicht an. Demzufolge könnten auch internistische Leiden wie die bei der Klägerin bestehende Atemnot und cardiale Erkrankungen eine praktische Gebrauchsunfähigkeit der oberen Extremitäten bewirken, indem ein selbständiger Transfer in und aus dem Rollstuhl unmöglich gemacht werde. Die Klägerin könne aufgrund der angeführten Leiden und dem zu hohen Körpergewicht diesen Transfer nicht mehr bewältigen, sodass sie die oberen Extremitäten nicht mehr zielgerichtet und bestimmungsgemäß in ihrer eigentümlichen Funktion - nämlich für die Mobilität in und aus dem Rollstuhl - einsetzen könne. In der höchstgerichtlichen Rechtsprechung werde dem Begriff "Ausfall der oberen Extremitäten" allein der Beurteilungsmaßstab zugrunde gelegt, ob sich der Betroffene selbständig aus dem Rollstuhl transferieren könne. Da dies nach den Feststellungen nicht mehr möglich sei, sei ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand gemäß § 4a Abs 3 BPGG anzunehmen.

Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden.

§ 4a BPGG idF BGBl I 1998/111 und 2001/69 sieht bei bestimmten Diagnosen und damit verbundenen Funktionsausfällen Mindesteinstufungen vor. So ist nach § 4a Abs 1 BPGG bei Personen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und aufgrund einer Querschnittlähmung, einer beidseitigen Beinamputation, einer genetischen Muskeldystrophie, einer Encephalitis disseminata oder einer infantilen Cerebralparese zur eigenständigen Lebensführung überwiegend auf den selbständigen Gebrauch eines Rollstuhls oder eines technisch adaptierten Rollstuhls angewiesen sind, mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 3 anzunehmen. Liegt bei solchen Personen eine Stuhl- oder Harninkontinenz bzw eine Blasen- oder Mastdarmlähmung vor, ist mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 4 anzunehmen (§ 4a Abs 2 BPGG); liegt ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten vor, ist mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 5 anzunehmen (§ 4a Abs 3 BPGG).

Die Klägerin ist aufgrund einer infantilen Cerebralparese zur eigenständigen Lebensführung überwiegend auf den selbständigen Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen. Strittig ist, ob bei ihr auch "ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten" vorliegt.

Diese Wortfolge war bereits in dem durch BGBl II 1999/37 aufgehobenen § 8 Z 3 EinstV (BGBl 1993/314) zum BPGG enthalten. Demnach waren bei Personen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sind, ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG mindestens ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand anzunehmen (das entspricht der Pflegegeldstufe 5), "wenn ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten gegeben ist".

Der Oberste Gerichtshof hat § 8 Z 3 EinstV idF BGBl 1993/314 dahin ausgelegt, dass ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten anzunehmen ist, wenn dem Betroffenen ein selbständiger Transfer in und aus dem Rollstuhl nicht mehr möglich ist (10 ObS 128/97i = SZ 70/83 = SSV-NF 11/54; RIS-Justiz RS0107432, RS0106390 [T5]).

Die in § 4a Abs 3 BPGG enthaltene Wortfolge "ein deutlicher Ausfall der Funktionen der oberen Extremitäten" wurde aus dem früheren § 8 Z 3 EinstV (idF vor BGBl II 1999/37) übernommen. Die Judikatur zu § 8 Z 3 EinstV (idF vor BGBl II 1999/37) wurde nach den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage der BPGG-Novelle 1998 (RV 1186 BlgNR 20. GP 12) dem § 4a Abs 3 BPGG zugrunde gelegt. Nach den Gesetzesmaterialien soll eine Mindesteinstufung in Stufe 5 dann gerechtfertigt sein, wenn neben dem aktiven Gebrauch eines Rollstuhls "eine derart schwere Beeinträchtigung der oberen Extremitäten vorliegt, dass zum Transfer in und aus dem Rollstuhl die Hilfe einer anderen Person notwendig ist". Im Hinblick auf die Gesetzesintention besteht kein Anlass, von der seinerzeit zu § 8 Z 3 EinstV alt entwickelten Judikatur abzugehen (10 ObS 111/01y).

Den zu § 8 Z 3 EinstV (idF vor BGBl II 1999/37) ergangenen Entscheidungen lag aber jeweils zugrunde, dass die oberen Extremitäten selbst unmittelbar - etwa durch Lähmungen - beeinträchtigt waren. Nach den in den Entscheidungen 10 ObS 2474/96p (DRdA 1997/45, Pfeil), 10 ObS 128/97i (SZ 70/83 = SSV-NF 11/54), 10 ObS 241/97g (ARD 4942/11/98), 10 ObS 285/97b (ARD 4942/13/98), 10 ObS 292/97g (SSV-NF 11/103), 10 ObS 377/97g, 10 ObS 416/97t und 10 ObS 111/01y wiedergegebenen Feststellungen litten die dortigen Kläger bzw Klägerinnen an einem Zustand nach Schlaganfall bzw Stammganglienblutung mit einer Lähmung und damit verbundener Gebrauchsunfähigkeit einer der oberen Extremitäten. Der Kläger im Verfahren 10 ObS 22/98b (ARD 4975/33/98) litt beiderseits an einer deutlich ausgebildeten Schultersteife mit deutlicher Bewegungseinschränkung und Schmerzhaftigkeit bei Bewegungen. Im Fall 10 ObS 2349/96f (SZ 69/278) lag eine polyarthritisbedingte Kraftlosigkeit und Bewegungseinschränkung im Bereich beider Hände und beider Schulter- und Ellbogengelenke vor, im Fall 10 ObS 2396/96t (SSV-NF 10/131) eine Atrophie der Arme.

Entgegen der Ansicht der Revisionswerberin entspricht es keineswegs der bisherigen Judikatur, dass nicht auf den Grund des Unvermögens abgestellt, würde, sich selbst vom Bett in den Rollstuhl zu setzen und umgekehrt. In keinem Fall wurde ausgesprochen, dass beispielsweise internistische Leiden wie Atemnot oder cardiale Erkrankungen eine "praktische" Gebrauchsunfähigkeit der oberen Extremitäten bewirken und damit gemäß § 4a Abs 3 BPGG eine Einstufung in die Pflegegeldstufe 5 nach sich ziehen würden. Vielmehr wurde immer auf die unmittelbare Gebrauchsunfähigkeit der oberen Extremitäten abgestellt.

Auch aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber in § 4a Abs 3 BPGG die beschriebene Wortfolge (und nicht etwa die Wortfolge "wenn zum Transfer in und aus dem Rollstuhl die Hilfe einer anderen Person notwendig ist") verwendet hat, ist zu schließen, dass es ihm tatsächlich auf eine unmittelbare und nicht bloß mittelbare Beeinträchtigung der oberen Extremitäten ankam.

Im Hinblick darauf, dass deutliche Funktionsminderung der oberen Extremitäten ist nicht gegeben ist, besteht kein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 5.

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

Stichworte