OGH 10ObS292/97g

OGH10ObS292/97g9.9.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Brigitte Augustin (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Kopecky (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Gertrude K*****, Pensionistin, ***** vertreten durch Braunegg, Hoffmann & Partner, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr.Hans Pernkopf, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16.April 1997, GZ 7 Rs 235/96x-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 16.April 1996, GZ 30 Cgs 17/96a-10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Erstgerichtes wird mit der Maßgabe wieder hergestellt, daß es insgesamt zu lauten hat:

Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin ab 1.7.1995 statt dem bisher gewährten Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 von S 3.688,-

monatlich ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 von S 5.690,- monatlich zu zahlen.

Das Mehrbegehren auf Zahlung eines höheren Pflegegeldes wird abgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin die mit S 2.749,12 bestimmten Prozeßkosten in erster Instanz (hierin enthalten S 40,- und S 451,52 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens und des Revisionsverfahren selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 25.1.1943 geborenen Klägerin wurde mit Bescheid der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten vom 14.11.1995 ab 1.7.1995 ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 von S 3.688,- monatlich zuerkannt. Im vorliegenden Rechtsstreit begehrt die Klägerin ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 5: Ihr Pflegebedarf liege über 180 Stunden im Monat, sie sei halbseitig gelähmt und auch sprachgestört.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin ab 1.7.1975 ein Pflegegeld der Stufe 3 "im gesetzlichen Ausmaß" zu zahlen und wies das Mehrbegehren ab. Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Die Klägerin leidet an einem Zustand nach einem Schlaganfall mit völliger Gebrauchsunfähigkeit des rechten Armes und des rechten Beines sowie Sprachstörung. Hinsichtlich der linken oberen Extremität besteht kein Ausfall. Die Klägerin kann allein essen, wenn ihr die Nahrung mundgerecht vorgeschnitten wird, und auch allein trinken. Sie lebt allein in ihrer Wohnung und bezieht Essen auf Rädern. Sie kann sich allein einen Trainingsanzug oder einen Schlafzug anziehen, jedoch nicht Strümpfe, Strumpfhosen, Büstenhalter oder Schuhe. Ohne fremde Hilfe kann sie einen Rock mit einem Gummi oder einen sehr lockeren Pullover anziehen, nicht aber einen engen Pullover. Ohne fremde Hilfe kann sie sich auch nicht vollständig für das Verlassen der Wohnung ankleiden, da sie keine Knöpfe öffnen und schließen, keine Bänder binden und keinen Zippverschluß zusammenstecken kann. Sie kann allein die Toilette aufsuchen und sich anschließend reinigen, sie kann auch einhändig Hände und Gesicht waschen, für die gründliche Körper- reinigung bedarf sie der Hilfe. Nicht möglich sind Hausarbeiten, das Waschen der Wäsche, das Zubereiten einer kompletten Nahrung sowie das Einkaufen von Lebensmitteln. Die Zentralheizung kann selbst bedient werden. Die Klägerin ist zur Fortbewegung innerhalb und außerhalb ihrer Wohnung auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen. Innerhalb der Wohnung kann sie den Rollstuhl allein dirigieren und ihren Bewegungsradius mit Hilfe des Rollstuhles in der Wohnung wesentlich erweitern. Sie kann sich auch ohne fremde Hilfe allein aus dem Bett in den Rollstuhl hineinsetzen und auch vom Rollstuhl zurück ins Bett begeben, indem sie mit dem Rollstuhl ans Bett heranfährt und sich "hinübergleiten" läßt. Die Klägerin hat diese Techniken im Rahmen ihrer Rehabilitation erlernt, wobei auch ihr (relativ geringes) Alter und ihre positive Einstellung eine Rolle spielen. Außerhalb der Wohnung muß der Rollstuhl von einer Hilfsperson geschoben werden. Eine Inkontinenz liegt nicht vor, ebensowenig eine Blasen- oder Mastdarmlähmung. In der Kontaktaufnahme zu anderen Personen, insbesondere beim Telefonieren ist die Klägerin deutlich beeinträchtigt.

Diesen Sachverhalt beurteilte das Erstgericht rechtlich dahin, daß die Klägerin zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sei, weshalb nach § 8 Z 1 der Einstufungsverordnung zum BPGG (EinstV) mindestens ein Pflegebedarf von durch- schnittlich mehr als 120 Stunden monatlich anzunehmen sei. Funktionsbezogen ergebe sich ein Pflegebedarf von 130 Stunden monatlich. Eine höhere Einstufung scheitere daran, daß die Klägerin weder an einer Stuhl- oder Harninkontinenz noch einer Blasen- oder Mastdarmlähmung leide (§ 8 Z 2 EinstV) und daß auch nicht von einem deutlichen Ausfall von Funtionen der oberen Extremitäten (§ 8 Z 3 EinstV) auszugehen sei. Könne ein Pflegegeldwerber trotz eines teilweisen Ausfalles der oberen Extremitäten den Transfer in und aus den Rollstuhl noch allein bewältigen, so habe er bei funktionsbezogener Einstufung in der Regel keinen Pflegebedarf von über 180 Stunden und auch keinen außergewöhnlichen Pflegeaufwand im Sinne einer dauernden Bereitschaft einer Pflegeperson. Da die Klägerin trotz kompletter Lähmung der rechten oberen Extremität sich noch selbst in den Rollstuhl setzen und auch herausbewegen könne, liege kein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten im Sinne des § 8 Z 3 EinStV vor.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und erkannte ihr Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 zu. Es stellte ergänzend fest, daß die Klägerin die Techniken des Fahrens mit dem mechanischen (nicht elektrischen) Rollstuhl im Rehabilitationszentrum erlernt habe und mit der linken Hand in der Wohnung den Rollstuhl bewegen und mit der Fußspitze steuern könne, was aber im Freien nicht möglich sei. Im übrigen erachtete es die Voraussetzung nach § 8 Z 3 EinstV für gegeben. weil nicht erforderlich sei, daß von dem Ausfall beide oberen Extremitäten betroffen sein müßten.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem (erkennbaren) Antrag, die Entscheidung der ersten Instanz wieder herzustellen.

Die Klägerin erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.

Die Revision ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Nach § 4 Abs 5 (nunmehr Abs 3) BPGG können nähere Bestimmungen für die Beurteilung des Pflegebedarfes durch Verordnung festgelegt werden, unter anderem Mindesteinstufungen für bestimmte Gruppen von behinderten Personen mit einem weitgehend gleichartigen Pflegebedarf. Nach § 8 der EinstV zum BPGG, BGBl 1993/314 (EinstV) ist bei Personen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sind, mindestens folgender Pflegebedarf ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG anzunehmen: 1. Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 120 Stunden monatlich, wenn kein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten und weder eine Stuhl- oder Harninkontinenz noch eine Blasen- oder Mastdarmlähmung vorliegen (entspricht Stufe 3); 2. Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich, wenn kein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten, jedoch eine Stuhl- oder Harninkontinenz bzw eine Blasen- oder Mastdarmlähmung vorliegen (entspricht Stufe 4); 3. Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand, wenn ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten gegeben ist (entspricht Stufe 5).

Während das BPGG und die EinstV grundsätzlich vom Konzept der funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfes ausgehen, dh von der individuell erforderlichen Betreuung und Hilfe, so werden für bestimmte Behindertengruppen mit weitgehend gleichartigem Pflegebedarf - insoweit diagnosebezogen - Mindesteinstufungen im Verordnungsweg vorgenommen (Gruber/Pallinger BPGG Rz 59 zu § 4; Feil, BPGG 99; 10 ObS 2349/96f uva).

Eine nähere Umschreibung der in § 8 EinstV geregelten Einstufungsvoraussetzungen versucht § 22 der vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger erlassenen Richtlinien für die einheitliche Anwendung des BPGG nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG, veröffentlicht in SozSi 1994, 686 ff - Amtliche Verlautbarung Nr.120/1994. Danach kann die diagnosebezogene Einstufung bei Menschen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen sind, dann erfolgen, wenn der Betroffene weitgehend selbständig in der Lage ist, seinen Bewegungs- radius zu erweitern und seinen Lebenslauf möglichst eigenständig zu gestalten (Abs 2). Dies gelte jedoch nicht, wenn der Rollstuhl wegen zunehmender Gebrechlichkeit oder ähnlicher Leidenszustände angeschafft wurde, um den Betroffenen durch andere Menschen fortzubewegen (Abs 3). Der Oberste Gerichtshof hat wiederholt mit ausführlicher Begründung dargelegt, daß diese Richtlinien des Hauptver- bandes zwar im Hinblick auf den einheitlichen Vollzug des BPGG von den davon erfaßten Entscheidungsträgern anzuwenden sind, jedoch keine verbindliche Kraft für die in Sozialrechtssachen berufenen Gerichte beanspruchen können (10 ObS 2349/96f, 10 ObS 2396/96t, 10 ObS 2474/96p ua). An dieser Auffassung ist festzuhalten. Es ist zwar richtig, daß § 8 EinstV vor allem jene Personen zu unterstellen sind, die mit Hilfe des Rollstuhles ihren Bewegungsradius erweitern können und dadurch in die Lage versetzt werden, Verrichtungen, wie sie in den §§ 1 und 2 EinstV vorgesehen sind, (weitgehend) eigenständig vorzunehmen. Gerade im Hinblick auf § 8 Z 3 EinstV, wo von einem deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten die Rede ist, aber auch unter Berücksichtigung des Zweckes des Pflegegeldes (§ 1 BPGG) kann es nach Meinung des Senates nicht ausschlaggebend sein, ob der oder die Betroffene sich mit dem Rollstuhl (weitgehend) selbständig bewegen kann oder ob dieser durch andere Menschen fortbewegt werden muß. Der Unterscheidung zwischen sogenannten "aktiven" und "passiven" Rollstuhlfahrern wurde daher für die Einstufung nach § 8 EinstV keine Rechtserheblichkeit zuerkannt (10 ObS 2349/96 f ua).

Im vorliegenden Fall ist die Klägerin nach den Feststellungen auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen, mit dem sie sich innerhalb der Wohnung, nicht jedoch außerhalb derselben allein fortbewegen kann. Abgesehen von der Frage, ob sie sich außerhalb ihrer Wohnung nicht mit einem elektrisch betriebenen Rollstuhl allein fortbewegen könnte, kommt diesen Umstand keine entscheidende Bedeutung zu. Zu prüfen ist lediglich, ob die Klägerin nach § 8 Z 3 EinstV einzustufen ist, ob also bei ihr ein "deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten gegeben ist". Diese Anspruchsvoraussetzung kann, wie der Senat wiederholt dargelegt hat (10 ObS 87/97k, 10 ObS 128/97i, 10 ObS 173/97g, 10 ObS 266/97h), auch dann angenommen werden, wenn zwar nur ein Arm gelähmt, dh praktisch gebrauchsunfähig ist, der (die) Betroffene jedoch nicht mehr in der Lage ist, sich von selbst - also ohne fremde Hilfe - vom Bett in den Rollstuhl zu setzen und umgekehrt. Ist der (die) Betroffene wegen des Ausfalls der Funktionen auch nur einer oberen Extremität dazu nicht mehr in der Lage, dann sind die Voraussetzungen nach § 8 Z 3 EinstV anzunehmen. Auch § 22 Abs 4 der oben zitierten Richtlinien des Hauptverbandes hält einen Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und einen außergewöhnlichen Pflegeaufwand (also die Pflegegeldstufe 5) dann für gegeben, wenn "der selbständige Transfer in und aus dem Rollstuhl wegen eines deutlichen Ausfalles der Funktionen der oberen Extremitäten nicht mehr möglich ist". Der Oberste Gerichtshof hält diese Umschreibung für sachgerecht und legt § 8 Z 3 EinstV in diesem Sinne aus (so bereits 10 ObS 128/97i). Ist jedoch die betroffene Person trotz des deutlichen Ausfalls von Funktionen einer oberen Extremität noch in der Lage, sich von selbst - also ohne fremde Hilfe - vom Bett in den Rollstuhl zu setzen und umgekehrt, ist also mit anderen Worten der selbständige Transfer in und aus dem Rollstuhl noch möglich, dann sind die Voraussetzungen nach § 8 Z 3 EinstV nicht erfüllt.

Nach den Feststellungen ist die Klägerin einerseits auf Grund ihrers Alters und ihrer positiven Einstellung, andererseits auf Grund eines speziellen Trainings im Rahmen der Rehabilitation in der Lage, sich ohne fremde Hilfe vom Bett in den Rollstuhl zu setzen und umgekehrt. Die diagnosebezogene Einstufung nach § 8 Z 1 EinstV führt daher zu einem Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 120 Stunden monatlich und damit zu einem Pflegegeld in Höhe der Stufe 3. Zu demselben Ergebnis gelangte man bei einer funktionsbezogenen Einstufung: Wie das Erstgericht zutreffend ausgeführt hat, würde sich unter Beachtung der §§ 1 und 2 EinstV ein Pflegebedarf der Klägerin von 130 Stunden monatlich errechnen, auf keinen Fall ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich, der für eine höhere Einstufung als eine solche der Stufe 3 erforderlich wäre. In Stattgebung der Revision war das Urteil des Erstgerichtes wieder herzustellen. Aus diesem Anlaß war jedoch die Wendung "im gesetzlichen Ausmaß" im Sinne der ziffernmäßigen Beträge zu verdeutlichen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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