OGH 10ObS22/98b

OGH10ObS22/98b20.1.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Steinbauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter MR Dr.Werner Hartmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Erwin Macho (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Albin W*****, Pensionist, ***** vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr.Andreas Grundei, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeldes, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 30. Oktober 1997, GZ 7 Rs 198/97k-13, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 28.April 1997, GZ 36 Cgs 345/95v-9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Text

Begründung

Der am 7.12.1924 geborene Kläger ist zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen. An seinen oberen Extremitäten findet sich beiderseits eine deutlich ausgebildete Periarthropathia humeroscapularis (Schultersteife) mit deutlicher Bewegungseinschränkung und Schmerzhaftigkeit bei Bewegungen. An der linken unteren Extremität findet sich eine hochgradige Coxarthrose bei Zustand nach einer Hüftoperation mit Beugekontraktur und ausgeprägter Bewegungseinschränkung und eine ausgeprägte Muskelatrophie des gesamten Beines. An der rechten unteren Extremität finden sich ebenfalls Zeichen einer Coxarthrose und Gonarthrose am Kniegelenk. Der Kläger leidet nach einer Prostata-Operation an einem Harnnachtröpfeln, eine Einlage ist jedoch nicht nötig, eine Inkontinenz besteht nicht. Der Kläger benötigt Betreuung bzw Hilfe bei der täglichen Körperpflege, bei der Zubereitung und bei der Einnahme von Mahlzeiten, beim Aufsuchen der außer Haus befindlichen Toilette, bei der Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten und Mobilitätshilfe im engeren Sinn. Das Verrichten der Notdurft ist ihm zumutbar, wobei er eine Schüssel benützt. Er bezieht seit 1995 Pflegegeld in Höhe der Stufe 3.

Mit Bescheid vom 23.11.1995 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 27.9.1995 auf Erhöhung des Pflegegeldes ab.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene Klagebegehren ab. Es stellte über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus noch fest, daß der Kläger Hilfe beim Hineinsetzen in den Rollstuhl, beim Aufstehen aus dem Rollstuhl, beim Aufsuchen des Bettes und beim Ausziehen der orthopädischen Schuhe benötige und daß ein außergewöhnlicher Pflegebedarf bestehe, d.h. die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich sei.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahin, daß der gesamte Pflegebedarf des Klägers nach den §§ 1 und 2 EinstV 170 Stunden monatlich betrage. Gemäß § 4 Abs 2 BPGG gebühre Pflegegeld einer höheren Stufe als der Stufe 3 aber nur dann, wenn der ständige Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich betrage.

Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil dahin ab, daß es dem Kläger ab 1.9.1995 Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 von S 11.591,-- zuerkannte. Aus den Feststellungen ergebe sich im Sinne des § 8 Z 3 EinstV, daß der Kläger zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen sei und daß ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten vorliege. Es sei daher keine funktionsbezogene, sondern eine diagnosebezogene Einstufung in die Stufe 5 vorzunehmen.

Die Revision der beklagten Partei ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Entscheidend für die Einstufung des Klägers nach § 4 Abs 2 BPGG ist nach der Bestimmung des § 8 Z 3 EinstV, ob ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten gegeben ist. Diese Anspruchsvoraussetzung kann, wie der Senat wiederholt dargelegt hat (10 ObS 87/97k, 10 ObS 128/97i, 10 ObS 173/97g, 10 ObS 241/97g, 10 ObS 266/97h, 10 ObS 292/97g, 10 ObS 416/97t), auch dann angenommen werden, wenn zwar nur ein Arm gelähmt, daß heißt praktisch gebrauchsunfähig ist, der (die) Betroffene jedoch nicht mehr in der Lage ist, sich von selbst - also ohne fremde Hilfe - vom Bett in den Rollstuhl zu setzen und umgekehrt. Ist der (die) Betroffene wegen des Ausfalls der Funktionen auch nur einer oberen Extremität dazu nicht mehr in der Lage, dann sind die Voraussetzungen nach § 8 Z 3 EinstV anzunehmen. Auch § 22 Abs 4 der Richtlinien des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger (SozSi 1994, 686 - Amtliche Verlautbarung Nr 120/1994) hält einen Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und einen außergewöhnlichen Pflegeaufwand (also die Pflegegeldstufe 5) dann für gegeben, wenn "der selbständige Transfer in und aus dem Rollstuhl wegen eines deutlichen Ausfalles der Funktionen der oberen Extremitäten nicht mehr möglich ist." Der Senat hält diese Umschreibung für sachgerecht und legt § 8 Z 3 EinstV in diesem Sinn aus.

Ob der Kläger in der Lage ist, sich von selbst, also ohne fremde Hilfe vom Bett in den Rollstuhl zu setzen und umgekehrt, ist nach den vorliegenden Beweisergebnissen und Feststellungen nicht sicher zu beantworten: Einerseits schilderte der orthopädische Sachverständige, er habe den Kläger in einem Rollstuhl angetroffen; das Aufstehen aus dem Rollstuhl sei ihm möglich, unter Anhalten an den Möbeln gelinge es ihm mühsam, einige Schritte zu gehen. Andererseits führte der Sachverständige dann aus, der Kläger benötige Hilfe beim Hinsetzen in den und beim Aufstehen aus dem Rollstuhl. Diese - von der Revisionswerberin zutreffend aufgezeigte - Diskrepanz wurde im Verfahren erster Instanz nicht erörtert; nach der Rechtsansicht des Erstgerichts, das eine funktionsbezogene Einstufung iS der §§ 1 und 2 EinstV, nicht jedoch eine diagnosebezogene Einstufung nach § 8 Z 3 EinstV vornahm, kam dieser Frage offenbar auch keine besondere Bedeutung zu. Die in erster Instanz siegreiche beklagte Partei war auch nicht genötigt, im Berufungsverfahren die für sie nachteilige Feststellung des Erstgerichtes über die Einschränkung der Funktionen der oberen Extremitäten zu bekämpfen (SSV-NF 7/31).

Die Urteile der Vorinstanzen leiden daher an einem Feststellungsmangel, der eine abschließende rechtliche Beurteilung verwehrt. Da es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

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