OGH 11Os70/02

OGH11Os70/023.9.2002

Der Oberste Gerichtshof hat am 3. September 2002 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Habl, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Haimböck als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Volker D***** wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 2 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Schöffengericht vom 15. Februar 2002, GZ 24 Hv 1082/01h-34, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Strafsache an das Erstgericht zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Mit ihren Berufungen werden der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft, ersterer auch mit seiner übrigen Nichtigkeitsbeschwerde, auf die kassatorische Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Volker D***** des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer zum Teil bedingten nachgesehenen Freiheitsstrafe verurteilt. Darnach hat er am 31. Juli 2001 im Gemeindegebiet von Neustift i.St. Tamara G***** außer dem Fall des § 201 Abs 1 StGB mit Gewalt und Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben zur Duldung einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung, nämlich dem Einführen seines Fingers in ihre Scheide, genötigt, indem er ihr seinen rechten Arm um den Hals legte, zudrückte, sodass sie kaum Luft bekam, sie an sich zog ("Schwitzkasten"), ihr mit der anderen Hand den Mund zuhielt, sie - die Füße am Boden nachschleifend - in ein Feld zerrte, sie zu Boden riss, ihr Kinn auf ihre Brust drückte und äußerte, sie solle aufhören so rumzuschreien, sonst hole er das Messer heraus.

Gegen diesen Schuldspruch richtete sich die auf die Gründe der Z 5, 5a und 10 des § 281 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der auch, wie die Staatsanwaltschaft, den Ausspruch über die Strafe mit Berufung anficht.

Rechtliche Beurteilung

Vorweg ist festzuhalten, dass sich der Oberste Gerichtshof aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde vom Vorliegen eines materiellen Nichtigkeitsgrundes iSd § 281 Abs 1 Z 10 StPO überzeugen konnte, welcher, weil er vom Beschwerdeführer nicht geltend gemacht wurde, von Amts wegen wahrzunehmen war (§ 290 Abs 1 StPO) und zur Aufhebung des Ausspruches über die rechtliche Beurteilung des festgestellten Tatverhaltens als Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 2 StGB führt.

Unter dem durch die StGNovelle 1989 - auch als Folge der nunmehr geschlechtsneutralen Fassung des § 201 StGB - eingeführten normativen Begriff (s hiezu kritisch Schick in WK2 § 201 Rz 40) der "einem Beischlaf gleichzusetzenden Handlung" sind nach dem JAB StGNov 1989, 3 qualifizierte geschlechtliche Handlungen zu verstehen, die "in der Summe ihrer Auswirkungen und Begleiterscheinungen mit einem Beischlaf vergleichbar sind" (ebenso EB RV StRÄG 1998, 21 zur modifizierten Bestimmung des § 206 StGB). Zu ihnen soll jede Form vaginaler, oraler oder analer Penetration zählen, damit nach gesicherter (im Schrifttum vielfach als zu weitgehend kritisierter: vgl Schick aaO, Rz 38; Schwaighofer JBl 1992, 731; Kienapfel/Schmoller BT III Vorbem §§ 201 ff RN 48) Judikatur grundsätzlich auch das Einführen eines Fingers in die Scheide einer Frau, sofern hiedurch nach Intensität und Dauer der sexuellen Inanspruchnahme, Schwere des Eingriffes in die sexuelle Selbstbestimmung und Ausmaß der Demütigung und Erniedrigung ein Schweregrad erreicht wird, der vom Standpunkt des Opfers aus einem erzwungenen Beischlaf gleichkommt. Im Hinblick auf die durch § 202 StGB pönalisierten, ebenfalls durch den Einsatz von Gewalt oder gefährliche Drohung gekennzeichneten geschlechtlichen, in der Regel auf Geschlechtsorgane ausgerichteten Handlungen, unter denen Küsse, Umarmungen, bloße Zudringlichkeiten, kurze Berührungen und dergleichen von vornherein nicht zu verstehen sind, muss die "digitale Vaginalpenetration" über den dort erfassten Unwertsgehalt hinausgehen. Ob sie dem Beischlaft gleichzusetzen ist, muss stets einzelfallbezogen nach der Summe der Auswirkungen und Begleiterscheinungen eines solchen Sexualangriffes beurteilt werden. Demnach wurde das mehrfache Einführen eines Fingers in die Vagina des Opfers als tatbestandsmäßig beurteilt (15 Os 11/92, 14 Os 83/97, 11 Os 101/99), aber auch das (fallbezogen nur) einmalige Einführen des Fingers in die Scheide eines minderjährigen Mädchens (15 Os 15/95, 15 Os 99/00). Ohne die geschlechtsspezifische Handlung aggravierende Begleitumstände vermag somit eine digitale Vaginalpenetration die geforderte, einem Beischlaft vergleichbare Tatintensität nicht zu bewirken (zu weitgehend 15 Os 122/00). Ein kurzzeitiges und unvollständiges Eindringen mit dem Finger in die Scheide einer erwachsenen Frau ist jedenfalls nach allgemeinem Verständnis, aber auch nach überwiegender Rechtsprechung noch nicht dem Beischlaf gleichzusetzen. Auch der Vorsatz des Täters muss auf eine nach den bezeichneten Kriterien dem Beischlaf gleichzusetzende (nicht notwendigerweise auch eine Penetration erfassende!) intensive Manipulation der Vagina gerichtet sein, weil sonst weder von einem für die Vollendung des Deliktes nach § 201 StGB ausreichendem "Unternehmen" gesprochen, noch der Versuch einer Vergewaltigung angenommen werden könnte (14 Os 61/95, 13 Os 128/01). Vorliegend stellte nun das Schöffengericht fest, dass der Angeklagte "nicht bloß kurzfristig und (der Beschwerde zuwider unmissverständlich und daher klarstellend zu ergänzen: nicht nur) teilweise den Finger in die Scheide des zwanzigjährigen Tatopfers eingeführt hat", weshalb es in rechtlicher Sicht die Gleichsetzung dieser Handlung mit einem Beischlaf für gegeben erachtete. Diese Konstatierungen lassen aber, wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, in rechtlicher Hinsicht die Annahme des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 2 StGB nicht zu, weil ein "nicht bloß kurzfristiges und teilweises Eindringen" mit dem Finger in die Vagina des Tatopfers in Wahrheit über Intensität und Dauer des Sexualangriffes nichts aussagt und damit nach Lage des Falles eine (auch zur Abgrenzung vom Delikt der geschlechtlichen Nötigung nach § 202 StGB erforderliche) Beurteilung des Schweregrades der Rechtsgutbeeinträchtigung nicht möglich ist. Auch werden zu einem allenfalls auf eine entsprechend intensive Manipulation der (Vulva oder) Vagina des Tatopfer gerichteten Kontakt keinerlei Feststellungen getroffen. Damit haftet dem Schuldspruch der vom Beschwerdeführer nicht geltend gemachte - die eine Verurteilung nach § 202 Abs 1 anstrebende Subsumtionsrüge (Z 10) geht urteilsfremd von einem nur teilweisen Eindringen aus und wird insofern nicht zur gesetzesmäßigen Darstellung gebracht - und deshalb von Amts wegen aufzugreifende Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 10 StPO an, der die Anordnung der Verfahrenserneuerung erzwingt.

Im Hinblick darauf erübrigt sich eine Erörterung der Mängel- (Z 5) und Tatsachenrüge (Z 5a), doch ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass, wie dem Beschwerdeführer zuzugeben ist, die von den Tatrichtern zur Begründung dieser Feststellung allein herangezogene Aussage des Opfers, das nur von einem Einführen des Fingers sprach, die Annahme, es habe sich dabei nicht um ein bloß kurzfristiges und (nicht nur) teilweises Einführung gehandelt, nicht zu begründen vermag, weil unter einem nicht näher beschriebenen "Einführen" ebensogut ein bloß kurzes und teilweises Eindringen verstanden werden kann. Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde war daher das angefochtene Urteil bereits in nichtöffentlicher Sitzung aufzuheben, ohne dass es einer Erörterung des (weiteren) Beschwerdevorbringens bedurfte (§ 285e StPO).

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