Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin die mit S 4.058,88 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 676,48 USt) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am 18.2.1906 geborene, bei der beklagten Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft versichert gewesene Pensionistin Maria F***** litt an einem Zustand nach apoplektischem Insult mit armbetonter Hemiparese rechts, an Cerebralsklerose, Hypertonie, koronarer Herzkrankheit, Aortenklappensklerose, Zuckerkrankheit und an der Parkinsonschen Krankheit. Infolge dessen brauchte sie fremde Hilfe bei der täglichen Körperpflege, der Zubereitung einfacher warmer Mahlzeiten, der Verrichtung der Notdurft, beim An- und Auskleiden, für die Verabreichung von Einläufen, für die Reinigung bei teilweise bestehender Harn- und Stuhlinkontinenz und zum Verabreichen der Medikamente. Aufgrund der Halbseitenlähmung konnte sie die Mahlzeiten nur mit der linken Hand einnehmen. Fremde Hilfe brauchte sie auch bei der Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, dem Waschen der Leib- und Bettwäsche, der Beheizung der Wohnung sowie Mobilitätshilfe im weiteren Sinn. Sie war nicht vollständig bettlägerig, verbrachte aber wegen ihrer allgemeinen Schwäche einen Großteil des Tages im Bett. Sie konnte sich nicht alleine aufsetzen und war nicht alleine steh- und gehfähig. Sie verfügte über einen Rollstuhl, mit dem kleine Spazierfahrten gemacht wurden, sie war allerdings nicht in der Lage, diesen Rollstuhl selbst zu betätigen. Nachts mußte sie zwei- bis dreimal umgelagert werden, eine dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson war jedoch nicht notwendig. Maria F***** verstarb am 12.4.1996 im Alter von 90 Jahren. Die nunmehrige Klägerin, ihre Enkelin, ist zur Fortsetzung des Verfahrens berechtigt.
Mit Bescheid vom 11.7.1995 sprach die Beklagte aus, daß ab 1.5.1995 ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 von monatlich S 5.690,-- gebühre.
Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren teilweise Folge und verpflichtete die Beklagte ab 1.7.1995 zur Zahlung eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 4 von S 8.535,-- monatlich. Das auf Gewährung eines höheren Pflegegeldes gerichtete Mehrbegehren wurde abgewiesen. Es gelangte zu dem Ergebnis, daß aufgrund eines Betreuungsaufwandes von monatlich insgesamt 190 Stunden ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 zustehe. Ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 würde einen außergewöhnlichen Pflegeaufwand erfordern, der nach § 6 EinstV nur dann vorliege, wenn die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson erforderlich wäre, was hier nicht der Fall sei. Auch die Voraussetzungen des § 8 EinstV ("bei Personen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sind") seien nicht gegeben, weil die Pensionstin nicht in der Lage gewesen sei, sich selbst mit dem Rollstuhl fortzubewegen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, nicht jedoch der Berufung der Beklagten. Es änderte das Urteil des Erstgerichtes dahin ab, daß es die Beklagte schuldig erkannte, der eintrittsberechtigten Klägerin Pflegegeld der Stufe 5 für den Zeitraum vom 1.7.1995 bis einschließlich 30.4.1996 von monatlich S 11.591,-- abzüglich schon geleisteter Zahlungen zu zahlen. Es traf nach ergänzender Beweisaufnahme in der mündlichen Berufungsverhandlung die ausdrückliche Feststellung, daß die verstorbene Pensionistin aufgrund ihres Gesundheitszustandes zur Fortbewegung auf den Gebrauch eines Rollstuhl angewiesen gewesen sei. Der rechte Arm habe eine spastische Parese mit deutlich herabgesetzter grober Kraft gezeigt. Der Faustschluß rechts sei nicht möglich gewesen. Die Beweglichkeit des rechten Schultergelenkes und des rechten Ellenbogengelenkes sei mit mehr als der Hälfte eingeschränkt gewesen. Aus diesen Feststellungen folgerte das Berufungsgericht, daß auch ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten bestanden habe. Nach § 8 Z 3 EinstV sei bei Personen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen seien, ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG mindestens ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand anzunehmen, wenn ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten gegeben sei. Dabei könne nicht ausschlaggebend sein, ob der Betreffende sich mit dem Rollstuhl weitgehend selbständig bewegen könne oder nicht. § 22 der vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger erlassenen Richtlinien für die einheitliche Anwendung des BPGG sei insoweit gesetzeskonform auszulegen und so zu verstehen, daß die diagnosebezogene Einstufung bei Menschen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen sind, insbesondere dann erfolgen könne, wenn der Betroffene weitgehend selbständig in der Lage sei, seinen Bewegungsradius zu erweitern und seinen Lebenslauf möglichst eigenständig zu gestalten. Es gebühre daher nach § 8 Z 3 EinstV Pflegegeld in Höhe der Stufe 5, allerdings nur bis zu dem Monat, in dem die Pensionistin verstorben sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Sie beantragt die Abänderung dahin, daß das Klagebegehren, soweit es auf ein die Stufe 4 übersteigendes Pflegegeld gerichtet sei, abgewiesen werde.
Die Klägerin erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht berechtigt.
Die Beklagte vertritt im wesentlichen die Auffassung, die diagnosebezogene Einstufung des § 8 EinstV scheide schon deshalb aus, weil die Betroffene nicht weitgehend selbständig in der Lage gewesen sei, mit dem Rollstuhl ihren Bewegungsradius zu erweitern, sondern weil der Rollstuhl lediglich angeschafft worden sei, um die Betroffene durch andere Menschen fortzubewegen. Insoweit verweist die Revision auf entsprechende Bestimmungen (§ 22 Abs 2 und 3) der Richtlinien des Hauptverbandes für die einheitliche Anwendung des BPGG. Wenngleich der Pflegebedarf mehr als 180 Stunden monatlich betragen habe, sei doch ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand nicht erforderlich gewesen, weshalb nur Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 gebühre.
Diesen Ausführungen kann nicht beigestimmt werden.
Nach § 4 Abs 5 (nunmehr Abs 3) BPGG ist der Bundesminister für Arbeit und Soziales unter anderem ermächtigt, Mindesteinstufungen für bestimmte Gruppen von behinderten Personen mit einem weitgehend gleichartigen Pflegebedarf vorzunehmen. Nach § 8 der Einstufungsverordnung zum BPGG, BGBl 1993/314 (EinstV) ist bei Personen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sind, mindestens folgender Pflegebedarf ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG anzunehmen: 1. Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 120 Stunden monatlich, wenn kein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten und weder eine Stuhl- oder Harninkontinenz noch eine Blasen- oder Mastdarmlähmung vorliegen (entspricht Stufe 3); 2. Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich, wenn kein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten, jedoch eine Stuhl- oder Harninkontinenz bzw eine Blasen- oder Mastdarmlähmung vorliegt (entspricht Stufe 4); 3. Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand, wenn ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten gegeben ist (entspricht Stufe 5). Während das BPGG und die EinstV grundsätzlich vom Konzept der funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfes ausgehen, dh von der individuell erforderlichen Betreuung und Hilfe, so werden für bestimmte Behindertengruppen mit weitgehend gleichartigem Pflegebedarf - insoweit also diagnosebezogen - Mindesteinstufungen im Verordnungsweg vorgenommen. Ungeachtet dieser abstrakten ("ohne weitere Prüfung") Pauschalierung hat auch bei diesen Pflegedürftigen die individuelle Situation Berücksichtigung zu finden und kann im Einzelfall zur Gewährung einer höheren Leistung führen (Gruber/Pallinger, BPGG Rz 59 und 60 zu § 4; Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 199; derselbe, BPGG 99).
Unter Hinweis auf die bereits genannten Richtlinien des Hauptverbandes (insbesondere § 22) meint die Beklagte, die diagnosebezogene Einstufung bei Menschen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen seien, könne nur dann erfolgen, wenn der Betroffene weitgehend selbständig in der Lage sei, seinen Bewegungsradius zu erweitern und so seinen Lebensalltag möglichst eigenständig zu gestalten. Die diagnosebezogene Einstufung gelte jedoch nicht, wenn der Rollstuhl wegen zunehmender Gebrechlichkeit oder ähnlicher Leidenszustände angeschafft worden sei, um den Betroffenen durch andere Menschen fortzubewegen (so § 22 Abs 3 der Richtlinien). In die Betrachtung seien sämtliche Arten von Rollstühlen einzubeziehen, somit auch elektrische, mit denen man trotz eines deutlichen Ausfalles der oberen Extremitäten noch fahren könne, da eine Bedienung der elektrischen Steuerung zumeist noch möglich sei.
Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden. Zunächst erhebt sich die Frage nach der Rechtsnatur der vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger erlassenen Richtlinien für die einheitliche Anwendung des BPGG nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG, veröffentlicht in SozSi 1994, 686 ff - Amtliche Verlautbarung Nr 120/1994. Diese Richtlinien bezeichnen in ihrem § 1 als Grundlage für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit einerseits § 4 Abs 1 bis 5 BPGG, andererseits die Verordnung des BMfAS BGBl 1993/314 über die Beurteilung des Pflegebedarfes nach dem BPGG (EinstV). Nach § 2 gelten die Richtlinien für alle Pensions- und Unfallversicherungsträger. Im zweiten Abschnitt "Betreuung" (§§ 3 bis 10) und im dritten Abschnitt "Hilfe" (§§ 11 bis 14) werden die bereits in der EinstV enthaltenen Begriffe wie tägliche Körperpflege, Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten, Verrichtung der Notdurft, An- und Auskleiden usw näher erklärt und teilweise über die EinstV hinausgehend umschrieben. Der vierte Abschnitt (§§ 15 bis 17) nimmt eine Differenzierung der Pflegestufen 4, 5, 6 und 7 vor, der fünfte Abschnitt (§§ 18 bis 20) regelt die geistige oder psychische Behinderung, der 6. Abschnitt (§§ 21 und 22) befaßt sich mit "diagnosebezogenen Mindesteinstufungen" bei Sehbehinderung und bei Rollstuhlfahrern.
Das Berufungsgericht ist ebenso wie die Beklagte der Auffassung, daß diese Richtlinien des Hauptverbandes auch für die zur Entscheidung in Sozialrechtssachen (Pflegegeldleistungen nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG) berufenen Gerichte verbindlich seien. Der Oberste Gerichtshof kann diese Ansicht aus folgenden Erwägungen nicht teilen:
Dem Hauptverband obliegt nach § 31 Abs 2 Z 3 ASVG die Erstellung von Richtlinien zur Förderung oder Sicherstellung der gesamten wirtschaftlichen Tragfähigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Einheitlichkeit der Vollzugspraxis der Sozialversicherungsträger. Im § 31 Abs 5 findet sich der Katalog jener Materien, über die der Hauptverband Richtlinien aufzustellen hat; darunter solche für die einheitliche Anwendung des BPGG (Z 23). Diese Richtlinien sind aufgrund der ausdrücklichen Anordnung des § 31 Abs 6 ASVG für die im Hauptverband zusammengefaßten Versicherungsträger verbindlich. Lediglich ausnahmsweise wird eine darüber hinausreichende Verbindlichkeit angeordnet, wie etwa in § 31 Abs 5 Z 10 für die Richtlinien über die Berücksichtigung ökonomischer Grundsätze bei der Krankenbehandlung: diese sind nach ausdrücklicher Anordnung des Gesetzgebers auch für die Vertragspartner bindend. Alle diese Richtlinien bedürfen nach § 31 Abs 8 ASVG der Beurkundung des gesetzmäßigen Zustandekommens durch den BMfAS und sind sodann in der Fachzeitschrift "Soziale Sicherheit" zu verlautbaren.
Soweit die Richtlinien nach der entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung im ASVG durch Beschluß des Hauptverbandes erlassen und entsprechend kundgemacht sind, haben sie als generelle rechtsverbindliche Anordnung einer Verwaltungsbehörde nach herrschender Auffassung die Qualität von Rechtsverordnungen (Korinek in Tomandl, SV-System 7. ErgLfg 510 mwN; Pfeil, BPGG, 81; Grillberger, Österreichisches Sozialrecht3 105). Als bloße generelle Weisungen oder Verwaltungsverordnungen (vgl Tomandl, Probleme des Hilflosenzuschusses, ZAS 1979, 130 [134]; derselbe, Grundriß des österreichischen Sozialrechts4 194 in Rz 256) sind sie schon deshalb nicht zu qualifizieren, weil die einzelnen Sozialversicherungsträger keine dem Hauptverband untergeordneten Verwaltungsorgane, sondern selbständige Rechtssubjekte sind (zutreffend Pfeil, Ein nicht gewährter Hilflosenzuschuß, DRdA 1990, 74 [76 mwN bei FN 10]; derselbe, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 181), sodaß es an einer organisationsrechtlichen Über- und Unterordnung fehlt.
Aus der Bindung der Versicherungsträger an diese Richtlinien folgt aber entgegen mehrfach vertretenen Auffassungen (Korinek, Pfeil und Grillberger jeweils aaO) noch nicht deren Verbindlichkeit für die Gerichte. Infolge der Kundmachung fällt zwar ein wesentliches Argument weg, das gegen die Verbindlichkeit der seinerzeitigen Richtlinien zum Hilflosenzuschuß auch für die Gerichte ins Treffen geführt wurde (Tomandl aaO, auf den der Oberste Gerichtshof in den E SSV-NF 1/46 = SZ 60/223, ZAS 1988, 53/5 und JBl 1988, 64 verwiesen hat). Auch wenn nunmehr alle zur Entscheidung in Pflegegeldangelegenheiten berufenen Sozialversicherungsträger (und nicht nur die Pensionsversicherungsträger) vom Geltungsbereich der verlautbarten Richtlinien erfaßt sind, ist an der Qualität der Richtlinien als nur die Sozialversicherungsträger bindende Norm keine Änderung eingetreten. Zunächst einmal ist unbestritten, daß der Hauptverband nur die Sozialversicherungsträger, nicht aber die übrigen nach § 22 BPGG zur Entscheidung berufenen Träger zu binden vermag (Gruber/Pallinger, BPGG Rz 77 zu § 4). Daß dennoch möglicherweise die Richtlinien als Hilfsmittel für die Interpretation der jeweiligen Begriffe im BPGG auch im Hinblick auf Pflegegelder herangezogen werden könnten, für deren Gewährung nicht die Sozialversicherungsträger zuständig sind (so Pfeil aaO), ist kein zwingendes Argument für die Verbindlichkeit der Richtlinien für Gerichte; auch andere Interpretationshilfen wie Gesetzesmaterialien oder Lehrmeinungen haben keine verbindliche Kraft. Ferner wäre es ungewöhnlich, daß der Gesetzgeber dem BMfAS eine den gesamten Personenkreis des BPGG umfassende Verordnungsermächtigung einräumt (§ 4 Abs 5 Stammfassung, nunmehr Abs 3 BPGG), darüber hinaus aber für einen Teil dieses Personenkreises eine noch nähere Ausführung des Gesetzes durch eine weitere Rechtsverordnung einem anderen Verordnungsgeber überträgt (Gruber/Pallinger aaO), wenngleich zugegeben werden muß, daß dies keinen entscheidenden Einwand gegen die Verbindlichkeit der Richtlinien darstellen mag (Pfeil, BPGG 82).
Nach Ansicht des Obersten Gerichtshof sind jedoch folgende Umstände ausschlaggebend: Wenngleich sich die Richtlinien für die einheitliche Anwendung des BPGG auf die Versicherten bzw Pflegegeldbeansprucher als davon Betroffene auswirken mögen, so sind doch die genannten Personenkreise nicht Adressaten der Richtlinien; der Hauptverband hat keine generelle gesetzliche Ermächtigung, Rechtsnormen im Zusammenhang mit der Zuerkennung von Pflegegeld für Dritte zu erlassen. Er kann daher insbesondere Ansprüche von Versicherten bzw Pflegebedürftigen weder schaffen noch begrenzen. § 31 Abs 6 ASVG spricht folgerichtig (und anders als etwa § 31 Abs 5 Z 10) auch nur von einer Verbindlichkeit der Richtlinien für die im Hauptverband zusammengefaßten Versicherungsträger. Umsoweniger besteht irgendeine gesetzliche Ermächtigung des Hauptverbandes, für Gerichte verbindliche Normen auf dem Gebiet der Pflegevorsorge zu erlassen. Die Richtlinien haben nicht die Aufgabe, für andere Rechtsanwender zu präzisieren, wann ein Anspruch auf Pflegegeld besteht, sie haben vielmehr den Zweck, die Versicherungsträger zu einer gleichmäßigen Rechtsanwendung anzuleiten (arg "Einheitlichkeit der Vollzugspraxis der Sozialversicherungsträger" in § 31 Abs 2 Z 3 ASVG). Die Entscheidung über den Anspruch auf Pflegegeld ist durch § 65 Abs 1 ASGG letztlich den Gerichten zugewiesen; soweit ein Gesetz die Vollziehung einem Gericht übertragen hat, kann die Konkretisierung des Gesetzes mittels einer Verordnung nur insoweit durch eine Verwaltungsbehörde erfolgen, als dies das Gesetz ausdrücklich oder erkennbar vorsieht. Die Konkretisierungskompetenz wurde durch § 4 Abs 3 BPGG ausschließlich dem BMfAS zugewiesen, nicht aber dem Hauptverband. Daraus folgt, daß die Richtlinien zwar im Hinblick auf den einheitlichen Vollzug des BPGG durch die davon erfaßten Entscheidungsträger anzuwenden sind, jedoch keine verbindliche Kraft für die Sozialrechtssachen berufenen Gerichte beanspruchen können. Eine Bindung der Gerichte an die Richtlinien des Hauptverbandes wäre im übrigen im Interesse einer Entscheidungsharmonie höchstens dann sachgerecht, wenn die Sozialgerichte die Aufgabe hätten, die von den Trägern der Sozialversicherung erlassenen, von den Versicherten bekämpften Bescheide zu überprüfen. Dies ist aber gerade nicht der Fall. Dem Grundsatz der sukzessiven Zuständigkeit entsprechend haben die Sozialgerichte vielmehr über die vom Versicherten mit einer Klage geltend gemachten sozial(versicherungs)rechtlichen Ansprüche nach Abschluß des mit einem darüber absprechenden Bescheid des Versicherungsträgers beendeten Verwaltungsverfahrens in einem eigenen, selbständigen Verfahren zu entscheiden (Kuderna, ASGG2 441 Anm 1 zu § 67; 10 ObS 2189/96a). Die Erhebung der Klage beseitigt gemäß § 71 Abs 1 ASGG den "angefochtenen" Bescheid des Trägers und setzt ein vollkommen neues erstinstanzliches Verfahren in Gang. Das Gericht kann den - durch die Klage außer Kraft getretenen - Bescheid weder "abändern" noch "bestätigen" oder "aufheben", wie dies einem Rechtsmittelverfahren entsprechen würde (vgl Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen, 7 ff, 83 ff). Daß die Richtlinien des Hauptverbandes auch nach ihrem Inhalt gar keinen Anspruch auf Geltung für die Sozialgerichte erheben, beweist etwa der die Fälle der Sehbehinderung regelnde § 21: Bei Vorhandensein eines "aktuellen augenärztlichen Befundes" soll danach "im Regelfall" eine weitere augenfachärztliche Begutachtung durch einen "Vertrauensarzt" nicht mehr notwendig sein...... Diese Bestimmung bezweckt wohl eine Erleichterung des Ermittlungsverfahrens für den Entscheidungsträger, ist aber im Verfahren vor den Sozialgerichten prinzipiell unabwendbar, und zwar nicht bloß deshalb, weil hier eine Begutachtung durch gerichtsärztliche Sachverständige, nicht aber durch Vertrauensärzte zu erfolgen hat.
Der Senat hält daher an der bereits mehrfach (10 ObS 2349/96f, 10 ObS 2396/96t ua) dargestellten Rechtsauffassung fest, daß die genannten Richtlinien für die Gerichte nicht verbindlich sind.
Es ist zwar richtig, daß § 8 EinstV vor allem jene Personen zu unterstellen sind, die mit Hilfe des Rollstuhles ihren Bewegungsradius erweitern können und dadurch in die Lage versetzt werden, Verrichtungen, wie sie in §§ 1 und 2 EinstV vorgesehen sind, (weitgehend) eigenständig vornehmen. Gerade im Hinblick auf § 8 Z 3 EinstV, wo von einem deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten die Rede ist, aber auch unter Berücksichtigung des Zweckes des Pflegegeldes (§ 1 BPGG) kann es nach Meinung des Obersten Gerichtshofes nicht ausschlaggebend sein, ob der Betreffende sich mit dem Rollstuhl (weitgehend) selbständig bewegen kann oder wie es in § 22 Abs 2 der Richtlinien heißt, "weitgehend selbständig in der Lage ist, seinen Bewegungsradius zu erweitern und seinen Lebenslauf möglichst eigenständig zu gestalten." Wie der Senat bereits in den oben zitierten Entscheidungen (beide vom 13.Dezember 1996) ausgeführt hat, ist es nicht einzusehen, warum die diagnosebezogenen Einstufungen des § 8 EinstV nicht gelten sollen, wenn der Rollstuhl wegen zunehmender Gebrechlichkeit oder ähnlicher Leidenszustände angeschafft wurde, um den Betroffenen durch andere Menschen fortzubewegen. Soweit § 22 Abs 3 der Richtlinien derartiges anordnet, kann diese Bestimmung weder auf das BPGG noch auf die EinstV zurückgeführt werden. Der vom Berufungsgericht im Anschluß an Pfeil (BPGG, 100) beantworteten Frage, wie § 22 Abs 2 der Richtlinien gesetzeskonform auszulegen sei, braucht daher nicht weiter nachgegangen zu werden; auch nach Pfeil kann es aber nicht ausschlaggebend sein, ob der Betreffende sich mit dem Rollstuhl selbständig bewegen kann. Auch das von der Beklagten genannte "Konsensuspapier zur Vereinheitlichung der ärztlichen Begutachtung nach dem Bundespflegegeldgesetz" dient nur als Arbeitsunterlage zur Vereinheitlichung der ärztlichen Begutachtung und kann keine Verbindlichkeit für die Gerichte beanspruchen (10 ObS 2424/96k).
Wie bereits oben dargestellt sieht die Beklagte in dem nach § 8 Z 3 EinstV geforderten deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten keinen Widerspruch zum Erfordernis, daß der Behinderte selbständig in der Lage sein müsse, seinen Bewegungsradius zu erweitern, weil trotz eines deutlichen Ausfalls der oberen Extremitäten die Bedienung eines elektrischen Rollstuhls zumeist noch möglich sei. Den Revisionsausführungen ist hier entgegenzuhalten, daß die Verstorbene nach den Feststellungen der Tatsacheninstanzen offensichtlich über einen händisch zu betreibenden, nicht aber elektrisch betriebenen und gesteuerten Rollstuhl verfügte, woraus sich ergibt, daß sie diesen (ihren) Rollstuhl nicht selbst betätigen konnte. Zieht man in Betracht, daß sie aber mit der linken Hand noch selbständig Mahlzeiten einnehmen konnte, dann ergibt sich daraus schlüssig, daß sie auch in der Lage gewesen sein mußte, einen elektrisch betriebenen und gesteuerten Rollstuhl zu bedienen. Insoweit wäre dann sogar dem auf § 22 Abs 2 und 3 der Richtlinien beruhenden Standpunkt der Revisionswerberin Rechnung getragen.
Zusammenfassend ergibt sich, daß die Pflegebedürftige bis zu ihrem Tod überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen war und überdies einen deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten aufwies. Sie erfüllte damit die Voraussetzungen des § 8 Z 3 EinstV, weshalb ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand anzunehmen war, woraus sich nach § 4 Abs 2 BPGG ein Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 ableitet (ebenso 10 ObS 2349/96f und 10 ObS 2396/96t).
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)