OGH 7Ob74/01k

OGH7Ob74/01k18.4.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schalich als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Schaumüller, Dr. Hoch und Dr. Kalivoda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Walter R*****, vertreten durch Mag. Dr. Christina Haslwanter, Rechtsanwältin in Hall in Tirol, gegen die beklagte Partei V***** AG, *****, vertreten durch Tinzl & Frank, Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen S 262.500,-- sA (Revisionsinteresse S 131.250,--), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht vom 19. Dezember 2000, GZ 4 R 319/00v-23, womit das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 21. September 2000, GZ 5 Cg 11/00x-19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit S 8.112,-- (darin enthalten S 1.382,-- USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Der Kläger wollte am 4. 12. 1997 Batteriewasser aus einem 60 l-Fass mit einem Gewicht von ca 60 kg in ein größeres Fass umleeren. Dabei rutschte ihm das kleinere Fass aus. Als er versuchte, es aufzufangen, indem er mit dem rechten Arm nachfasste, erlitt er durch einen ruckartigen übermäßigen Längszug, also durch eine plötzlich aufgetretene indirekte Gewalteinwirkung, einen Riss der langen Bizepssehne.

Der zum Zeitpunkt des Vorfalles bei der Beklagten unfallversicherte Kläger begehrt aus der Versicherung seine unfallskausalen Schäden ersetzt, die er zuletzt mit S 262.500,-- bezifferte.

Die Beklagte wendete ein, leistungsfrei zu sein, weil kein Unfall im Sinne der dem Versicherungsvertrag zugrundeliegenden Versicherungsbedingungen vorliege.

Dem Versicherungsverhältnis der Streitteile liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung der VAV (AUVB 1/1996) zugrunde, deren hier wesentliche Bestimmungen lauten:

Artikel 2

Versicherungsfall

Versicherungsfall ist der Eintritt eines Unfalles (Art 6).

Artikel 6

Begriff des Unfalles

1.) Unfall ist ein vom Willen des Versicherten unabhängiges Ereignis, das plötzlich von außen mechanisch oder chemisch auf seinen Körper einwirkt und eine körperliche Schädigung oder den Tod nach sich zieht.

2.) Als Unfall gelten auch folgende vom Willen des Versicherten unabhängige Ereignisse.

....

- Verrenkungen von Gliedern sowie Zerrungen und Zerreißungen von an Gliedmaßen und an der Wirbelsäule befindlichen Muskeln, Sehnen, Bändern und Kapseln infolge plötzlicher Abweichung vom geplanten Bewegungsablauf.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger S 131.250,-- sA zu bezahlen und wies das Mehrbegehren nach Zahlung weiterer S 131.250,-- sA ab. Der Kläger habe sich den Riss der Bizepssehne nicht beim Hochheben des Fasses, sondern dadurch zugezogen, dass er mit dem rechten Arm versucht habe, nachzufassen, nachdem ihm das auszuleerende Fass aus den Händen geglitten sei. Die Verletzung sei also durch das plötzliche Abweichen vom geplanten Bewegungsablauf geschehen, weshalb ein Unfall iSd Art 6 Abs 2 AUVB 1/1996 vorliege.

Der abweisende Teil der erstinstanzlichen Entscheidung blieb unbekämpft und ist in Rechtskraft erwachsen.

Den stattgebenden Teil des Ersturteiles bestätigte das Berufungsgericht und sprach aus, dass die Revision zulässig sei. Der Begriff des Unfalles laut Art 6.1. AUVB 1/1996 sei mit jenem in Art 6 AUVB 1988 wortgleich und jenem der Art 2.1. AUVB 1982 und AUVB 1965 sehr ähnlich und sinngleich. Dazu habe der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass ein Unfall bei einem Vorgang vorliege, der vom Versicherten bewusst und gewollt begonnen und zunächst in seinem Ablauf beherrscht wurde, sich dieser Beherrschung aber durch einen unerwarteten Ablauf entzogen und nunmehr schädigend auf den Versicherten eingewirkt habe. Eigenes Verhalten des Versicherten schließe die Annahme eines Unfalles grundsätzlich nicht aus. Auch eigene Bewegungen des Verletzten könnten daher einen Unfall auslösen, wenn sie die Gesundheitsschädigung zusammen mit einer äußeren Einwirkung ausgelöst hätten. Gewolltes und gesteuertes Verhalten des Versicherungsnehmers werde allerdings nicht als Unfallereignis angesehen werden können, weil es in diesem Fall an einem plötzlichen von außen wirkenden Ereignis fehle. Dem Kläger sei beim Hebe- und Umleervorgang das von ihm angehobene Fass ausgerutscht. Dadurch sei der von ihm bewusst und gewollt begonnene und in seinem Ablauf beherrschte Vorgang unterbrochen worden. Der Kläger habe nun versucht, das Fass aufzufangen, indem er mit dem rechten Arm nachgefasst habe. Wäre dies in einer durch einen Reflex bedingten Bewegung geschehen, wie dies der Kläger selbst angegeben habe, so könnte darin zweifelsfrei eine plötzliche Abweichung vom geplanten Bewegungslauf im Sinne eines nicht mehr gewollten und gesteuerten und damit auch nicht mehr beherrschbaren Verhaltens gesehen werden. Das Erstgericht habe allerdings nicht festgestellt, ob dieses Nachfassen reflexartig erfolgte. Die Beklagte gehe nun offensichtlich davon aus, weil der Kläger das Fass auffangen wollte, sei ein gewolltes und gesteuertes Verhalten des Klägers anzunehmen. Dass das Fass ins Rutschen gekommen war, sei dabei nicht entscheidend. Entgegen der Ansicht der Beklagten sei aber dem vom Obersten Gerichtshof hinsichtlich Art 6.1. AUVB 1988 ausgesprochenen "Plötzlichkeitserfordernis" dann schon Genüge getan, wenn etwa der drohende Absturz eines Gegenstandes unvorhergesehen erfolgt und der Versicherte den Absturz durch eine gewollte Bewegung verhindern möchte. Dieses Verständnis des "Plötzlichkeitserfordernisses" sei auch auf Art 6.2. letzter Fall AUVB 1996 zu übertragen. Zu 7 Ob 9/91 habe der Oberste Gerichtshof im Zusammenhang mit Art 2 Z 1 AUVB 1982 dahin argumentiert, dass sich der Begriff der "Plötzlichkeit" nicht in der Schnelligkeit erschöpfe, sondern vielmehr als wesentlich hervorstechendes Merkmal das Moment des Unerwarteten, nicht Vorhergesehenen und des Unentrinnbaren einschließe. Auch unter diesem Gesichtspunkt sei davon auszugehen, dass das Abrutschen des Fasses und nicht nur das Nachfassen des Klägers entscheidend gewesen sei, weil gerade darin das Unvorhergesehene und Unerwartete gelegen sei. Es komme darauf an, inwiefern ein Verhalten noch dem "geplanten Bewegungsablauf" zuzuordnen sei oder nicht. Dabei sei darauf abzustellen, welches Ziel der Versicherte mit der geplanten Tätigkeit verfolgen habe wollen und ob er es deshalb (zumindest vorübergehend) nicht erreichen habe können, weil ein unerwartetes Ereignis geschehen sei. Hier sei die Absicht des Klägers darauf gerichtet gewesen, den Inhalt des von ihm angehobenen Fasses in ein anderes zu gießen. Daran sei er durch das Abrutschen des Fasses gehindert worden. Dass es ihm dann noch gelungen sei, seinem (allerdings nicht festgestellten) möglichen Willen entsprechend das Aufprallen des Fasses am Boden zu verhindern, sei dann nicht mehr relevant, weil zu diesem Zeitpunkt die Erreichung des geplanten Zieles (zumindest vorübergehend) bereits gescheitert gewesen sei. Der Kläger habe daher seine Verletzung im Zuge eines Unfalles iSd Art 6.1. und 2. letzter Fall AUVB 1/1996 erlitten.

Seinen Ausspruch der Zulässigkeit der Revision begründete das Berufungsgericht damit, die zu behandelnden, über den Einzelfall hinaus bedeutsamen Rechtsfragen seien im Zusammenhang mit dem maßgeblichen Text der AUVB 1/1996 (insofern gleichlautend den AUVB 1988) soweit überblickbar erst einmal Gegenstand einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes (7 Ob 4/93) gewesen.

Die Revision der Beklagten ist entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichtes, an den der Oberste Gerichtshof nicht gebunden ist (§ 508a Abs 1 ZPO), mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

Einem Unfall iSd AUVB 1/1996 (die mit den vom Obersten Gerichtshof bereits mehrfach beurteilten AUVB 1965 und AUVB 1988 sowie BUVB 1989 insofern wortgleich oder zumindest ganz vergleichbar sind) liegt ein Vorgang zugrunde, der vom Versicherten bewusst und gewollt begonnen und zunächst in seinem Ablauf beherrscht wurde, dann aber durch ein unerwartetes Ereignis unkontrollierbar wurde und nunmehr schädigend auf den Versicherten eingewirkt hat (vgl 7 Ob 2/91 = VR 1992, 383 = RdW 1992, 177 ua; RIS-Justiz RS0082008; RS0082003, zuletzt etwa 7 Ob 118/00d; 7 Ob 5/01p). So ist ein Unfall zB dann anzunehmen, wenn der Versicherte seinen Fuß in der Eile auf eine Bordsteinkante gesetzt hatte und dann umgeknickt war. Hier liegt nämlich in Wahrheit keine - in dieser Weise - gewollte Bewegung vor, weil - wie anzunehmen ist - der Versicherte den Fuß nicht so auf die Bordsteinkante setzen wollte (7 Ob 1019/92 = VR 1992, 404 unter Hinweis auf Bruck/Moeller VVG8 IV/1, 275).

In der bereits vom Berufungsgericht zitierten, vom Obersten Gerichtshof zu 7 Ob 4/93 entschiedenen Causa war strittig, ob das Auffangen eines zu Boden stürzenden Glockenjoches, das zu einer Zerrung der Wirbelsäule des Versicherten mit einem Bandscheibenvorfall führte, als direkte mechanische Einwirkung auf die Wirbelsäule anzusehen sei oder nicht. Der Oberste Gerichtshof hat dies bejaht und betont, dass - da der drohende Absturz des Joches unvorhergesehen erfolgte - die mechanische Einwirkung auf die Wirbelsäule auch dem Plötzlichkeitserfordernis des Art 6.1 AUVB 1988 genügt habe. Dazu wurde auf die - bei vergleichbarer Rechtslage und Fallkonstellation - ergangenen Entscheidungen des BGH und deutscher Vorinstanzen VersR 1970, 1048; VersR 1985, 177 und VersR 1991, 213 hingewiesen.

Die Revisionswerberin räumt ausdrücklich ein, dass der zu 7 Ob 4/93 entschiedene Rechtsfall dem vorliegenden vergleichbar sei, widerspricht dieser Entscheidung aber und meint, der Oberste Gerichtshof habe dabei übersehen, dass das Auffangen des Jochs vom Willen gesteuert gewesen sei. Auch im vorliegenden Fall habe es sich um ein "geplantes" Nachfassen gehandelt; der "Rettungsversuch" des Klägers sei kein von dessen Willen unabhängiges Ereignis gewesen.

Dem ist zu entgegnen, dass das absichtliche Nachfassen, um ein Zu-Boden-Stürzen des Fasses (und dabei möglicherweise entstehende Schäden, insbesondere eine Verletzung des Klägers) zu verhindern, nicht als wohlüberlegte Handlung des Klägers qualifiziert werden kann. Die dabei entwickelte Kraftanstrengung war keineswegs freiwillig und vom Willen des Klägers beherrscht, sondern durch das plötzliche Entgleiten des Fasses erzwungen (vgl Prölss-Martin VVG26 Q III AUB 88 § 1 Rn 7 mwN; vgl auch Grimm, Unfallversicherung3 § 1 AUB Rn 30: Ist "die Anstrengung erfolgt, weil sie irregulär von außen provoziert wurde, so beruht die Gesundheitsschädigung auf einem Unfallereignis"). Insofern haben die Vorinstanzen das gegenständliche Geschehen zu Recht und im Einklang mit oberstgerichtlicher Judikatur unter ein "Zerreissen von an Gliedmaßen befindlichen Sehnen" infolge "plötzlicher Abweichung vom geplanten Bewegungsablauf" subsumiert. Ob eine solche "plötzliche Abweichung" vorlag, ist in erster Linie Tatfrage und hängt jedenfalls von den Umständen des Einzelfalles ab (7 Ob 5/01p). Zufolge dieser Einzelfallbezogenheit wäre diese Frage daher nur dann iSd § 502 Abs 1 ZPO aus Gründen der Rechtssicherheit erheblich, wenn dem Berufungsgericht dabei eine wesentliche Fehlbeurteilung unterlaufen wäre. Dies ist aber, wie bereits ausgeführt, keineswegs der Fall. Dass der Oberste Gerichtshof bisher nur einen (ganz) vergleichbaren Fall zu beurteilen hatte, bedeutet noch nicht, dass eine Rechtsfrage von der in § 502 Abs 1 ZPO umschriebenen erheblichen Bedeutung gegeben wäre (RIS-Justiz RS0110702), zumal sich die Auffassungen der Vorinstanzen, wie ebenfalls bereits betont wurde, im Rahmen der oberstgerichtlichen Judikatur zum Unfallbegriff halten. Im Übrigen reicht, um eine gesicherte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes annehmen zu können, das Vorliegen schon einer, ausführlich begründeten, grundlegenden und veröffentlichten Entscheidung, der keine gegenteiligen entgegenstehen, insbesondere dann, wenn sie auch im Schrifttum nicht auf beachtliche Kritik gestoßen ist (RdW 1998, 406; RIS-Justiz RS0103384 mit zahlreichen Entscheidungsnachweisen, zuletzt etwa 7 Ob 249/00v; Kodek in Rechberger2 Rz 3 zu § 502). Diese Voraussetzungen werden von der Entscheidung 7 Ob 4/93 alle erfüllt.

Mangels eines tauglichen Revisionsgrundes war die Revision daher zurückzuweisen. Dabei konnte sich der Oberste Gerichtshof gemäß § 510 Abs 3 letzter Satz ZPO auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken.

Die Entscheidung über die Kosten der Revisionsbeantwortung beruht auf §§ 41 und 50 ZPO. Der Kläger hat auf die Unzulässigkeit der Revision aus dem Grund des § 502 Abs 2 ZPO ausdrücklich hingewiesen.

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