OGH 10ObS86/97p

OGH10ObS86/97p15.4.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Danzl als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Carl Hennrich (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr.Bernhard Rupp (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj. Dominic H*****, vertreten durch die Mutter Brigitte H*****, ebendort, diese vertreten durch Dr.Johannes Grund und Dr.Wolf D.Polte, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Land Oberösterreich, 4010 Linz, Altstadt 30, vertreten durch Dr.Heinz Oppitz und Dr.Heinrich Neumayr, Rechtsanwälte in Linz, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10.Dezember 1996, GZ 12 Rs 253/96d-23, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 26.Juni 1996, GZ 17 Cgs 244/95a-18, teilweise als nichtig aufgehoben, teilweise bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten der Revision selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 27.5.1988 geborene und damit derzeit im 9. Lebensjahr stehende sowie im Haushalt seiner Eltern lebende mj. Kläger leidet an einer frühkindlichen Schädigung des Zentralnervensystems mit spastischer Tetraparese als Folgezustand einer perinatalen Hirnschädigung. Folge davon sind eine ausgeprägte Muskelhypotonie, eine Ataxie, sowie spastische Zeichen, nämlich eine durch Spastizität bedingte Sprechstörung und auch spastische Zeichen an der unteren Extremitäten mit häufigem Überkreuzen der Beine. Sehr wahrscheinlich besteht auch eine geringgradige Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit, wobei die körperliche Behinderung und die Sprachstörungen ein höheres (richtig wohl: geringeres) Ausmaß der Leistungsfähigkeit vortäuschen. Der Intelligenzgrad und die geistige Leistungsfähigkeit sind schwer objektivierbar, es ist jedoch anzunehmen, daß eine höhere geistige Behinderung nicht vorliegt. Der Kläger ist jedenfalls in der Lage, seinen Willen klar zu äußern, die Äußerungen sind auch durchwegs realitätsbezogen. Er kann mit seinem familiären und therapeutischen Milieu gut und in gegenseitiger Verständlichkeit kommunizieren.

Aufgrund seiner Behinderung ist der Kläger vollständig auf fremde Hilfe angewiesen, er kann jedoch seine Wünsche äußern. Er ist stuhl- und harnkontinent und kann mit fremder Hilfe bezüglich Stuhl und Harn sauber gehalten werden; Diesbezüglich geschehen nur "geringfügige Mißgeschicke". Beim Kläger besteht somit keine Inkontinenz, Pflege von Anus-präter, Kanülen und Katheder fallen weg. Einläufe sind nicht notwendig. Der Kläger kann Notdurft zwar korrekt vermelden, braucht jedoch zur Verrichtung Fremdhilfe.

Seine Bewegungsfähigkeit ist stark eingeschränkt. Er kann sich nur am Bauch robbend fortbewegen, kann mit Unterstützung Schrittbewegungen durchführen, jedoch nicht selbständig stehen, gehen oder sitzen. Der Gebrauch der Hände für gezielte Handlungen (zB Essen oder Bedienung eines elektrischen Rollstuhls) ist aufgrund der Störungen der Bewegungen infolge der Kombination von Ataxie (Störung der Feinbewegung und in der feinen Zielrichtungsbewegung) sowie Hypotonie nicht möglich. Sitzen kann der Kläger nur mit Unterstützung, zB mit den Lehnen und dem übrigen Teil des Rollstuhls. Durch diese schwere Bewegungsstörung bedingt besteht auch erhöhte Verletzbarkeit, welcher durch das Fixieren im Rollstuhl weitgehend Abhilfe geschaffen wird. Im Rollstuhl muß der Kläger durch die Rückenlehne, aber auch seitlich abgesichert sein, um nicht wegzusacken. Ob er außerdem im Rollstuhl nach vorne abgesichert werden muß, kann nicht definitiv gesagt werden, es ist allerdings anzunehmen, daß der Kläger bei einer entsprechenden leichten Neigung der Rückenlehne zumindest zeitweise ohne eine solche Abstützung nach vorne auskommen kann. Es ist aufgrund dieser Umstände derzeit nicht vorstellbar, daß der Kläger einen mit Elektromotor betriebenen Rollstuhl selbst betätigt, ohne daß dabei die Gefahr von wesentlichen Fehlleistungen mit der Folge von Verletzungen besteht. Jedenfalls ist ein selbständiger Transfer vom Rollstuhl ins Bett oder sonstwohin und umgekehrt wegen der Bewegungsstörungen in den oberen Extremitäten nicht möglich und bedarf der Kläger zur Fortbewegung immer, auch im Rollstuhl, anderer Personen. Außerdem bestehen bei ihm fokale epileptische Anfälle, die bisher medikamentös nicht beherrscht werden konnten, obwohl sich der Kläger in einer kompetenten Therapie befindet. Schließlich besteht in letzter Zeit eine psychische Beeinträchtigung dadurch, daß er langsam die Erkenntnis erlangt, daß er behindert ist und ihm diese Beeinträchtigung gegenüber anderen Kindern bewußt wird.

Für die Betreuung des Klägers ist dauernde Bereitschaft, wenn auch nicht dauernde Anwesenheit einer Betreuungsperson erforderlich. Seine Betreuung läßt sich strukturieren und standardisieren, das bedeutet, daß man sie vorausplanen und einen gewissen Tagesablauf vorgeben kann, von dem man nur gelegentlich wird abweichen müssen. Man kann den Kläger über kurze Zeiten allein lassen, beispielsweise für den Zeitraum eines Einkaufes. Ausgeschlossen ist jedoch, daß der Kläger etwa über einen halben Tag oder gar über einen ganzen Tag allein gelassen wird. Außerdem kann er fallweise auch in der Nacht alleingelassen werden. Insofern bedarf der Kläger einer ständigen Aufsicht, jedoch mit der Einschränkung, daß nicht ständig jemand bei ihm sein muß.

Aufgrund dieser seiner Behinderungen bezieht der Kläger seit Mai 1994 vom beklagten Land Pflegegeld der Stufe 5.

Mit Bescheid vom 27. (in der Klage unrichtig zitiert: 24.)10.1995 wies die beklagte Partei seinen Antrag auf Erhöhung des Pflegegeldes ab.

Mit seiner Klage stellte der Kläger, vertreten durch seine obsorgeberechtigte Mutter, den Antrag auf Verpflichtung der beklagten Partei zur Zahlung des Pflegegeldes der Stufe 6 im gesetzlichen Ausmaß.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei, dem Kläger ab 1.5.1994 ein Pflegegeld der Stufe 5 nach dem oberösterreichischen Pflegegeldgesetz (im folgenden kurz: oöPGG) im gesetzlichen Ausmaß zu bezahlen; das darüber hinausgehende Mehrbegehren auf Pflegegeld der Stufe 6 ab 1.5.1995 wurde abgewiesen.

Den einleitend - zusammengefaßt - wiedergegebenen Sachverhalt beurteilte das Erstgericht rechtlich dahingehend, daß Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 6 nach § 4 Abs 2 oöPGG nur bei Personen bestehe, bei denen eine dauernde Beaufsichtigung oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand erforderlich sei. § 6 der oöEinstV beschreibe den außergewöhnlichen Pflegeaufwand dahingehend, daß die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich sei. Eine solche Situation sei beim Kläger hier nicht gegeben.

Das Berufungsgericht hob das Ersturteil sowie das dieser Entscheidung zugrundeliegende Verfahren insoweit, als die Klage auf Gewährung eines Pflegegeldes im Differenzbetrag der Stufen 5 und 6 ab dem 1.5.1995 bis 30.6.1995 gerichtet ist, als nichtig auf und wies die Klage in diesem Umfang (unangefochten und damit rechtskräftig) - mangels Rechtswegzulässigkeit für die Zeit vor dem 1.7.1995 - zurück; im übrigen wurde der Berufung des Klägers keine Folge gegeben. Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als unbedenklich und auch dessen rechtliche Beurteilung, wonach beim Kläger zwar unbestritten vom Vorliegen eines außergewöhnlichen Pflegeaufwandes (Stufe 5), nicht jedoch vom Erfordernis einer dauernden Beaufsichtigung oder vom Vorliegen eines gleichzuachtenden Pflegeaufwandes (Stufe 6) auszugehen sei.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte, gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige und von der beklagten Partei beantwortete Revision des Klägers ist nicht berechtigt. Dies aus folgenden Erwägungen:

1. Zunächst ist vorauszuschicken, daß die Klage keine pflegschaftsgerichtliche Genehmigung nach § 154 Abs 3 ABGB durch das nach § 110 JN zuständige Bezirksgericht aufweist und nach der Aktenlage auch im gesamten bisherigen Verfahren nicht erfahren hat. Während im Pflegegeldverfahren eines gleichfalls minderjährigen Klägers zu 10 ObS 2305/96k eine solche pflegschaftsgerichtliche Genehmigung vorgelegen hatte, hat der Senat in der Pflegegeldsache 10 ObS 2158/96 (nach dem burgenländischen PGG), wo eine solche fehlte, ausgesprochen, daß eine Klagsgenehmigung nach der zitierten Gesetzesstelle in diesem besonderen Falle entbehrlich sei. Eine Sozialrechtssache nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG belaste zufolge der besonderen Kostentragungsvorschriften nach § 77 Abs 1 Z 1 und § 80 ASGG den minderjährigen Kläger (auch im Falle des Prozeßverlustes) nicht mit Prozeßkosten. Dies gilt auch für die Anwaltskosten des hier sogar vom Verfahrensbeginn an (und nicht erst im Rechtsmittelverfahren) tätig gewordenen Rechtsanwaltes, da sich dieser von Anfang an ausdrücklich als Vertreter der Mutter (und nicht des Minderjährigen selbst) deklarierte, sodaß auch bloß dieser gegenüber ein Honoraranspruch zu erwarten wäre. Aus all dem folgt, daß es auch keiner ansonsten erforderlichen Vorwegbeurteilung der Erfolgsaussichten des vom Minderjährigen angestrengten Rechtsstreites (samt seiner Rechtsmittelerhebungen) und demnach keiner Klagsgenehmigung bedarf, um diesen vor eventuellen Prozeßnachteilen (speziell aus kostenrechtlicher Sicht) zu bewahren.

2. Unstrittig ist sowohl, daß der Anspruch des Klägers nach dem öoPGG LGBl 1993/64 zu beurteilen ist, als auch, daß bei ihm die zeitlichen Voraussetzungen jedenfalls der Pflegegeldstufe 5 erfüllt sind. Nach § 4 Abs 3 leg cit gebührt Pflegegeld der Stufe 5 Personen, deren Pflegebedarf nach Abs 1 durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, "wenn ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich ist"; solches der Pflegestufe 6 Personen, deren Pflegebedarf nach Abs 1 ebenfalls durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, "wenn dauernde Beaufsichtigung oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand erforderlich ist". Lediglich der Begriff des "außergewöhnlichen Pflegeaufwandes" wird in § 6 der EinstV zum oöPGG (LGBl 1993/65) definiert, und zwar dahingehend, daß ein solcher dann vorliegt, "wenn die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich ist". Sämtliche wiedergegebenen landesrechtlichen Bestimmungen stimmen damit wortgleich auch mit den entsprechenden Regelungen zum Bundespflegegeld überein (§ 4 Abs 2 BPGG einerseits, § 6 EinstV andererseits). Die Einordnung in Stufe 6 sollte nach der Regierungsvorlage zum BPGG (776 BlgNR 18. GP) nur bei Vorliegen des Erfordernisses der dauernden Beaufsichtigung zulässig sein. Dieser Tatbestand betrifft in erster Linie Pflegebedürftige mit geistiger oder psychischer Behinderung. Durch die im Ausschuß für Arbeit und Soziales vorgenommene Erweiterung der Anspruchsvoraussetzungen für die Stufe 6 durch die Wortfolge "oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand" soll auch körperlich behinderten Menschen der Zugang zu dieser Stufe ermöglicht werden (908 BlgNR 18. GP, 4). Unter dauernder Beaufsichtigung ist hiebei die Notwendigkeit einer weitgehend permanenten Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich bzw in unmittelbarer Nähe des Pflegebedürftigen zu verstehen (Gruber/Pallinger, BPGG § 4 Rz 57; ständige Rechtsprechung des Senates: 10 ObS 2324/96d, 10 ObS 2468/96f, jüngst 10 ObS 101/97v). Die dauernde Beaufsichtigung eines Pflegebedürftigen wird vor allem dann erforderlich sein, wenn im Einzelfall besonders häufig und/oder besonders dringend (etwa wegen sonstiger Selbstgefährdung) ein Bedarf nach fremder Hilfe auftritt; dieser Gesichtspunkt wird auch den Ausschlag für die Einstufung körperlicher Behinderten in Stufe 6 geben müssen, weil dieser Personengruppe ganz offenbar ebenfalls ein Zugang zur zweithöchsten Pflegegeldstufe ermöglicht werden soll (Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 198; derselbe, BPGG 98 unter Hinweis auf den bereits zitierten parlamentarischen Ausschußbericht). Die Richtlinien des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger für die Koordinierung der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit im Sinne des BPGG (SozSi 1994, 686 - Amtliche Verlautbarung Nr 120/1994), welche allerdings nach der bereits wiederholt dargelegten Auffassung des Senates für Gerichte grundsätzlich nicht verbindlich sind (10 ObS 2349/96f uam), nehmen einen dem Erfordernis dauernder Beaufsichtigung gleichzuachtenden Zustand ebenfalls dann an, wenn eine intensive, zeitlich unkoordinierbare Pflegeleistung beim immobilen oder mobilen Pflegebedürftigen zu erbringen ist (§ 17 Abs 2 Z 3 lit b dieser Richtlinien). Da sich diese Umschreibung der Erfordernisse für eine Einstufung in die Stufe 6 im wesentlichen mit der Auffassung des Obersten Gerichtshofes deckt, muß hier zu der Frage der Bindung der Richtlinien für die Gerichte nicht erneut Stellung genommen werden (vgl 10 ObS 2468/96f).

3. Die von den Vorinstanzen getroffenen und für den Obersten Gerichtshof maßgeblichen Feststellungen bieten nun keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Zustand des mj. Klägers eine solche dauernde Beaufsichtigung oder einen solchen gleichzuachtenden Pflegeaufwand erfordert. Hernach ist nämlich eine derart intensive, zeitlich unkoordinierbare Pflegeleistung bei ihm gerade nicht erforderlich. Seine Betreuung läßt sich (zeitlich wie inhaltlich) strukturieren und standardisieren, im Tagesablauf vorausplanen und gelegentlich auch hievon abweichen; der Kläger kann über kurze Zeiten allein gelassen werden, fallweise sogar über die Nacht. Insoweit bedarf er - wiederum nach den Feststellungen - keiner ständigen Aufsicht in dem Sinne, daß jemand ständig bei ihm sein muß. Er kann Wünsche sach- und realitätsbezogen äußern; er ist auch nicht harn- oder stuhlinkontinent. Die Gefahr einer Selbstverletzung in jenen zeitlichen Phasen, in denen der Kläger alleingelassen wird, kann durch das Hilfsmittel des Rollstuhls samt Fixierung in diesem ausgeschaltet werden. Damit ist aber - insgesamt gesehen - für das Erfordernis einer intensiven, zeitlich unkoordinierbaren Pflegeleistung, welche allein die Gewährung eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 6 rechtfertigen könnte, keine Rechtsgrundlage gegeben. Da der Kläger somit nicht die Voraussetzungen für diese (höhere) Pflegegeldstufe erfüllt, konnte seiner Revision keine Folge gegeben werden; das angefochtene Urteil des Berufungsgerichtes war vielmehr zu bestätigen.

4. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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