OGH 10ObS332/99t

OGH10ObS332/99t11.7.2000

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Wolfgang Adametz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ulrike Legner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Magdalena W*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Stütz, Rechtsanwalt in Linz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3. September 1999, GZ 11 Rs 189/99i-40, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 27. Mai 1999, GZ 19 Cgs 198/97d-36, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Rechtsmittelkosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die beklagte Partei lehnte mit Bescheid vom 4. 6. 1997 den Antrag der am 26. 12. 1956 geborenen Klägerin vom 8. 4. 1997 auf Zuerkennung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass sie nicht invalid sei, weil sie noch im Stande sei, eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit auszuüben.

Dagegen richtet sich die Klage auf Zahlung der Invaliditätspension ab 1. 5. 1997. Die Klägerin sei auf Grund ihrer Leidenszustände auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr einsetzbar und daher invalid.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete ein, dass es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Reihe von Beschäftigungen gebe, die die Klägerin noch verrichten könne.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei zur Zahlung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 7. 1998 und trug der beklagten Partei bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von S 7.000 monatlich auf; das Klagemehrbegehren auf Zuerkennung einer Invaliditätspension auch für den Zeitraum 1. 5. 1997 bis 30. 6. 1998 wurde abgewiesen. Dabei ging das Erstgericht von folgenden wesentlichen Feststellungen aus:

Die Klägerin, die nur fünf Schulstufen abgeschlossen und keinen Beruf erlernt hat, arbeitete seit August 1972 mit Unterbrechungen als Zimmermädchen, Näherin, Abwäscherin, Büglerin und zuletzt als Hilfsarbeiterin in einer Lederfabrik. Der Großteil der Zeit entfiel auf ihre Tätigkeit als Zimmermädchen.

Auf Grund ihrer vom Erstgericht im Detail festgestellten gesundheitlichen Leiden ist die Klägerin nur mehr in der Lage, leichte, und fallweise mittelschwere Arbeiten zu verrichten. Nicht zumutbar sind Tätigkeiten unter "psychischem Druck", Akkord-, Nacht- und Schichtarbeiten, Arbeiten mit Verantwortung über Mitarbeiter oder wertvolle Geräte, Arbeiten mit verstärktem Auftreten von Rauchgas oder Staubeinwirkung sowie Arbeiten im Freien, bei denen die Gefahr einer Unterkühlung oder Durchnässung gegeben ist. Alle noch zumutbaren Arbeiten müssen einfacher Natur sein. Ein rasches Reaktionsvermögen darf bei der Arbeitsleistung nicht vorausgesetzt werden.

"Aus psychologischer Sicht" ist bei der Klägerin durch den Alkoholkonsum keine wesentliche Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit eingetreten. Seit Mitte 1998 bestehen jedoch bei ihr Probleme im Verhaltensbereich im Sinne eines hochgradigen Vermeidungsverhaltens. Beim Vermeidungsverhalten handelt es sich klinisch-psychologisch "nicht direkt" um einen krankhaften Zustand, sondern um ein durch verschiedene Gegebenheiten erfolgtes "Verlernen der Aufsuchung von Kontakten oder des Normalverhaltens". Das Vermeidungsverhalten kann mitunter durch eine Psychotherapie in der Dauer von einem halben bis zu einem ganzen Jahr erfolgreich behandelt werden. Ein Erfolg bei der Klägerin ist jedoch sehr unwahrscheinlich.

"Aus psychologischer Sicht" ist die Klägerin ohne erfolgreiche Psychotherapie nicht in der Lage, eine berufliche Tätigkeit mit Ausnahme von Heimarbeit zu verrichten. Auch die Heimarbeit könnte die Klägerin nur im Ausmaß von vier bis sechs Stunden leisten, sofern ihr - was bei "Arbeitgebern" im Rahmen der Heimarbeit üblich ist - die Arbeit zugestellt und auch wieder abgeholt wird.

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes eine Verweisung von Versicherten auf Heimarbeit bisher nur "im GSVG-Bereich" erfolgt sei. Das Verweisungsfeld nach § 133 GSVG sei auch größer als jenes nach § 255 Abs 3 ASVG. Lege man die offenkundige Tatsache zugrunde, dass gerade die Versicherten nach § 255 Abs 3 ASVG, die nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig seien, in einfachen sozialen Verhältnissen leben und in der Regel nur eine geringe Wohnfläche zur Verfügung haben, dann könne nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass dieser Versichertenkreis in der Wohnung über ausreichend Platz für eine Arbeitsstätte zur Herstellung, Bearbeitung, Verarbeitung oder Verpackung von Waren und Lagerung des Materials verfüge. Unter billiger Berücksichtigung der bisherigen Tätigkeiten könne daher der Klägerin, die auch noch nie Heimarbeit ausgeübt habe, keine Heimarbeit zugemutet werden.

Das Berufungsgericht gab der gegen den klagestattgebenden Teil des Ersturteils erhobenen Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, dass das Klagebegehren zur Gänze abgewiesen wurde. Das Berufungsgericht vertrat dabei die Rechtsansicht, dass ungelernte Arbeiter auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden können, wenn im Verweisungsberuf in ganz Österreich noch mindestens 100 Arbeitsplätze vorhanden seien. § 255 Abs 3 ASVG enthalte kein Hindernis gegen die Verweisung von Arbeitern ohne Berufsschutz auf Heimarbeit. Der Rechtsansicht des Erstgerichtes, dass der Versichertenkreis des § 255 Abs 3 ASVG in der Regel nur eine relativ geringe Wohnfläche zur Verfügung und daher nicht ausreichend Platz für Heimarbeit habe, könne in dieser Allgemeinheit ohne entsprechende Feststellungen nicht beigetreten werden. Für die Verweisung eines ungelernten Arbeiters sei es auch irrelevant, ob er schon jemals den Verweisungsberuf ausgeübt habe, solange ihm der Verweisungsberuf unter billiger Berücksichtigung der von ihm bisher ausgeübten Tätigkeit noch zugemutet werden könne. Die im § 255 Abs 3 ASVG enthaltene Zumutbarkeitsformel solle nur in Ausnahmefällen eine Verweisung verhindern.

Die Rechtsprechung bejahe im Übrigen auch die Verweisbarkeit eines vollzeitbeschäftigten Angestellten auf eine Teilzeitbeschäftigung, sofern er in der Lage sei, die Lohnhälfte eines Vollzeitbeschäftigten zu erzielen. Da die Klägerin noch Heimarbeit im Ausmaß von vier bis sechs Stunden täglich leisten könne, werde sie auch mehr als die Hälfte des Lohnes eines gesunden Heimarbeiters verdienen können. Wenn die Klägerin Arbeitspausen benötige, müsse sie nicht mehr Arbeitszeit als ein vergleichbarer Versicherter aufwenden, um die Lohnhälfte zu erzielen. Es entspreche auch der ständigen Rechtsprechung, dass es für die Beurteilung der Invalidität in der Regel nicht auf den aktuellen Wohnort des Versicherten ankomme, sondern auf die Zahl der in ganz Österreich vorhandenen Arbeitsplätze. Selbst wenn der Klägerin nur mehr ein regionaler Arbeitsmarkt offen stehe, wäre sie nicht als invalid anzusehen, wenn auf dem von ihr erreichbaren Teilarbeitsmarkt nicht mehr 100 geeignete Arbeitsplätze zur Verfügung stehen; dann genüge es, wenn in der betreffenden Region für zumutbare Verweisungstätigkeiten eine solche Zahl von - offenen oder besetzten - Stellen bestehe, die die Annahme rechtfertige, dass ein Arbeitsfähiger und -williger einen solchen Arbeitsplatz auch erlangen könne. Die Klägerin sei daher wegen der bestehenden Verweisungsmöglichkeit auf eine Heimarbeitstätigkeit noch nicht invalid im Sinne des § 255 Abs 3 ASVG.

Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, das Ersturteil wiederherzustellen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Die Revision ist im Sinne des gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Das Erstgericht stellte bei der Klägerin "aus psychologischer Sicht" ein hochgradiges Vermeidungsverhalten fest, das sie von allen beruflichen Tätigkeiten - ausgenommen Heimarbeit - ausschließen soll. Dabei handelt es sich laut Erstgericht zwar "nicht direkt" um einen krankhaften Zustand; die Klägerin hat aber durch verschiedene Gegebenheiten das "Normverhalten", insbesondere das Aufsuchen von Kontakten "verlernt". Das Erstgericht stützte sich insoweit auf kein ärztliches Gutachten, sondern auf das Gutachten des psychologischen und berufskundlichen Sachverständigen.

Dazu ist zunächst festzuhalten, dass der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit nach § 255 Abs 1 ASVG voraussetzt, dass die Arbeitsfähigkeit des Versicherten infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes herabgesunken ist. "Infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes" bedeutet infolge Krankheit, infolge Gebrechens oder infolge gewisser Abnützungserscheinungen, vor allem infolge Alters (Teschner/Widlar, ASVG 1307; Wachter in ZAS 1989, 17 [18]; SSV-NF 6/28 ua). Ausgeglichen wird beim Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit das Risiko einer körperlich oder geistig bedingten Leistungsminderung (Schrammel in ZAS 1984, 83 [85]). Die Ursache für die Minderung der Arbeitsfähigkeit muss also der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten sein. Umstände, die zwar eine geminderte Arbeitsfähigkeit nach sich ziehen, mit dem Gesundheitszustand aber nicht zusammenhängen, führen daher nicht zur Invalidität oder Berufsunfähigkeit (vgl SSV-NF 1/22 = ZAS 1989, 16 [Wachter] [Unkenntnis der deutschen Sprache und der Lateinschrift]; SSV-NF 6/26 [Unkenntnis der deutschen Sprache], 6/28 [Führerscheinentzug, fehlende Beschäftigungsbewilligung], 8/102 [Unkenntnis der deutschen Sprache; Vorstrafen], 10/59 [Lesen und Schreiben]; RIS-Justiz RS0084895, RS0085017, RS0085034, RS0085050).

Wenn daher vom Erstgericht festgestellt wurde, dass es sich bei dem seit Mitte 1998 aufgetretenen hochgradigen Vermeidungsverhalten der Klägerin "nicht direkt" um eine Krankheit handelt, offenbar aber davon ausgegangen wird, dass bei der Klägerin ein relevantes Herabsinken der Arbeitsfähigkeit infolge des geistigen Zustandes im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG eingetreten ist, so bedarf diese Beurteilung noch ergänzender klärender Feststellungen nach vorheriger ärztlicher Beurteilung des Gesundheitszustandes der Klägerin. Der vom Erstgericht ohnehin bestellte neurologisch-psychiatrische Sachverständige beurteilte bisher das vom psychologischen und berufskundlichen Sachverständigen aufgezeigte, "nicht direkt" als Krankheit bewertete Vermeidungsverhalten der Klägerin nicht näher, sondern äußerte sich lediglich zu den Aussichten und der Dauer einer allfälligen Therapie. Für die Frage der Verweisbarkeit des Versicherten ist aber das medizinische (ärztliche) Leistungskalkül entscheidend (SSV-NF 8/92; RIS-Justiz RS0084399, RS0084413).

Für Leistungen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit sind die wesentlichen Einschränkungen im körperlichen und geistigen Zustand des Versicherten und dessen Leistungskalkül nicht aus der Sicht der einzelnen medizinischen Fachgebiete, sondern für alle Fachgebiete gemeinsam festzustellen (SSV-NF 5/40, 8/114, 9/21). Das Erstgericht bestellte zwei medizinische Sachverständige, aus der allgemeinen Medizin und aus der Neurologie und Psychiatrie, die zu diversen Einschränkungen im medizinischen Leistungskalkül gelangten. Ein zusammenfassendes Gutachten, in dem die Arbeitsfähigkeit der Klägerin unter Berücksichtigung aller von den einzelnen Fachgutachtern festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen dargestellt wird, fehlt jedoch bisher. Zufolge unterschiedlicher Angaben bzw Terminologie der beiden medizinischen Sachverständigen ist auch die erkennbar auf den Ausführungen des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen beruhende Feststellung des Erstgerichtes unklar, wonach der Klägerin beispielsweise eine Tätigkeit "unter psychischem Druck" nicht zumutbar ist. Demgegenüber sprach der Allgemeinmediziner in seinem schriftlichen Gutachten davon, dass von der Klägerin Arbeiten "unter Zeitdruck" nicht verlangt werden sollen. In diesem Punkt wird daher ebenfalls eine Klärung zu erfolgen haben.

Das Verweisungsfeld für Versicherte, die keinen erlernten oder angelernten Beruf ausgeübt haben (§ 255 Abs 3 ASVG) und damit auch keinen Berufsschutz genießen, ist mit dem Arbeitsmarkt ident (Schrammel aaO 85; SSV-NF 1/4, 2/50, 5/96, 6/56, jeweils mwN, ua). Sie dürfen nach § 255 Abs 3 ASVG auf alle auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewerteten - unselbständigen - Tätigkeiten verwiesen werden (SSV-NF 5/45; vgl auch ARD 4604/35/94), die sie infolge ihres körperlichen und geistigen Zustandes noch ausüben können und die ihnen unter billiger Berücksichtigung der von ihnen ausgeübten Tätigkeiten zumutbar sind. Grundsätzlich ist ein einziger Verweisungsberuf, der noch ohne Einschränkung ausgeübt werden kann, bereits für die Verneinung der Invaliditätspension ausreichend (RIS-Justiz RS0084983, RS0108306).

Das Berufungsgericht hat die Invalidität mit der Begründung verneint, dass die Klägerin jedenfalls noch in der Lage sei, Heimarbeit zu verrichten; diese sei ihr zumutbar, die Lohnhälfte könne bei einer Tätigkeit im Ausmaß von vier bis sechs Stunden jedenfalls erzielt werden.

Die in § 255 Abs 3 ASVG enthaltene Zumutbarkeitsformel soll die Verweisung auf Tätigkeiten verhindern, zu denen der Versicherte zwar im Stande wäre, die ihm aber unter billiger Berücksichtigung der von ihm - nicht nur während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag - ausgeübten Tätigkeiten nicht mehr zumutbar wären. Diese Bestimmung hindert zwar nicht die Verweisung auf Tätigkeiten, die den bisher ausgeübten unähnlich sind, soll aber in Ausnahmefällen eine Verweisung verhindern, die bei Berücksichtigung der schon ausgeübten Tätigkeiten als unbillig bezeichnet werden müsste (SSV-NF 6/12 mwN; 10 ObS 60/99t, 10 ObS 140/99g ua). Nach einem in der Lehre (Grillberger, Österreichisches Sozialrecht4 84) vertretenen Standpunkt soll durch die Zumutbarkeitsformel vor allem verhindert werden, dass sich der Versicherte höher qualifizierte Berufe oder gar selbständige Erwerbstätigkeiten entgegenhalten lassen muss, die er bei seinem Gesundheitszustand noch ausüben könnte, obwohl hiefür eine grundlegende Umschulung nötig wäre, die er oft gar nicht absolvieren könnte (10 ObS 140/99g).

Zutreffend hob schon das Erstgericht hervor, dass der Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 133 Abs 1 GSVG (bzw § 124 Abs 1 BSVG) als Erscheinungsform des Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit im Bereich der Pensionsversicherung der Selbständigen strenger ist als der Begriff der Invalidität in der Pensionsversicherung der Arbeiter oder der Berufsunfähigkeit in der Pensionsversicherung der Angestellten, weil bei der Erwerbsunfähigkeit die gänzliche Unfähigkeit, einem regelmäßigem Erwerb nachzugehen, nachgewiesen werden muss, während bei der Invalidität bzw der Berufsunfähigkeit der Nachweis, dass der Versicherte nicht im Stande ist, die Hälfte des Normalverdienstes zu erwerben bzw die Hälfte seiner Berufsfähigkeit eingebüßt zu haben, genügt (Teschner/Widlar, GSVG Anm 1 zu § 133 unter Berufung auf die Gesetzesmaterialien; SSV-NF 4/81). Die Verweisbarkeit erstreckt sich bei Prüfung der Erwerbsunfähigkeit grundsätzlich auf den gesamten Arbeitsmarkt, also auf alle selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeiten (SSV-NF 8/83, 10/29). Demgegenüber erstreckt sich die Verweisbarkeit bei den Arbeitern und Angestellten, wie schon erwähnt, nur auf unselbständige Tätigkeiten.

Da sich der selbständige Versicherte auf jede wie immer geartete - selbständige oder unselbständige - Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt verweisen lassen muss, ist nach der Rechtsprechung bei der Prüfung der Erwerbsunfähigkeit gemäß § 133 Abs 1 GSVG (bzw § 124 Abs 1 BSVG) auch die Möglichkeit der Heimarbeit zu berücksichtigen (SSV-NF 8/83;

ARD 4604/35/94; ARD 4929/15/98; 10 ObS 231/99i). Zur Frage der

Verweisung eines Arbeiters oder Angestellten auf

Heimarbeitstätigkeiten nahm der Senat in 10 ObS 217/97b (= ARD

4926/7/98 = DRdA 1998, 141) näher Stellung und hielt ausdrücklich

fest, dass der vorhergehenden Rechtsprechung zur Unfallversicherung oder Erwerbsunfähigkeitspensionen nach dem GSVG (bzw BSVG) nicht der allgemeine Rechtssatz entnommen werden kann, ein Versicherter müsse sich bei Prüfung des Verweisungsfeldes nach § 255 oder § 273 ASVG auch auf Heimarbeit verweisen lassen. Heimarbeiter im Sinne des § 2 Abs 1 lit a HeimarbeitsG 1960 ist, wer ohne Gewerbetreibender nach den Bestimmungen der Gewerbeordnung zu sein, in eigener Wohnung oder selbstgewählter Arbeitsstätte im Auftrage und für Rechnung von Personen, die Heimarbeit vergeben, mit der Herstellung, Bearbeitung, Verarbeitung oder Verpackung von Waren beschäftigt ist. Dabei ist der Begriff "Ware" in dieser Gesetzesbestimmung weit auszulegen. Gemäß § 4 Abs 1 Z 7 ASVG sind Heimarbeiter und die diesen nach den jeweiligen gesetzlichen Vorschriften über die Heimarbeit arbeitsrechtlich gleichgestellten Personen in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung vollversichert, ohne dass es auf die Voraussetzungen des § 4 Abs 2 ASVG (Dienstnehmereigenschaft) ankäme (VwGH in SV-Slg 36.904). Sowohl in der Rechtsprechung als auch in einem Teil der Lehre wird die Auffassung vertreten, dass das Beschäftigungsverhältnis in der Heimarbeit (Heimarbeitsverhältnis) kein Arbeitsverhältnis (Dienstverhältnis) auf Grund eines Arbeitsvertrages darstellt, wie es in der Regel beim Betriebsarbeitnehmer vorliegt. Diese Auffassung geht von der Überlegung aus, dass ein wesentliches Merkmal des Arbeitsverhältnisses, nämlich die Eingliederung in die Betriebsorganisation und damit die persönliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers, im Heimarbeitsverhältnis nicht gegeben ist (vgl Ritzberger-Moser/Widorn, HeimarbeitsG 1960, 17 f mwN).

Der zu 10 ObS 217/97b (= ARD 4926/7/98 = DRdA 1998, 141) zu beurteilende Fall unterschied sich vom vorliegenden dahin, dass die dort klagende Versicherte zwar ebenfalls keinen Beruf erlernt hatte, jedoch zuletzt als Heimarbeiterin beschäftigt war. Da diese Versicherte noch in der Lage war, ihre zuletzt ausgeübte Beschäftigung einer Heimarbeiterin weiterhin zu verrichten, stellte sich aber die Frage ihrer Verweisbarkeit gar nicht. Erst wenn nämlich feststeht, dass ein Versicherter die zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit nicht mehr ausüben kann, muss geprüft werden, ob für ihn eine andere Berufstätigkeit in Betracht kommt.

Zu 10 ObS 99/99b konnte der Senat die Frage, ob ein ungelernter Arbeiter grundsätzlich auf Heimarbeiten verwiesen werden darf, ungeprüft lassen, weil die dort klagende Versicherte sogar von gewöhnlichem Zeitdruck ausgeschlossen war, sodass sie wegen ihrer reduzierten Gesamtbelastbarkeit von vornherein nicht in der Lage war, Heimarbeiten zu leisten.

Ob nun die Klägerin die zuletzt ausgeübte Tätigkeit noch verrichten kann, wird im fortgesetzten Verfahren ebenso zu klären sein wie das bisher nicht eindeutig als Aspekt des medizinischen Leistungskalküls geklärte Vermeidungsverhalten und die Frage einer gesundheitsbedingten Einschränkung hinsichtlich des Ausschlusses eines Zeitdrucks bzw psychischen Drucks. Bereits jetzt steht aber fest, dass die Klägerin - anders als im Fall 10 ObS 217/97b - zuletzt nicht als Heimarbeiterin tätig war, sodass schon an dieser Stelle zur Zumutbarkeit einer Verweisung auf Heimarbeiten Stellung zu nehmen ist.

Heimarbeit stellt wie erwähnt kein Arbeitsverhältnis auf Grund eines Arbeitsvertrages dar, wie es in der Regel beim Betriebsarbeitnehmer vorliegt. Egger sieht den Heimarbeiter in einer Mittelstellung zwischen unselbständigen Arbeitnehmern und selbständigen Unternehmern (Egger in DRdA 1987, 97 [100]). Trost wies in ihren Untersuchungen zur Heimarbeit (und der jüngeren Erscheinungsform der Telearbeit) neben den faktischen sozialen Erscheinungen wie etwa der Tatsache der teilweisen oder völligen Isolation des Beschäftigten und den sich daran anknüpfenden Problemen (DRdA 1992, 25 [26]) auch auf andere faktische und rechtliche Probleme hin, die sich aus der Tatsache ergeben, dass im Falle der Heimarbeit in der Regel ein Teil des privaten Haushalts - ein Teil also der Privatsphäre - zur Arbeitsstätte wird (ZAS 1991, 181 [183]). Zu erwähnen sind weiters nicht nur allfällige Probleme im Zusammenhang mit Kontroll- und Zutrittsrechten des Arbeitgebers und Fragen des Arbeitnehmerschutzes (ZAS 1991, 183 ff), sondern auch Fragen des Wohnrechtes etwa im Zusammenhang damit, dass Mietverträge häufig jede Art von Erwerbstätigkeit im Bestandobjekt untersagen, oder Fragen des Nachbarrechtes etwa im Falle ungebührlicher Lärmbelästigung durch Heimarbeiter (DRdA 1992, 26). Die Auslagerung von Arbeitsplätzen ist in aller Regel für den Betriebsinhaber mit maßgeblichen Kostenersparnissen verbunden (ZAS 1991, 182), die häufig, wenn auch Unkostenzuschläge gewährt werden, zumindest zum Teil auf den Heimarbeiter überwälzt werden.

Dem Heimarbeiter obliegt es - im Gegensatz zum Betriebsarbeitnehmer - selbständig die Erwerbsquelle zu organisieren und jene Infrastruktur an Raum, Ausgestaltung des Arbeitsplatzes, Licht, Beheizung etc bereitzustellen, die im Betrieb regelmäßig vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wird. Die Besonderheiten der Heimarbeit, insbesondere aber auch die unübersehbare Nähe der Heimarbeit zur selbständigen Tätigkeit eines Unternehmers, lassen es gerechtfertigt erscheinen, im Fall der Notwendigkeit, eine ungelernte (bzw nicht angelernte) Arbeiterin auf eine andere Beschäftigung zu verweisen, in der Heimarbeit einen Ausnahmefall einer Verweisung zu erblicken, die bei Berücksichtigung ihrer bisher ausgeübten unselbständigen Tätigkeiten als unbillig bezeichnet werden müsste und daher der Versicherten nicht mehr zugemutet werden kann (§ 255 Abs 3 ASVG).

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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