Normen
MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §21 Abs3 Z2;
NAG 2005 §64;
VwGG §42 Abs2 Z1;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017220086.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien (belangte Behörde) vom 8. November 2016 wurde der Erstantrag der Revisionswerberin, einer Staatsangehörigen von Taiwan, vom 14. Juli 2016 auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung "Studierender" gemäß § 64 in Verbindung mit § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) wegen unzulässiger Inlandsantragstellung abgewiesen.
2 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 23. Februar 2017 wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerberin als unbegründet ab und bestätigte den bekämpften Bescheid. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG wurde für unzulässig erklärt.
Die Revisionswerberin sei - so das Verwaltungsgericht - seit dem Jahr 2002 durchgehend in Österreich aufhältig, wobei sie bis zum 1. März 2016 über eine Aufenthaltsbewilligung (zuletzt: "Studierender") verfügt habe. Mit dem in Rechtskraft erwachsenen Bescheid der belangten Behörde vom 1. März 2016 sei der Verlängerungsantrag der Revisionswerberin vom 27. November 2015 betreffend ihre Aufenthaltsbewilligung "Studierender" abgewiesen worden. Laut vorliegender Aktenlage sei die Revisionswerberin berechtigt gewesen, im Herbst 2015 an der Sigmund Freud Privatuniversität den Studiengang "Human/Zahnmedizin" zu beginnen.
Dem Vorbringen der Revisionswerberin, nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nehme das persönliche Interesse an einem Verblieb in Österreich mit der Dauer des Inlandsaufenthaltes zu, hielt das Verwaltungsgericht entgegen, dass die ins Treffen geführten Entscheidungen nicht einschlägig seien, weil sie "Sachverhalte behandeln, die humanitäres Bleiberecht bzw. Ausweisungen nach negativ entschiedenen Asylverfahren betreffen". Vielmehr leitete das Verwaltungsgericht aus dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 13. November 2007, 2006/18/0301, ab, dass ein langdauernder Aufenthalt auf Grund von - nur zu einem vorübergehenden befristeten Aufenthalt berechtigenden - Aufenthaltsbewilligungen keinesfalls so schwer wiegen könne wie bei Aufenthaltstiteln, die zur Niederlassung berechtigten. Eine Abwägung "nur aufgrund der langen Aufenthaltsdauer bzw. der sprachlichen Kenntnisse und der sozialen Kontakte" könne das öffentliche Interesse an der Einhaltung eines geordneten Fremdenwesens nicht überwiegen.
Zum Beschwerdevorbringen, der Abbruch des Studiums bzw. der schwierige Wiedereinstieg führe zur Unzumutbarkeit der Ausreise, verwies das Verwaltungsgericht auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 10. Mai 2016, Ra 2015/22/0158, dem zufolge weder die aus einer Auslandsantragstellung resultierende Unterbrechung des Studiums noch damit verbundene finanzielle Einbußen eine Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit der Ausreise begründen würden.
Da der Sachverhalt unstrittig sei und keine neuen Beweismittel angeboten worden seien, habe von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 24 Abs. 4 VwGVG abgesehen werden können.
3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
4 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
5 In der Revision wird zur Zulässigkeit unter Verweis auf näher zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf die Bedeutung eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthaltes bei der Vornahme einer Interessenabwägung verwiesen. Grundlage der vorliegend durchzuführenden Interessenabwägung sei Art. 8 EMRK, weshalb die in der Beschwerde zitierten Entscheidungen sehr wohl einschlägig gewesen seien. Dass die Revisionswerberin jeweils nur zu einem vorübergehenden Aufenthalt berechtigt gewesen sei, sei nicht entscheidungserheblich, zumal den zitierten Entscheidungen auch Aufenthalte auf Grund eines Asylverfahrens zugrunde gelegen seien. Angesichts des mehr als 14-jährigen Inlandsaufenthaltes der Revisionswerberin und ihrer Integration - die Revisionswerberin lebe seit ihrem 12. Lebensjahr in Österreich, habe hier maturiert, dann Musik studiert und studiere nunmehr Medizin - sei von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen und wäre die Inlandsantragstellung daher zuzulassen gewesen.
Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig. 6 § 21 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, lautet auszugsweise:
"Verfahren bei Erstanträgen
§ 21. (1) Erstanträge sind vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.
...
(3) Abweichend von Abs. 1 kann die Behörde auf begründeten Antrag die Antragstellung im Inland zulassen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 vorliegt und die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar ist:
...
2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im
Sinne des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3).
Die Stellung eines solchen Antrages ist nur bis zur Erlassung des Bescheides zulässig. Über diesen Umstand ist der Fremde zu belehren.
..."
7 Aus § 21 Abs. 3 Z 2 NAG ergibt sich, dass die Inlandsantragstellung auf begründeten Antrag dann zugelassen werden kann, wenn - ausnahmsweise, nämlich für den Fall der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Ausreise des Fremden - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht. Bei der vorzunehmenden Beurteilung nach Art. 8 EMRK ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Versagung eines Aufenthaltstitels mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 11 Abs. 3 NAG genannten Kriterien in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (siehe VwGH 27.4.2017, Ra 2016/22/0102, mwN).
8 Ausgehend davon ist für die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzung des § 21 Abs. 3 Z 2 NAG die Rechtsprechung zur Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG bzw. Art. 8 EMRK maßgeblich. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt - sowohl im Anwendungsbereich des § 21 Abs. 3 Z 2 NAG als auch bei Interessenabwägungen nach Art. 8 EMRK in anderen Zusammenhängen - einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt eine besondere Bedeutung beigemessen (vgl. grundsätzlich zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, mwN; zur Bedeutung eines langjährigen Inlandsaufenthaltes im Zuge einer Beurteilung nach § 21 Abs. 3 Z 2 NAG siehe etwa VwGH 10.12.2013, 2013/22/0242; 17.4.2013, 2011/22/0185; 26.2.2013, 2010/22/0073; 13.9.2011, 2009/22/0216). Ausgehend davon hat das Verwaltungsgericht dem mehr als 14-jährigen Aufenthalt der Revisionswerberin in Österreich, der noch dazu weit überwiegend rechtmäßig war, zu Unrecht der Sache nach offenbar keine entscheidungserhebliche Bedeutung beigemessen.
9 Den oben zitierten Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofes lagen vereinzelt Konstellationen zugrunde, in denen der langjährige Aufenthalt überwiegend unrechtmäßig (2009/22/0216) bzw. nur auf Grund von asylrechtlichen Bestimmungen vorübergehend rechtmäßig (2013/22/0242) war. Vor diesem Hintergrund kommt dem vom Verwaltungsgericht besonders hervorgehobenen Umstand, dass die von der Revisionswerberin von 2002 bis 2016 innegehabten Aufenthaltsbewilligungen jeweils nur zum vorübergehenden Aufenthalt berechtigt haben, - wenngleich er in die Gesamtbetrachtung einfließen kann - jedenfalls keine überragende Bedeutung für die Interessenabwägung zu.
Soweit das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang auf das - zu einer Ausweisung gemäß § 54 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 ergangene - Erkenntnis 2006/18/0301 verweist, verkennt es, dass der Verwaltungsgerichtshof darin den Umstand, dass der dortige Beschwerdeführer nur zum - vorübergehenden - Zweck des Studiums aufenthaltsberechtigt gewesen ist, mit dem völlig unzureichenden Studienerfolg des Beschwerdeführers in Beziehung gesetzt und diesen Umstand bei der Interessenabwägung als gewichtige Beeinträchtigung der öffentlichen Interessen in Anschlag gebracht hat. Da eine derartige Beeinträchtigung vorliegend dem angefochtenen Erkenntnis nicht zu entnehmen ist, lässt sich die dort vorgenommene Beurteilung auf den hier gegenständlichen Fall nicht übertragen.
10 Zwar lassen sich den Feststellungen des Verwaltungsgerichtes keine Hinweise auf ein Bestehen familiärer Bindungen der Revisionswerberin in Österreich entnehmen und auch in der Revision erfolgt dazu kein substanziiertes Vorbringen (in dieser Hinsicht unterscheidet sich die vorliegende Konstellation daher von den Fällen, die den in der Rn. 8 zitierten Erkenntnissen zugrunde lagen). Allerdings hat das Verwaltungsgericht - wenn auch ohne dazu eigene Feststellungen zu treffen - das Beschwerdevorbringen der Revisionswerberin, wonach sie in Österreich die Matura gemacht habe, zunächst Musik studiert habe und aktuell Medizin studiere sowie sich ihr Lebensmittelpunkt und ihr gesamtes soziales Umfeld seit 14 Jahren in Österreich befänden, wiedergegeben und nicht in Abrede gestellt. Angesichts dieser integrationsbegründenden Umstände vermag der Verwaltungsgerichtshof in Verbindung mit dem langjährigen Inlandsaufenthalt die Auffassung des Verwaltungsgerichtes, dass die im Rahmen des § 21 Abs. 3 Z 2 NAG vorzunehmende Interessenabwägung zulasten der Revisionswerberin auszugehen habe, nicht zu teilen.
11 Zum Verweis des Verwaltungsgerichtes auf das Erkenntnis Ra 2015/22/0158 ist Folgendes anzumerken: Das Verwaltungsgericht hat zwar zu Recht die von der Revisionswerberin ins Treffen geführten Umstände der Unzumutbarkeit der Unterbrechung des Studiums und der damit verbundenen finanziellen Einbußen für sich genommen nicht als Umstände angesehen, auf Grund derer eine Inlandsantragstellung zuzulassen gewesen wäre. Allerdings kommt es darauf im vorliegenden Fall nicht an, weil bereits die oben dargestellten Gründe in einer Gesamtbetrachtung die Zulässigkeit einer Inlandsantragstellung im Sinn des § 21 Abs. 3 Z 2 NAG begründen. Die Auffassung des Verwaltungsgerichtes, der dem Erkenntnis Ra 2015/22/0158 zugrunde liegende Fall sei dem hier vorliegenden "identisch gelagert", vermag der Verwaltungsgerichtshof schon im Hinblick darauf, dass der dort betroffene Drittstaatsangehörige nur über einen ca. einjährigen Inlandsaufenthalt verfügte, nicht zu teilen.
12 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
13 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 22. Februar 2018
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