OGH 10ObS2305/96k

OGH10ObS2305/96k12.9.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Steinbauer und Dr.Danzl als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Hofrat Mag.Kurt Resch (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag.Wilhelm Patzold (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj.Dominik P*****, geboren am 19.Mai 1992, ***** vertreten durch den Vater Günther P*****, ebendort, dieser im Revisionsverfahren nicht vertreten, wider die beklagte Partei Land Oberösterreich, 4010 Linz, Altstadt 30, vertreten durch Dr.Heinz Oppitz und Dr.Heinrich Neumayr, Rechtsanwälte in Linz, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16.April 1996, GZ 12 Rs 14/96g-15, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 23.November 1995, GZ 18 Cgs 189/95w-8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahingehend abgeändert, daß die beklagte Partei schuldig ist, dem Kläger ab 1.Mai 1995 ein Pflegegeld der Stufe 2, also monatlich S 3.688,-- unter Berücksichtigung allfälliger seither erfolgter Anpassungen sowie unter Anrechnung einer gleichartigen Leistung von monatlich S 825,-- ebenfalls unter Berücksichtigung allfälliger seither erfolgter Anpassungen, zu zahlen.

Das Mehrbegehren auf Gewährung eines Pflegegeldes der Stufe 4 ab 1. Juli 1995 wird abgewiesen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 19.5.1992 geborene und damit derzeit im fünften Lebensjahr stehende minderjährige Kläger benötigt zufolge seines Zustandes nach Myelomeningocelen-Operation 1992 zur Fortbewegung überwiegend einen Rollstuhl, da er selbständig nicht in der Lage ist, zu gehen. Wohl kann er seine Beine etwas bewegen, nicht jedoch sein Körpergewicht halten; er kann sich daher nur robbend in der Wohnung bewegen. Außerdem leidet er an einer nicht alters-, sondern krankheitsbedingten Stuhl- und Harninkontinenz. Den Rollstuhl verwendet er täglich mehrere Stunden. In der Wohnung kann dieser vom Kläger selbständig fortbewegt werden, außerhalb des Hauses muß die Fortbewegung in einem Behindertenbuggy oder im Rollstuhl durch Dritte erfolgen.

Mit Bescheid vom 14.6.1995 hat die beklagte Partei ein Pflegegeld der Stufe 2 in Höhe von monatlich S 2.863,-- unter Anrechnung einer gleichartigen Leistung von monatlich S 825,-- ab Mai 1995 gewährt.

In seiner hiegegen erhobenen und pflegschaftsgerichtlich genehmigten Klage begehrte der Kläger die Verpflichtung der beklagten Partei zur Zahlung eines Pflegegeldes der Stufe 5 ab dem 1.Juli 1995; später wurde dieses Begehren auf die Stufe 4 eingeschränkt.

Das Erstgericht erkannte im Sinne des eingeschränkten Klagebegehrens (Pflegegeld der Stufe 4 im gesetzlichen Ausmaß, jedoch unter Anrechnung gleichartiger Leistungen). Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahingehend, daß nach § 8 Z 2 der oberösterreichischen Einstufungsverordnung (im folgenden kurz: oö EinstV) zum oberösterreichischen Pflegegeldgesetz (im folgenden kurz: oö PGG) bei Personen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sind, ohne weitere Prüfung ein Pflegegeld von mehr als 180 Stunden, sohin der Pflegegeldstufe 4, anzunehmen sei, wenn - wie hier - eine Stuhl- oder Harninkontinenz bzw Blasen- oder Mastdarmlähmung vorliege. Anders als nach § 4 Abs 1 oö PGG, wonach bei der Feststellung der funktionell erhobenen Pflegegeldstufe eines Kleinkindes nur jener Pflegebedarf zu berücksichtigen sei, der über den eines gleichaltrigen gesunden Kindes hinausgehe, sei die nach der EinstV diagnosebezogene Mindesteinstufung altersunabhängig, daher auch für Kleinkinder heranzuziehen. Die Richtlinien für die einheitliche Anwendung des Bundespflegegeldgesetzes (BPGG) könnten hiefür nicht herangezogen werden und sei deren Einschränkung nur auf Betroffene, welche weitgehend selbständig in der Lage sind, ihren Bewegungsradius zu erweitern und ihren Lebenslauf möglichst eigenständig zu gestalten, "willkürlich und verfassungswidrig". Außerdem handle es sich hiebei nur um eine verwaltungsinterne Norm, welche bloß die Träger der Sozialversicherung, nicht aber die Gerichte binde. Da der Kläger Bezieher eines Erhöhungsbeitrages zur Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder sei, sei dieser gemäß § 6 oö PGG zur Hälfte auf den Pflegegeldanspruch anzurechnen, was auch spruchmäßig auszusprechen gewesen sei.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und schloß sich auch in seiner rechtlichen Argumentation den Ausführungen des Erstgerichtes, insbesondere dessen Auffassung, daß die Auslegungshilfe der genannten Richtlinien "unter keinen Umständen zu einer verbindlichen Anordnung des oö PGG oder der EinstV entgegenstehenden Ergebnis führen" könne, an.

In der hiegegen erhobenen, auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützten und von der klagenden Partei unbeantwortet gebliebenen Revision beantragt die beklagte Partei die Abänderung der Urteile der Vorinstanzen im Sinne einer Zuerkennung bloß des Pflegegeldes der Stufe 2 ab Antragstellung unter Anrechnung einer gleichartigen Leistung; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Die gemäß § 46 Abs 3 Z 3 ASGG auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige Revision ist teilweise berechtigt.

1. Unstrittig ist der Anspruch des Klägers nicht nach dem BPGG BGBl 1993/110 idgF, sondern nach dem oö PGG LGBl 1993/64 zu beurteilen. Dem hierin (§ 3 Abs 1 Z 4, ebenso auch § 4 Abs 1 BPGG) normierten Mindestalter ab Vollendung des dritten Lebensjahres hat der Kläger durch Stellung seines Begehrens erst ab dem 1.7.1995 Rechnung getragen. Nach § 4 Abs 1 oö PGG gebührt das Pflegegeld bei Zutreffen der (sonstigen) Voraussetzungen gemäß § 3 leg cit (welche unstrittig sind), "wenn aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung der ständige Betreuungs- und Hilfsbedarf (Pflegebedarf) voraussichtlich mindestens sechs Monate andauern wird oder würde." Auch dieser Wortlaut deckt sich mit § 4 Abs 1 BPGG. Nach § 1 des Landes- wie des Bundesgesetzes "hat das Pflegegeld den Zweck, in Form eines Beitrages pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten, um pflegebedürftigen Personen soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen" (siehe hiezu auch RV 776 BlgNR 18. GP, 25). Gruber/Pallinger vertreten hiezu in ihrem Kommentar (Rz 46 zu § 4) die Auffassung, daß "im Hinblick darauf, daß durch das Pflegegeld nur pflegebedingte Mehraufwendungen abgegolten werden sollen und Kinder Hilfe und Betreuung im Sinne des BPGG auch ohne Zusammenhang mit einer Behinderung benötigen, bei Beurteilung des Pflegebedarfs bei Kindern nur jenes Ausmaß an Betreuung und Hilfe zu berücksichtigen sein wird, welches über das altersmäßig erforderliche Ausmaß hinausgeht". In diesem Sinne heißt es auch in § 23 Abs 2 der Richtlinien des Hauptverbandes der Österr. Sozialversicherungsträger für die einheitliche Anwendung des BPGG, kundgemacht in SozSi 1994, 686 (abgedruckt auch in Pfeil, Bundespflegegeldgesetz, 314 und Marhold, Kodex Pflegegeldgesetze, 23), daß "bei der Beurteilung des Pflegebedarfes von Kindern und Jugendlichen nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen ist, das über das altersmäßig erforderliche Ausmaß hinausgeht." Gleichermaßen ordnen auch § 3 Abs 3 der EinstV zum nö PGG (LGBl 1993/76) und § 3 Abs 3 der EinstV zum WPGG (LGBl 1993/45) - jeweils wortgleich - an, daß Pflegebedarf "bei Personen zwischen dem dritten und fünfzehnten Lebensjahr insoweit nicht anzunehmen ist, als die notwendigen Verrichtungen auch von Personen, die sich auf der dem jeweiligen Lebensalter entsprechenden Entwicklungsstufe befinden, nicht selbständig vorgenommen werden können".

In der (hier maßgeblichen) EinstV zum oö PGG (LGBl 1993/65) fehlt zwar eine derartige Einschränkung wie in den erwähnten anderen beiden Bundesländern, sie ergibt sich jedoch teleologisch bereits aus den durch Unterstreichung hervorgehobenen verba legalia "pflegebedingter Mehraufwand", sodaß ihr Fehlen systematisch nicht als Wertungs- oder gar Inhaltsunterschied interpretativ gedeutet werden kann. Insoweit sind die jeweils von allen Gesetzgebern (Bund wie Länder) gleichermaßen verwendeten Worte aus ihrer "eigentümlichen Bedeutung" einerseits und ihrem Zusammenhang andererseits (§ 6 ABGB) mit keinem unterschiedlichen Zweck und Inhalt ausgestattet. Daß Kindern und Minderjährigen schon aus ihrer biologischen Entwicklung heraus ein in den Obsorgeregelungen des Privatrechts (§§ 144, 145, 166, § 216 Abs 1 ABGB) zum Ausdruck gebrachter geradezu natürlicher, wenngleich alters- und entwicklungsabhängiger Betreuungsaufwand durch ihre Eltern bzw den sie betreuenden Elternteil oder Vormund zukommen muß, ist ein naturgesetzlicher Erfahrungssatz und bedarf insoweit keiner besonderen weitergehenden Begründung. Insoweit umfaßt die Pflege eines jeden Kindes neben der Wahrung seines körperlichen Wohles und der Gesundheit auch die unmittelbare Aufsicht (Koziol/Welser II10 260). Daß also ein Kind im Alter des Klägers täglich an- und ausgekleidet und gewaschen werden muß (§ 1 Abs 3 EinstV BGBl 1993/314 und oöLGBl 1993/65), daß für es gekocht werden muß (§ 1 Abs 4 leg cit), daß es nicht einkaufen gehen, die Wohnung nicht reinigen, die Wäsche nicht waschen und die Wohnung nicht beheizen kann (§ 2 Abs 2 leg cit), begründet keinen Pflegebedarf im Sinne der einschlägigen Pflegegeldgesetze. Insbesondere diese letztgenannten Hilfsverrichtungen des § 2 leg cit werden sich bei gesunden Kleinkindern im Regelfall auch nicht wesentlich von denen bei Behinderten gleicher Altersstufe unterscheiden. Alle diese Arten an Aufwendung sind jedenfalls nicht unter den Begriff des "pflegebedingten Mehraufwandes" zu subsumieren (so auch ausführlich Pfeil, Die Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 172 und 340), sodaß den Umschreibungen im § 3 Abs 3 der EinstV der Bundesländer Niederöstereich und Wien insoweit nur klarstellende, aber nicht gesonderte normative Aussagekraft (abweichend von jenen Bundesländern wie Oberösterreich, in denen derartige Anordnungen fehlen) zukommt, sind doch Kinder (und Minderjährige) schon an sich durch die (altersgestaffelte) Unfähigkeit zur sozialen Anpassung und Integration, aber auch Gefahrenerkennung und -verhütung vielfach außerstande, für sich selbst entsprechend zu sorgen. Dieser "natürliche" Pflegeaufwand kann nicht Anspruch auf Pflegegeld begründen, sondern ist vielmehr familienrechtlich von den jeweils obsorgeberechtigten Personen (grundsätzlich auch kostenmäßig) alleine zu tragen.

Dies ist auch der von der beklagten Partei von Anfang an eingenommene und in ihrer Revision nochmals verdeutlicht zum Ausdruck gebrachte Standpunkt.

2. Das Erstgericht (und ihm folgend das Berufungsgericht) vermeinen, daß sich eine solche funktionsbezogene Auslegung und Ermittlung beim Kläger deshalb verbiete, weil § 8 Z 3 der oö EinstV eine vom konkreten Ausmaß an Betreuung und Hilfe losgelöste, auch altersneutrale rein diagnoseabhängige Fixeinstufung vorsehe, welche eine konkrete Ermittlung des altersbedingten Pflegemehrbedarfs verbiete. Tatsächlich heißt es in dieser am 1.7.1993 in Kraft getretenen Bestimmung, daß "bei Personen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sind, mindestens folgender Pflegebedarf ohne weitere Prüfung nach § 4 des oö PGG anzunehmen (ist): ... Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich, wenn kein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten, jedoch eine Stuhl- oder Harninkontinenz bzw eine Blasen- oder Mastdarmlähmung vorliegt". Auch dieser Wortlaut deckt sich vollkommen mit § 8 Z 3 der EinstV zum BPGG (BGBl 1993/314).

Der Wortlaut allein würde zwar die von den Vorinstanzen gezogene Schlußfolgerung, daß für diesen Bereich der pauschalierten Mobilitätshilfe durch Gebrauch eines Rollstuhles der Verordnungsgeber nach unten keinen Spielraum zuließ (zulassen wollte), dieser Pflegebedarf also unabhängig vom Lebensalter auch bei noch nicht Erwachsenen mit Ausfall der hierin aufgezählten Körperfunktionen als Mindestwert anzusetzen und als solcher insoweit fixer Zeitwert für die Gewährung des Pflegegeldes abstrakt ("ohne weitere Prüfung") anzunehmen sei (Pfeil, Bundespflegegeldgesetz, 99), bzw individuell bei einem Pflegebedürftigen abweichende Situationen im Einzelfall nur zur Gewährung einer höheren, niemals aber zu einem niedrigeren Zeitansatz für den Pflegebedarf führen könnten (Pfeil, aaO), grundsätzlich rechtfertigen. Eine solche Auslegung ohne Rücksicht auf das jeweilige Lebensalter führte jedoch - im Lichte der oben zu Punkt 1. niedergelegten Erwägungen - nach Ansicht des Senates zu unbefriedigenden, geradezu gleichheitswidrigen (da sachlich ungerechtfertigten und damit unter Umständen willkürlichen) Ergebnissen. Insoweit darf nämlich auch der Ausdruck "ohne weitere Prüfung" in § 8 Z 1 in den Einstufungsverordnungen des Bundes wie auch des hier beklagten Landes nicht im Sinne der vorstehenden reinen Wortinterpretation verstanden werden, sondern ist nach Auffassung des Senates auf die vom Gesetz(Verordnungs-)geber gewünschte Rechtsfolgenanordnung teleologisch zu reduzieren (Bydlinski in Rummel, ABGB I2, Rz 7 zu § 7). Der Ausdruck "ohne weitere Prüfung" bezieht sich erkennbar zwar auf die Prüfung nach den §§ 1 und 2 EinstV, darf aber den dem Gesetz bzw der Verordnung insgesamt immanenten Gedanken der Altersbezogenheit altersbedingter Pflege nicht außer acht lassen, mit anderen Worten: Auch der Pflegebedarf nach dieser Norm ist bei Kleinkindern insoweit nicht anzunehmen, als es sich um notwendige Verrichtungen handelt, die auch von gesunden (normalen) Kindern nicht selbständig vorgenommen werden (können). Erst diese teleologische Reduktion (Restriktion) gewährleistet damit sachlich gerechtfertigte Gleichbehandlung bzw verhindert umgekehrt sachlich ungerechtfertigte Ungleichbehandlung.

3. Reduziert man - ausgehend von dieser Rechtslage und in Zusammenfassung des Gesagten - den im § 8 Z 2 der EinstV vorgesehenen Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden monatlich um den wie vor beim minderjährigen Kläger unabhängig von seiner gegebenen Behinderung altersbedingt in jedem Falle gegebenen Normalaufwand, so verbleibt ein pflegegeldmäßig abzugeltender Mehraufwand von durchschnittlich mehr als 75 Stunden monatlich. Dies entspricht der Pflegegeldstufe 2. In diesem Sinne waren die Urteile der Vorinstanzen - in Wiederherstellung des vom Kläger bezüglich des Zeitraumes nur teilweise bekämpften Bescheides - daher abzuändern und das darüber hinausgehende Mehrbegehren abzuweisen.

4. Ein Kostenzuspruch an den Kläger hatte nicht zu erfolgen, da diesem solche im erst- und zweitinstanzlichen Verfahren nicht entstanden sind und er sich auch am Revisionsverfahren nicht beteiligte.

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